In was für einer Welt wollen wir leben?

von Petra Erler und Günter Verheugen

Während der Westen den Kampf zwischen Demokratie und Autokratie zur entscheidenden Schlacht unserer Zeit stilisiert, geht das Augenmerk auf die alles entscheidende Frage verloren: Wird die Menschheit das Ende des 21. Jahrhunderts gemeinsam erreichen und wenn ja, in welchem Zustand und in welcher geistigen Verfassung? Das ist die alles überwölbende politisch-moralische Frage. Wird es uns noch als Zivilisation geben, so wie wir sie heute kennen, mit allen ihren Gebrechen, aber auch allen Hoffnungen?
  Wird sich eine gut geschützte Insel der Seligen und Reichen verfestigen, die nicht mehr wissen, welchem Laster sie noch frönen sollen, weil selbst alles Geld der Welt nicht den Hunger nach noch mehr Macht, noch mehr Exklusivität und nach immer neuen Genüssen beseitigt? Der Film La Dolce Vita beschäftigte sich im vergangenen Jahrhundert mit diesem Thema, wenn auch, rückblickend betrachtet, auf sehr brave Weise. Und wie wird der «Rest» leben? Oxfam dokumentiert jährlich, wie sich die soziale Lage auf der Welt entwickelt, und der amerikanische Demokrat Bernie Sanders fasste das in einem aufrüttelnden Vorwort zu dem Bericht so zusammen: Wir marschieren mit schnellem Schritt auf eine globale Oligarchie zu. Noch niemals besassen so wenige so viel und auch so viel politische Macht. In den USA besitzen inzwischen ganze drei Personen so viel wie 50 Prozent der Bevölkerung, 60 Prozent schlagen sich von Monat zu Monat gerade so durch. Nach wie vor gilt, dass rund 80 Prozent der Menschheit sehr viel ärmer sind als die 20 Prozent im reichen Norden. Das alles ist nicht einem natürlichen, spontanen Wirken von marktwirtschaftlichen Gesetzen oder unterschiedlichen politischen Strukturen zuzuschreiben. Das sind die Ergebnisse einer Politik, die auf Dominanz setzt, auf Krieg, auf Zwietracht und Hass nach innen und aussen und die, wie nebenbei, die Minderheitenrechte zuallererst als Schutzrechte der kleinsten Minderheit ausgestaltete, die es nur geben kann: zugunsten der wenigen Superreichen, zugunsten der Finanzwirtschaft und weniger ökonomischer Giganten im Unternehmensbereich.
  Es gibt keine westliche Politik für die «vielen», nirgendwo, auch wenn es selbstverständlich immer noch sehr vielen Menschen in westlichen Staaten sehr viel besser geht als den allermeisten im globalen Süden. Aber was versteht man unter «gutgehen», wenn man auch andere Kriterien wie Stress, psychologische Probleme oder Einsamkeit dazuzählt? Was heisst «gutgehen», wenn die eigene Beschäftigung prekär ist oder alles Zurschaustellen in Sozialen Medien nicht die eigene Leere füllt? Was bedeutet «gutgehen», wenn in Zeiten der Krise, etwa der Pandemie, nicht nur sehr viel Menschlichkeit aufscheint, sondern auch sehr viel Menschenverachtung und mangelnde Ethik sich Bahn brechen? Wo kam letzteres her?
  Für die Neuordnung der Staatenbeziehungen müssen wir eine Zukunftsvorstellung haben, die sich auf Geschichte gründet und nicht auf Geschichten und verzerrte Wahrnehmungen.
  In Afrika beispielsweise ist nichts vergessen. Opfer haben ein sehr viel besseres Gedächtnis als Täter. Wir sind uns nicht einmal völlig bewusst, wie tief die Wunden der Vergangenheit dort reichen, oder dass während der Pandemie den alten Wunden neue hinzugefügt wurden. So erinnert sich Afrika, wer keine Impfstoffe lieferte, wer keine Patente freigab und welche verheerenden Folgen die Politik der Lockdowns und Flugverbote für den grossen Kontinent hatten. Viele Menschen, die kaum der Armut entkommen waren, wurden wieder dahin zurückgeworfen.
  Uns ist nicht klar, welche riesigen Anstrengungen China und Indien zur Bewältigung der globalen Armutsreduktion leisten, indem sie die Lebensbedingungen von Hunderten von Millionen drastisch verbesserten. Zudem, es ist ein Unterschied, ob man, wie in Deutschland, etwas über 83 Millionen Menschen regiert, auf einem relativ überschaubaren Territorium, mit einer relativ überschaubaren Geschichte, oder beispielsweise ein so altes und grosses Reich wie China zusammenhalten muss, mit 1,4 Milliarden Einwohnern, was eine ganz andere Qualität der Ansprüche an den nationalen und sozialen Zusammenhalt impliziert.
  China bietet international anderen Staaten praktische Lösungen an. Es kommt nicht belehrend oder mit dem Drang daher, nun alles umkrempeln zu wollen. Davon könnte man lernen, aber wir sehen nur einen Griff nach der Macht des Alles-Bestimmers.
  Aber irgendwie werden wir uns in die entstehende Welt einfügen müssen, die nicht mehr westlich dominiert sein wird.
  Weltweit sind die BRICS ökonomisch auf dem Vormarsch. Inzwischen bringen sie 29 Prozent des weltweiten Wohlstands auf die Waage, während auf die G7 42 Prozent entfallen, wenn man in Dollar misst. Hinsichtlich des Kaufkraftstandards dagegen haben sie die G7 inzwischen hinter sich gelassen (32,1 zu 29 Prozent). Pro Kopf der Bevölkerung dagegen ist eindeutig, dass zwischen den G7 und den BRICS weiter eine grosse Lücke klafft. Der Wohlstand ist klar bei den Einwohnern in den G-7-Staaten konzentriert. Ob und wie die BRICS aufholen könnten, hängt von vielen Faktoren ab. Nachholende Entwicklung ist ungemein schwer. Bisher gibt es nicht viele Beispiele, dass sich Staaten erfolgreich nach vorne katapultierten. Aber Wissenschaft, Forschung und Innovationsfähigkeit dürften auch in Zukunft bedeutend dafür sein. Hier haben die BRICS Stärken und Schwächen. Ihre Stärke besteht zunächst in ihrer Bevölkerungsgrösse. Gelingt es ihnen, flächendeckend gute Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten zu gewährleisten und bei sich nutzbar zu machen, dann verfügen sie proportional über mehr Talente. China, aber auch Russland scheinen entschlossen, diesen Weg zu gehen. In der Pisa-Bewertung verbesserte sich Russland stetig (im Ranking 2022 war es anscheinend nicht dabei). China, das mit sehr beachtlichen naturwissenschaftlichen Leistungen glänzt, hat seit 2018 weiter zugelegt. Das ist um so beeindruckender, weil sich in diesem Zeitraum viele Ergebnisse in vielen Ländern deutlich verschlechterten.
  Wichtig dürfte auch sein, wie sich die Vorstellungen von einer erfolgreichen modernen Gesellschaft weiterentwickeln. Die Unterschätzung industrieller Leistungsfähigkeit, die über Jahrzehnte vorherrschte, liess Deutschland mit seinem hohen Anteil an industrieller Produktion wie einen Dinosaurier wirken. Dabei ist die Realwirtschaft so etwas wie das Salz der Erde. Dort wird produziert, was Menschen wirklich brauchen und, gemessen an modernen Ansprüchen, auch weltweit haben sollten: angefangen bei hochqualitativen, umweltfreundlich produzierten Nahrungsmitteln bis hin zu modernsten Gesundheits- und Bildungssystemen. Es ist eine höchst ungesunde Entwicklung, dass wir eine aufgeblähte, von jeder materiellen Grundlage gelöste Finanzwirtschaft haben, die mit allem spekuliert, was ihr in die Finger kommt, und für sich selbst immer neue Vehikel erfindet, um noch mehr Profite zu machen. Der ist es gleichgültig, wer einen Krieg gewinnt, solange sie nur rechtzeitig weiss, wohin der Hase läuft, um für oder gegen ein Land zu wetten. Sie ist zum weltweiten Krisenproduzenten geworden, und die Auswirkungen des Jahres 2008 hängen wie Mühlsteine in Gestalt hoher Schuldenberge an den Hälsen so vieler Länder. Es wäre höchste Zeit, sich grundsätzliche Fragen zu stellen, für wie ethisch und zukunftsfest wir es halten, dass mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln spekuliert wird oder Kriege die Aktien von Rüstungsunternehmen treiben. Solche Fragen liegen nicht erst seit gestern auf dem Tisch. Was tun wir mit der aktuellen Erkenntnis, dass wir politisch mit Verve in einen Stellvertreterkrieg marschierten, für den uns jedoch die materielle Basis fehlt? Der Aufbau einer Rüstungswirtschaft kann nicht die Antwort sein, wenn wir gleichzeitig wissen, dass deren Produkte nur in der Zerstörung von Mensch, Tier und Umwelt münden. Kriegerische Konflikte und der notwendige ökologische und klimapolitische Schutz allen Lebens stehen sich diametral entgegen.
  […]
  Nach Jahrhunderten europäisch-amerikanischer Dominanz sind wir beim heutigen Zustand der Welt angekommen. Er ist, gemessen an den globalen Herausforderungen und dem friedenspolitischen Auftrag der universellen Menschenrechte, in keiner Weise gut. Die Hoffnung der «Vielen» lautet, die Verantwortung auf breitere Schultern zu verteilen und es besser zu machen. Wir sollten diese Hoffnung teilen, um die sich wandelnden Zeiten mitzugestalten, als Gleiche unter Gleichen. So wie es ist, darf es nicht bleiben.  •

Quelle: Verheugen, Günter/Erler, Petra.
Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen – Eskalation statt Entspannung,
Heyne-Verlag 2024, S. 267ff.; ISBN 978-3-453-21883-3;
auf die Fussnoten im Buch wurde an dieser Stelle verzichtet;
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages

km. Der hier abgedruckte Text ist ein Auszug aus dem Mitte Mai 2024 erschienenen Buch von Petra Erler und Günter Verheugen, «Der lange Weg zum Krieg. Russland, die Ukraine und der Westen: Eskalation statt Entspannung». Dieses Buch hat mindestens drei Besonderheiten.
  Es ist bei einem Verlag erschienen, der dem deutschsprachigen «Mainstream» zuzurechnen ist. Überraschend ist, dass der Inhalt gar nicht diesem «Mainstream» folgt. Im Gegenteil, der Inhalt des Buches hebt sich wohltuend von dem ab, was sonst so und auch nicht erst seit dem 24. Februar 2022 veröffentlicht wird: Danach stehen die USA, die EU und die Nato auf der Seite der «Guten» – und Russland und sein Präsident sind schärfstens zu kritisieren
 … nahezu wie gleichgeschaltet.
  Der Titel des Buches, «Der lange Weg zum Krieg», ist die Kernaussage: Sucht man nach den Ursachen des Krieges in der Ukraine, so darf man nicht erst am 24. Februar 2022 und auch nicht erst im Frühjahr 2014 beginnen. Petra Erler und Günter Verheugen zeichnen sehr genau und immer auch belegt das «Versagen» der Regierungen des Westens (vor allem der USA und der EU-Staaten) in den vergangenen 35 Jahren nach. Diese Regierungen haben die grosse Friedens-Chance, die es Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts gab, sabotiert. So wurde verhindert, eine europäische Sicherheitsordnung auf der Grundlage des 1975 mit der Schlussakte von Helsinki und der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) Erreichten zu schaffen. Nach anfänglichen Schalmeientönen gab sich der Westen rigoros als Sieger im Kalten Krieg und war nicht bereit, gleichberechtigte Beziehungen zum postsowjetischen Russland zuzulassen. Und je mehr die russische Politik, vor allem dann unter dem Präsidenten Wladimir Putin, diese Gleichberechtigung anmahnte und auch entsprechend handelte, desto aggressiver reagierten die Regierungen aus Nato- und EU-Ländern. Desto perfider wurden und werden die Pläne, Russland strategisch so zu schwächen, dass es als Akteur der Weltpolitik ausgeschaltet wird. Ja, auch die Darlegungen von Petra Erler und Günter Verheugen lassen die Formulierung zu, der Westen habe den Krieg in der Ukraine bewusst provoziert. Beide Autoren sprechen vom «Stellvertreterkrieg». Besonders tragisch dabei: Die Regierungen der EU-Staaten folgen den Vorgaben aus Washington wie unfreie Vasallen – obwohl gerade Europa und vor allem Deutschland, nicht zuletzt wegen seiner Geschichte, an erster Stelle die Pflicht zum Frieden haben und sich deshalb von der US-Politik emanzipieren müssten.
  Aber das Buch geht über das Kriegsgeschehen und seine Ursachen hinaus. Die Autoren formulieren auch politische Schlussfolgerungen und ordnen den Ukraine-Krieg in die Weltpolitik und den weltpolitischen Wandel ein: weg von einer unipolaren hin zu einer multipolaren Welt. Nicht als Automatismus, sondern als weltpolitische Herausforderung und Aufgabe für alle Staaten. Es gilt, weitere Opfer zu vermeiden und Grundlagen für ein gleichberechtigtes und friedliches Miteinander zu schaffen. Zu tun gibt es genug! Sie bleiben also nicht bei der Diagnose stehen, sondern legen noch einmal ausführlich dar, warum eine weitere Eskalation im Krieg eine mörderische Sackgasse ist und warum es – hier beziehen sich die Autoren mit Blick auf Deutschland auf die Politik Willy Brandts, Helmut Kohls und Gerhard Schröders – keine sinnvolle Alternative zu einer erneuten Entspannungspolitik gibt. Die heutige deutsche Politik, die sich – insbesondere auch eine Tragödie für die heute regierende SPD – ganz von dieser Politik entfernt hat, wird speziell einer kritischen Analyse unterzogen.
  Im gesamten Buch argumentieren Petra Erler und Günter Verheugen stets sachlich, sie belegen ihre Behauptungen und unterlassen jede Polemik. Sie zeigen aber auch, wo ihr Herz schlägt: auf der Seite des Friedens.
  Die zweite Besonderheit sind die prominenten Autoren. Petra Erler, Jahrgang 1958, wurde in der DDR geboren, studierte und promovierte dort am Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staat und Recht in Potsdam, gehörte zur friedlichen Opposition und war nach der Volkskammerwahl im Frühjahr 1990 zunächst (parteilose) Beraterin und Mitglied des Planungsstabes von Aussenminister Markus Meckel (SDP: Sozialdemokratische Partei der DDR), dann Staatssekretärin im Amt des Ministerpräsidenten Lotharde Maizière (CDU). Nach dem 3. Oktober 1990 arbeitete sie ab 1991 als Referatsleiterin für EG-Politik bei der Vertretung des Landes Brandenburg in Bonn. 1999 wurde sie Mitglied des engsten Mitarbeiterkreises von Günter Verheugen, der damals EU-Kommissar war. Zwischen 2006 und 2010 war sie dessen «Kabinettschefin».
  Günter Verheugen, Jahrgang 1944, war zuerst Politiker der deutschen FDP, verliess diese Partei aber mit deren Schwenk im Jahr 1982: weg von der Regierungskoalition mit der SPD und hin zu einer mit CDU und CSU. Verheugen wurde Mitglied der SPD. Von 1983 bis 1998 war er Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages, mit dem Regierungswechsel im Herbst 1998 wurde er Staatsminister im deutschen Auswärtigen Amt (bis September 1999). 1999 bis 2010 war er EU-Kommissar, von 2004 bis 2010 Vizepräsident der Kommission. Ich kann mich noch gut an seinen Kommentar zum Staatsstreich in der Ukraine im Februar 2014 erinnern. Er war damals der einzige namhafte deutsche Politiker, der offen kritisierte, in der deutschen Politik gehe es nicht mehr mit rechten Dingen zu. Wie sei es nur möglich, dass der amtierende deutsche Aussenminister Steinmeier ein Abkommen mit dem amtierenden Präsidenten Janukowitsch über einen friedlichen Wechsel im Land mit ausgearbeitet und auch unterzeichnet habe – derselbe deutsche Aussenminister aber nur zwei Tage später eine Putsch-Regierung anerkenne?
  Die dritte Besonderheit: Obwohl das Buch von Petra Erler und Günter Verheugen gar nicht zum deutschen «Mainstream» passt, befindet es sich seit acht Wochen auf der Sachbuch-Bestseller-Liste des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Offensichtlich gibt es ein breites Interesse daran, auch im deutschsprachigen Raum, endlich einmal etwas anderes zu lesen, zu hören und zu sehen als die alltägliche antirussische Propaganda: Denn diese entbehrt jeder Sachlichkeit und arbeitet fast nur noch mit Halbwahrheiten, Polemik und Hetze. Es ist ein gutes Zeichen, dass immer mehr Menschen der Propaganda überdrüssig werden und nach solider, vertrauenswürdiger Information suchen. Das macht Hoffnung. Frieden entspricht dem Menschen, nicht der Krieg.

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