von Eliane Perret
Cevio? Cavergno? Maggiatal? Val Bavona? Schon gehört? Sicher, denn in den letzten Wochen waren diese Dörfer und Täler im Tessin in unseren Nachrichten präsent, weil sie durch verheerende Unwetter verwüstet wurden. Menschen verloren ihr Leben, andere mussten evakuiert werden. An verschiedenen Stellen kam es zu Erdrutschen, und Strassen waren während Tagen gesperrt. In Cevio wurde die für den Ort wichtige Visletto-Brücke von den Wassermassen fortgerissen. Dank eines Grosseinsatzes unter der Leitung der Armee konnte der Strassenanschluss mit einer 60 Meter langen Notbrücke über die Maggia wiederhergestellt werden. Aber es bleibt noch vieles zu tun, bis der Alltag wieder einkehren kann.
Ein Blick in die Geschichte
Wer diese traurigen Geschehnisse zum Anlass nehmen möchte, Genaueres über die Geschichte dieser wunderschönen Gegend im Süden unseres Landes zu erfahren, kann das Museo di Valmaggia in Cevio zum Ausgangspunkt nehmen. Eine Dauerausstellung bewahrt dort wertvolles historisches Erbe, das Einblick in das Leben der Bevölkerung von einem unserer wichtigsten südlichen Alpentäler gibt. Die Bewohner nutzten damals den Boden für Landwirtschaft und Viehzucht. Doch für viele reichte es nicht aus, um die Familie zu versorgen. Sie zogen als Saisonarbeiter nach Venedig, Padua, nach Flandern oder sogar nach Ungarn. Die grösste Abwanderung fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt, so dass zwischen 1850 und 1920 die Bevölkerungszahl von Cavergno von 450 auf 360 sank. Es lockte das Gold in Australien und Amerika und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Mehrere wichtige und wohlhabende Familien verlegten ihren Wohnsitz im 19. Jahrhundert nach Locarno, blieben dem Tal jedoch verbunden. Zu ihnen gehörte die Familie Balli. Ihre Spuren lassen sich bis ins 15. Jahrhundert zurückverfolgen und führen in verschiedene Orte Europas, wo sie als Architekten, Maurer, Schornsteinfeger, aber auch als Kaufleute tätig waren. Dank des so verdienten Geldes konnten sie ihren im Tessin gebliebenen oder dorthin zurückgekehrten Familienangehörigen ein besseres Leben ermöglichen. Sie konnten sich ausbilden, studieren oder sogar eine Weltreise machen. Der Vater von Emilio Balli, Valentino Alessandro Balli, handelte in Freiburg im Breisgau mit Stoffen und arbeitete bis 1848 für das Handelshaus der Familie in Holland, bevor er nach Locarno zurückkehrte und von seinen Erträgen leben konnte. Von seinen elf Kindern verstarben fast alle in jungem Alter. Emilio war das jüngste der Kinder und kam am 27. April 1855 zur Welt. Er erhielt eine erstklassige Ausbildung am Barnabiten-Kollegium in Monza und studierte Naturwissenschaften an der Universität Löwen in Belgien. Wie Briefen an seine Brüder zu entnehmen ist, interessierte er sich schon früh für Naturwissenschaften, legte Sammlungen von Pflanzen, Muscheln und Steinen an und hatte das Glück, mit Gelehrten zusammenzuarbeiten, die ihn ermutigten, auf diesem Weg fortzufahren. Diesem Emilio Balli ist bis zum 31. Oktober 2024 eine Sonderausstellung im Museo di Valmaggia gewidmet.
Der aufkommende Tourismus
Während Jahrhunderten war der Bewegungsradius der Menschen mehr oder weniger auf das engere Umfeld beschränkt, und es war zuvor für Privatpersonen kaum möglich, weite Reisen zu wagen. In den 1870er Jahren nahm jedoch der Tourismus an Fahrt auf. Neue technische Errungenschaften wie die Dampfmaschine und der Telegraf, aber auch transkontinentale Eisenbahnen, Schiffslinien oder die Eröffnung des Suezkanals (1869) und später des Panamakanals (1914) eröffneten ein weltweites Netz an Reisemöglichkeiten, die zuverlässig verfügbar waren und sogar Weltreisen möglich machten. Zwar hatte bereits zwischen 1519 und 1522 Magellan eine Weltumrundung unternommen, und ihm waren mehrere Seefahrer gefolgt. Es waren Entdeckungsreisen, die von reichen Schirmherren in Auftrag gegeben wurden und militärische, politische oder wissenschaftliche Ziele verfolgten.
Weltumrundungen als neue Möglichkeit
Ein unterstützendes Ereignis für eine neue Entwicklung war das Feuilleton von Jules Verne, das 1872 in «Le Temps» publiziert wurde: «Le Tour du Monde en 80 jours». Hatte man 30 Jahre zuvor noch 100 Tage für eine Weltumrundung gebraucht, so setzte nun der Wettbewerb ein, die Marke von Jules Verne zu unterbieten. Weltausstellungen ermöglichten es auch weniger Waghalsigen, die ganze Welt an einem einzigen Tag zu «bereisen». Es lag also im Trend der Zeit, dass sich Emilio Balli, erst 23 Jahre alt, auf eine Werbeanzeige im «Journal de Genève» meldete, in der die Sociéte d’Etudes Autour du Monde (Sweam) Weltumrundungen anbot. Das Angebot richtete sich an junge Männer aus gutem Hause, welche ihre klassische Ausbildung abgeschlossen hatten. Auf dem Schiff standen zwei Lehrer zur Verfügung, eine Vortragsreihe und eine reichhaltige Bibliothek wurden angeboten. Diese Reise schien Emilio Balli eine ausgezeichnete Möglichkeit, seine Leidenschaften in der Praxis zu erproben. Der Tessiner aus dem Maggiatal gehörte also zu den wenigen hundert Europäern, die in jenen Jahren das Glück hatten, eine solche Weltumrundung zu unternehmen. Geplant waren 320 Tage, ausgehend von Marseille, und die Kosten lagen je nach Wahl der Kabine zwischen 15 000 und 20 000 Franken. Das war viel Geld, lag doch beispielsweise der Jahreslohn eines Bergarbeiters damals bei 1400 Franken. Emilio Balli hatte beides, einen wohlhabenden familiären Hintergrund und einen Bildungshintergrund mit einem Studium, das ihn für diese Reise prädestinierte. Seine Weltumsegelung dauerte letztlich 472 Tage und verlief nicht ohne unerwartete Ereignisse. Sie begann am 2. August 1878 in Marseille, als 20 Touristen und eine 75köpfige Besatzung an Bord des kleinen Überseedampfers «Junon» gingen.
Weiter auf eigene Faust
Von Marseille führte die Reise über Gibraltar und Madeira zu den Kapverden, Rio de Janeiro und Buenos Aires. Dann erreichte das Schiff mit der Magellanstrasse den südlichsten Punkt der Reise, um schliesslich am 14. November 1878 in den Hafen von Panama einzulaufen. Hier erreichte die Passagiere die bereits geahnte Nachricht, dass die Sweam die finanziellen Mittel für die Miete des Schiffes nicht mehr weiter aufbringen konnte. Die Reise fortsetzen oder auf kürzestem Wege nach Hause zurückkehren? Emilio Balli entschloss sich, auf eigene Faust weiterzureisen. In einem Brief an seine Brüder schrieb er: «Ob gut oder schlecht, zu Fuss, schwimmend, mit Kutsche oder mit dem Schlauchboot, diese ulkige Welt werde ich auf jeden Fall umrunden.» Emilio Balli ging das Risiko ein und setzte seine Reise gemeinsam mit dem Genfer Alfred Bertrand fort. Sie fuhren an die Niagarafälle (s. Abbildung) und durchreisten die USA. In San Francisco traf er Tessiner Landsleute, deren Wertschätzung ihn überraschte und berührte.
Japan und China
Von San Francisco aus startete er die fast einen Monat dauernde Überfahrt nach Yokohama in Japan, einermder fünf japanischen Häfen, deren Öffnung für amerikanische Handelsschiffe erzwungen worden war. Emilio Balli blieb zwei Monate in diesem Land. Es faszinierte ihn dessen Kultur, wie Ende des 19. Jahrhunderts auch die Impressionisten, die sich von den meisterhaften japanischen Holzschnitten inspirieren liessen. Auch die Lackkunstwerke und das Porzellan fanden seine Aufmerksamkeit, und er schickte Kisten voller Souvenirs, Fotos und Sammlermünzen in seine Heimat.
Seine Reise führte ihn weiter nach China, das in jener Zeit nur schwer zugänglich war. China galt damals im Westen als ein vom Untergang bedrohtes Land. Es war in den Opiumkriegen von den USA, dem Vereinten Königreich und Frankreich besiegt worden, und deren Truppen hatten den Sommerpalast des Kaisers zerstört, verwüstet und geplündert. Auch wenn das Emilio Balli kritisch stimmte, übernahm er doch die westlichen Vorurteile gegenüber dem grossen Reich und seinen Menschen. Sein Interesse galt wiederum mehr der kunsthandwerklichen Tradition, und viele Emailarbeiten und Gegenstände aus Porzellan fanden Eingang in seine Sammlung. Nach seinem zwei Monate dauernden Aufenthalt in China kehrte Emilio Balli nach 472 Tagen über Singapur, Indien und Ägypten nach Marseille zurück.
Engagement für
Landwirtschaft und Kultur
Nach seiner Rückkehr in die Heimat blieb der junge, innovative Emilio Balli nicht untätig. Zwar hatte er sich in Indien Malaria zugezogen und war geschwächt, aber er liess sich nicht beirren. Dank seiner naturwissenschaftlichen Kenntnisse wurde er zu einer wichtigen landwirtschaftlichen Fachperson und engagierte sich in verschiedenen Kommissionen und Genossenschaften. Zudem machte er seinen grossen landwirtschaftlichen Besitz in Selva zu einem Modellhof mit Weingarten, einem grossen Pfirsichhain und Spargelanbau sowie einem Vieh- und Hühnerstall. Seine kulturellen Interessen richteten sich vor allem auf die Naturgeschichte, die Numismatik und die Archäologie. Nun unterstützte er die ersten archäologischen Ausgrabungen in Tenero, wodurch über hundert Grabstätten aus den ersten Jahrhunderten n. Chr. zutage kamen.
Er hatte eine grosse Sammlung von Muscheln, die er an Meeresufern gesucht oder auf dem Markt getauscht oder gekauft hatte. Ebenso hatte er ein Herbarium mit Pflanzen und eine Sammlung von Steinen und Mineralien angelegt, das er nun erweiterte. Erinnerungsstücke aus den bereisten Ländern kamen hinzu. Dazu gehörten viele Fotos, die damals von Studios speziell für Touristen erstellt und zum Kauf angeboten wurden. Sie gehörten zum Fundus, den Emilio mitgebracht oder dem unsicheren Geschick der damaligen Post übergeben hatte und mit dem Schiff nach Hause transportieren liess (wobei leider ein Teil verlorenging).
Sein Traum von einem Museum
Ein grosses Anliegen, das ihn Zeit seines Lebens beschäftigte, war die Planung eines Stadtmuseums in Locarno. Eine dafür gegründete Museumsgesellschaft nahm sich dessen an, so dass es schliesslich am 13. Mai 1900 in drei Räumen der Gemeindeschule «Alla Motta» eröffnet werden konnte. Balli war über drei Jahrzehnte die Seele des Museums, er stand ihm als Direktor vor und unterstützte das Anliegen als Aktionär und Sammler. Aus seiner Sammlung stellte über er 1000 Ausstellungsobjekte zur Verfügung. Es fanden sich weitere Sammler, die sich ihm anschlossen, so dass ein vielfältiges naturhistorisches Museum entstand. – In den Jahren der Nachkriegszeit erlebte das Museum schwierige Zeiten. Der mehrfache Wechsel der Museumsräumlichkeiten, desinteressierte Politiker und ein immer kleiner werdender Museumsverein liessen den Glanz des Museums verblassen. Emilio Balli blieb dabei, und bis zu seinem Tod im Jahr 1934 setzte er seine ganze Kraft für den weiteren Aufbau des Museums ein.
Ein neu zu entdeckender Schatz
Ende 2018 wurde das Museo di Valmaggia vom Urenkel Alessandro Botteri Balli über ein ebenso umfangreiches wie wertvolles, praktisch unveröffentlichtes Archiv der Familie Balli in Kenntnis gesetzt. Natürlich war das Interesse des Museums in Cevio gross, auch wenn es klar war, dass es damit die bedeutsame und anspruchsvolle Aufgabe übernahm, der Öffentlichkeit in einer aussergewöhnlichen Ausstellung – erstmals nach über 140 Jahren – eine reiche Auswahl an Dokumenten und Objekten zugänglich zu machen. Das sorgfältig geführte Reisetagebuch, das Emilio Balli Etappe für Etappe erstellt hatte, die zahlreichen Briefe an seine Brüder, die vielen Fotos und die Sammlungen von Muscheln, Kräutern, Blumen, Tieren und Kuriositäten sind wertvolle Zeugnisse und Dokumente, die nun in Cevio neu zu entdecken sind. Die Besucher können dabei erleben, welch grosses Abenteuer eine Weltreise damals war.
Ein Besuch im Museum –
eine Welt für Kinder?
Die Ausstellung ist auch für Kinder und Jugendliche spannend und gibt ihnen Einblick in die Herausforderungen, vor denen Menschen früher standen und wie sie diese meisterten! Allerdings erfordert es von den begleitenden Erwachsenen, dass auch sie sich dafür interessieren und wenn nötig kundig machen, denn jeder der ausgestellten Gegenstände und jeder Brief erzählt eine Geschichte. Sie können den Kindern und Jugendlichen damit den Blick für andere Kulturen mit anderen Sitten, Bräuchen, Lebensformen und wunderschönen kunsthandwerklichen Erzeugnissen öffnen. Früher waren Entdeckungsreisen oft von einer westlichen Überheblichkeit geprägt. Hier ergibt sich eine Möglichkeit, den Respekt und das Verständnis anderer Lebensräume und ein menschliches Zusammenleben in Frieden zu fördern.
Ergänzend zur Ausstellung wurde das Buch «In 472 Tagen um die Welt. Reiseerinnerungen eines Schweizer Globetrotters 1878–79» herausgegeben. Es beleuchtet in kenntnisreichen, gut lesbaren Beiträgen und mit vielen Fotografien und Karten (in denen die Reiseroute festgehalten ist) das geschichtliche, geografische und politische Umfeld, in dem die Weltumrundung von Emilio Balli stattfand. Es gibt einen fundierten Einblick in die Kultur der bereisten Länder, speziell von Japan und China, und ist in Deutsch, Französisch und Italienisch erhältlich. Auch bietet die Publikation eine Möglichkeit, Kindern und Jugendlichen zu zeigen, wie man sich neues Wissen aneignen kann und was Bücher dazu beitragen können. •
Quellen:
Botteri Balli, Alessandro; Pieroni, Raphaël; Staszak, Jean-François (Hrsg). In 472 Tagen um die Welt. Reiseerinnerungen eines Schweizer Globetrotters 1878–79. Locarno: Armando Dadò Editore, 2024; erhältlich im Museo di Valmaggia oder über den Buchhandel (ISBN 978-88-8281-696-4)
Publikationen zur Ausstellung des Museums
Informationen zur Ausstellung:
«Il Giro del Mondo di Emilio Balli 1878–1879»
Museo di Valmaggia, Cevio vecchio 6/12, CH-6675 Cevio; noch bis zum 31. Oktober 2024; www.museovalmaggia.ch
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