von Peter Küpfer
Paul Kagame sitzt seit dreissig Jahren als Alleinherrscher an der Spitze des einst völlig unbekannten und äusserst bedürftigen zentralafrikanischen Kleinstaates Ruanda. Am 15. Juli 2024 liess er sich mit grossem Pomp für eine weitere Amtszeit von vier Jahren bestätigen. Auch diesmal sollen die Ja-Stimmen bei über 98 % der Stimmabgaben gelegen haben, wie die offizielle Wahlkommission unter der Präsidentschaft von Frau Oda Gasinzirwa bestätigte. Die Präsidentin dieser «Aufsichtsbehörde» gehört zum engsten Kreis der allmächtigen Partei Kagames, des «Front Populaire Rwandais (FPR, engl. RPF)». Mit seiner Hilfe (die Guerilla-Organisation stand schon damals unter dem militärischen und politischen Kommando Kagames) hatte sich die Tutsi-Minderheit, einst die führende Schicht in der ruandischen Monarchie (bis 1962), nach einem blutigen Interventionskrieg 1994 in Kigali mit der Waffe in der Hand wieder an die Macht gebracht. Seit diesem Zeitpunkt behauptet sie ihre Vorherrschaft in Ruanda mit einem eisernen System von Unterdrückungsmechanismen gegen jede Form wirklicher Demokratie.
Das sich regelmässig wiederholende Ritual der Wiederwahl des Staatspräsidenten ist nach Ansicht der demokratischen Opposition eine Farce: «Es hat sich auch diesmal erwiesen: Die jüngsten Wahlen verliefen nicht nach demokratischen Regeln, es handelte sich vielmehr um eine Scheinwahl, bei der alles so orchestriert war, dass das bestehende Regime erhalten bleibt. Seit dreissig Jahren übt der FPR eine autoritäre Kontrolle aus, erstickt die demokratischen Freiheitsrechte und unterdrückt jede Opposition.»1 Dabei stützt sich die nicht demokratisch legitimierte Regierung Kagame auf seit den Anfängen in Anspruch genommene Notrechte. Sie beruhen auf der bei jeder Gelegenheit in die Köpfe gehämmerten offiziellen Version Ruandas, nur die Tutsi seien damals 1994 Opfer eines Genozids durch extremistische Gruppen der Hutu-Mehrheit geworden und müssten sich deshalb auch heute noch mit aller Kraft gegen deren immer noch bestehende völkermörderische Rachelust schützen. Sie denunzieren seither jede Kritik an Ruandas Verhalten als Manifestation einer angeblich immer noch in weiten Teilen der Hutu herrschenden «völkermörderischen» Gesinnung («les génocidaires», die Völkermörder), vor allem unter den 1994 in den Ostkongo geflüchteten. Gegen diese unzulässig verdrehte Sicht gibt es eine ganze Anzahl ernsthafter Untersuchungen, darunter zahlreiche der Uno, welche die wahren Verhältnisse ganz anders beurteilen. Drei der angesehensten Spezialisten in dieser Frage, der Franzose Pierre Péan, der in Kanada lebende afrikanische Politologe Charles Onana und der ebenfalls nach Kanada exilierte kongolesische Historiker Patrick Mbeko2 vertreten, gestützt auf Fakten, dass nicht nur Tutsi Opfer der ruandischen Exzesse waren, sondern auch Angehörige der anderen ruandischen Volksgruppen, der Hutu und der Twa, und dies mit sogar noch grösserer Opferzahl. Die meisten von ihnen fielen der FPR-Invasionsarmee in den Kriegsjahren 1990–1994 in ethnischen Säuberungsaktionen in den rückeroberten ruandischen Territorien unter dem Kommando des damals jungen Kagame zum Opfer, andere der systematischen Bombardierung der immensen Flüchtlingslager durch die Alliance des Forces Démocratiques pour la Libération du Congo (AFDL) unter Kabila im November 1996. Nach Auffassung der ruandischen oppositionellen Kreise ist die von Kagame immer noch ins Feld geführte Bedrohungslage durch extremistische Hutu-Kreise inexistent. Die vermeintliche Bedrohung werde aufrechterhalten, um von der eigenen Unterstützung von Guerillagruppen (z.B. der M23) abzulenken. Davon ist im offiziellen Westen, der Kagame als Schützling der USA auf Händen trägt, allerdings kaum die Rede.
Auch diesmal wurde die aussichtsreichste Gegenkandidatin, die unerschrockene Haupt-exponentin der Opposition, Frau Victoire Ingabire, nach ermüdenden Schikanen von der Wahlkommission zur Wahl nicht zugelassen. In an klassische Diktaturen erinnernden Pseudo-Wahlveranstaltungen liess sich Kagame von der eingeschüchterten Bevölkerung einmal mehr als Retter Ruandas feiern. Wie regimekritische autonome Medien (im Ausland) melden, hat Kagame noch am Vortag vor der Wahl an einer solchen Veranstaltung Frau Ingabire persönlich beschimpft und ihr wörtlich gedroht, wenn sie weiter die Absicht hege, sich als Präsidentin Ruandas wählen zu lassen, werde sie «ein böses Ende nehmen» («elle finira mal»)3. Wenn man bedenkt, wie viele mutige Regimekritiker innerhalb und ausserhalb Ruandas ihr Eintreten für demokratische Zustände in diesem Land mit ihrem Leben bezahlt haben (Frau Ingabire war zeitweise ebenfalls in Haft genommen), ist die offene Morddrohung aus dem Mund dieses Staatspräsidenten bezeichnend, allerdings auf höchst alarmierende Weise.
Ruandas «Wirtschaftswunder»
beruht auf illegalen Kriegen
In der westlichen Welt tut diese extreme Form des Autoritarismus der Tatsache keinen Abbruch, dass Ruanda nach dreissig Jahren eiserner De-facto-Diktatur als afrikanischer Musterknabe nach kapitalistischer Richtschnur gefeiert wird. Besucher loben die Sauberkeit seiner Hauptstadt Kigali (sie dürfen im Land aber nicht frei reisen, wo sie überall herrschendes Elend erkennen könnten), bewundern sein Wirtschaftswunder (es beruht vor allem auf dem Export so begehrter Wertstoffe wie Diamanten, Gold, dazu in grossen Mengen auch das weltweit seltene Koltan und Lithium, ohne die kein Handy, aber auch keine Batterie in einem E-Auto funktionieren kann). Die professionellen Lobhudler stecken dabei einfach weg, dass das ehemals mausarme Hügelland (nur mit etwas Tee- und Kaffee-Export) selbst über kein einziges Vorkommen dieser Rohstoffe verfügt. Diese begehrten Ressourcen werden in einem klassischen Stellvertreter-Krieg von (in unseren Medien so genannten) «Rebellengruppen» seit mehr als 30 Jahren im benachbarten Ostkongo geraubt. Ein grosser Teil von ihnen, darunter die für ihre Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung berüchtigte Formation «M23» (Mouvement du 23 mars) besteht hauptsächlich aus ruandischen Militärs und Söldnern. Das ist der wahre Sinn des dortigen endlosen Krieges, der schon seit 30 Jahren der gemarterten ostkongolesischen Zivilbevölkerung das bringt, was die Palästinenser heute täglich erleben. Mit dem Unterschied, dass unsere stramm ausgerichteten Medien davon nichts wissen wollen, auch wenig wissen und deshalb in der Regel kaum darüber berichten. Die wirklichen Ursachen dafür sind in dieser Zeitung schon mehrmals genannt worden.4 Nach Zahlen aus verlässlichen Quellen hat dieser neue dreissigjährige Krieg schon mindestens acht Millionen Tote gefordert, ein grosser Teil davon Zivilisten. An die zwei Millionen Vertriebene versuchen als afrikanische Binnenflüchtlinge zu überleben.
In vorderster Reihe der
Regime-Anerkenner: Macron
Aber die meisten westlichen Medien und die von ihnen beeinflussten Politiker befinden sich stramm auf der «richtigen Seite», derjenigen von Kagame. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat die offizielle Version der Geschichte des Regimes schon vor drei Jahren öffentlich anerkannt und die Mitschuld Frankreichs an den Massakern von 1994 bestätigt und bedauert. Diese angebliche Mitschuld wird vor allem dem damaligen Präsidenten Frankreichs, François Mitterrand (PS) in die Schuhe geschoben, der gute Beziehungen zum Ausgleichs-Präsidenten Juvénal Habyarimana unterhalten hatte und 1994 dafür sorgte, dass ein grosser Teil der ruandischen Bevölkerung im Sommer 1994 durch einen Fluchtkorridor in benachbarte Staaten (vor allem DR-Kongo) fliehen konnte. Dass dies eine Mitschuld an den Massakern gegen die Tutsi gewesen sein soll, wird in Frankreich von einer ganzen Reihe von Historikern, Juristen und Politologen mit guten Gründen bestritten. Aus Gründen, die wohl nur Macron selbst kennt, hält der französische Präsident aber seit seinem Besuch in Kigali 2021 am öffentlichen Lob Kagames als afrikanischen Musterschüler des westlichen Weges fest. An einer kürzlich stattgefundenen internationalen Konferenz in Paris, mitten im Olympia-Taumel und vor 50 Staatsoberhäuptern, hat Macron über seinen ruandischen Freund folgende Worte gefunden: «Präsident Kagame hat moderne Infrastrukturen entwickelt. Er ist ein Mann, der lieber handelt als grosse Worte verliert, und der dabei Resultate erzielt. [...] Der Präsident Ruandas ist zum Inbegriff eines visionären und charismatischen Führers geworden, und das zeigt sich in seinem pragmatischen Handeln und seinen greifbaren Resultaten. Er hat dabei ein herausragendes Geschick gezeigt, ein neues Ruanda zu schaffen, indem er eine konkrete Politik verfolgt hat, die in verschiedenen Bereichen zu bedeutenden Verbesserungen geführt hat.»5
Die Wirklichkeit sieht anders aus
Das sieht die Opposition, von der die meisten das Land verlassen mussten (besonders mutige Exponenten haben das mit ihrer oft sadistischen Ermordung durch den ruandischen Geheimdienst bezahlt), ganz anders. Der aufmerksame ruandische Beobachter der Ereignisse und deren Kommentator, Emmanuel Neretse, hält Macrons blauäugiger Version die folgenden Umstände entgegen:
«[…] Paul Kagame ist ein zu allem entschlossener Diktator mit finsteren Ansichten, der ohne die geringste Achtung oder auch nur Respekt gegenüber dem Volk agiert, das er, 1994 aus Uganda kommend, seither regiert. […] Im Ruanda Kagames ist die politische Opposition verboten, es wird jede von den Ansichten des Diktators und seiner Staatspartei FPR abweichende Stimme erstickt. Dies mittels Mord, Einkerkerung, erzwungener Ausweisung oder vom Diktator selbst öffentlich angekündigter Morddrohung […]. Ruanda ist eine De-facto-Einmann-Herrschaft sowie ein Polizeistaat.» In einem weiteren Punkt kommt der Autor auf die wahre Natur des Kagame-Regimes zu sprechen. Es ist für ihn die Apartheid, die in Ruanda durch folgende Zustände charakterisiert ist: «In diesem Land verfügen 10 % seiner Bevölkerung über den ganzen Reichtum des Landes. Die übrigen 90 % der Bevölkerung leben in Armut, viele am Rande des Elends. Es ist die Politik dieses Landes zu verhindern, dass eine mittelständische Schicht entsteht, welche die Kraft hätte, sich gegen diese Ungerechtigkeit aufzulehnen und ihre Rechte in Anspruch zu nehmen. […] Kagame hat sich mit einer überdotierten und überbewaffneten Armee ausgestattet. Sie besteht aus 150 000 aktiven Soldaten unter dem Befehl von einer Hundertschaft von Generälen. Das entspricht den Beständen der infanteristischen Streitkräfte Frankreichs. Diese Armee ist keineswegs eine Verteidigungsarmee, denn es besteht gar keine äussere Bedrohung, sondern eine Armee im Dienste der imperialistischen Grossmächte, eine Armee, mit deren Mitteln er die Nachbarländer destabilisiert und sie ihrer Naturschätze beraubt.»
Düsteres Fazit
In einer globaleren Betrachtungsweise finden gegenwärtige «Rätsel» eine recht einfache, allerdings bestürzende Auflösung. Sowohl die tragischen Ereignisse von 1994 in Ruanda, deren Vorgeschichte mit dem von den USA unterstützten Interventionskrieg des FPR, dann die beiden Eroberungskriege der ruandischen Armee und ihrer Verbündeter gegen den Koloss im Westen, den Kongo (Zaïre) Mobutus 1996/97 und 1998/2003 (ebenfalls von langer Hand vorbereitet und unterstützt von der Geheimdiplomatie der USA), die nachfolgende Scheininvestitur nach amerikanischem Diktat von Kabila Vater und Sohn sowie der seit dreissig Jahren dauernde Guerillakrieg im Ostkongo finden vor diesem Hintergrund eine verblüffend einfache Erklärung: Die Region im Herzen Afrikas mit ihren strategisch wichtigen Rohstoffen wurde seit je von den westlichen Grossmächten als «ihre Herrschaftsdomäne» betrachtet, welche sie, seit 1945 vor allem die USA, mit maximaler krimineller Energie behaupteten. Soviel Leiden also dafür, dass Grossmächte ihre strategischen Rohstoffe zu Dumpingpreisen garantiert erhalten? Auch hier sind einmal mehr der Hoffnungsschimmer am Horizont andere Kräfte, die ihre Interessen im internationalen Kontakt nicht hegemonial und damit auch militärisch durchsetzen wollen, sondern durch gegenseitige ehrliche Absprachen, wie sie den Prinzipien der Bandung-Konferenz entsprechen. China hat sie kürzlich mit Nachdruck bekräftigt.7 Die Weltgemeinschaft sollte diese vielleicht letzte Chance für den Weltfrieden unbedingt mittragen, gerade auch die Schweiz. •
1 Mukahoneri, Vestine. «Rwanda. Retour sur l'élection présidentielle du 15 juillet 2024. La honte pour la démocratie», in: Echos d'Afrique vom 21.7.2024
2 siehe dazu Patrick Mbeko mit seiner gross angelegten Darstellung des ganzen Komplexes in seinem soeben erschienenen Buch Rwanda. Malheur aux vaincus, éd. Duboiris, Paris, 2024)
3 siehe Mukahoneri, Vestine. «Rwanda. Retour sur l'élection présidentielle du 15 juillet 2024. La honte pour la démocratie», in: Echos d'Afrique vom 21.7.2024
4 Frühere Veröffentlichungen in Zeit-Fragen zum Thema Dauerkrieg im Ostkongo: «Der post-mobutistische Kongo. Die USA setzen auf die ruandische Karte», in: Zeit-Fragen Nr. 3 vom 30.1.2018. «Fragwürdige Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo», in: Zeit-Fragen Nr. 5 vom 26.2.2019. «Den Schlägen standgehalten – Die Autobiographie des kongolesischen Historikers Stanislas Bucyalimwe Mararo ist ein Vermächtnis», in: Sonderbeilage Kongo, Zeit-Fragen Nr. 19 vom 8.9.2020. «Nach den Wahlen in der Demokratischen Republik Kongo. Eine Auslegeordnung», in: Zeit-Fragen Nr. 4 vom 20.2.2024. «Ostkongo – die humanitäre Langzeitkatastrophe hält an (1. Teil)», in: Zeit-Fragen Nr. 7 vom 3.4.2024, sowie: «Der Dauerkrieg richtet sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung (2. Teil)», in: Zeit-Fragen Nr. 9 vom 30.4.2024
5 Emmanuel Macron an der Eröffnung eines Gipfeltreffens in Paris zum Thema Nachhaltige Entwicklung über den Sport, vom 25. Juli 2024, Quelle: Neretse, Emmanuel. «France/Rwanda. Les louanges d'Emanuel Macron à Paul Kagamé, ignorance ou mépris?», in: Echos d'Afrique vom 1.8.2024)
6 ebenda
7 vgl. Lawrence, Patrick. «Putin und Xi in Peking: Schritte ins 21. Jahrhundert», in: Zeit-Fragen Nr. 11 vom 28.5.2024
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