Europa ist nicht mehr Kolonialmacht. Europa muss diese Geschichte verabschieden und aufräumen. Wir wollen ein eidgenössisches Europa von Lissabon bis Wladiwostok gestalten gegen die sich immer hemmungsloser ausbreitende Refeudalisierung unter transatlantischem Vorzeichen. In diesem Sinn findet zur Zeit der Ausverkauf der Schwarzerde-Böden in der Ukraine an westliche Finanzzentren statt. Die Weltbank will ein «Reshape» der Landwirtschaft in «Eastern Europe and Central Asia», und Emmanuel Macron propagiert in seiner Rede vom 27. Mai 2024 in Dresden1 einen «europäischen Aufbruch». Dieser besteht – wenig innovativ – lediglich darin, die militärische Vergangenheit des kolonialen Europas der global agierenden Kolonialmächte aufzuwärmen – unter der transatlantischen Regie der einzigen Weltmacht.
Vor gut 100 Jahren hat die «Innenkolonisation» den politischen Widerspruch des kolonialen Europas von der Bodenfrage her aufgegriffen!
Der noch nicht gelöste Konflikt
um den Boden als Lebensgrundlage
Schon im frühen 16. Jahrhundert, als in England unter Heinrich VIII. der Grundadel die anvertraute Landbevölkerung vom Boden trennte und verjagte, zeigte sich das Grundproblem wirtschaftlicher Entwicklung: Der Mensch lebt vom Boden! Alle Menschen leben vom Boden. Die Frage ist, wie sich die Menschen auf dem Boden organisieren. Die Innenkolonisation befasst sich damit, seit im 19. Jahrhundert die Industrialisierung die räumliche Ordnung bzw. das Verhältnis und die Verteilung der Menschen auf dem Boden grundlegend zu verändern begonnen hat: Die auf dem landwirtschaftlich nutzbaren Boden verteilte, Landwirtschaft betreibende Bevölkerung wurde mit fortschreitender Industrieentwicklung deutlich zur Minderheit. Dieser Prozess begann in Europa im 16. Jahrhundert in England und erfasste Russland erst Ende des 19. bis ins 20. Jahrhundert.
Durch die sogenannte «Einhegung» hat der feudale Grundherr das ihm vorgängig von Gott anvertraute Lehen aus dem Lehenskontext herausgebrochen und als sein privates Eigentum im römischen Sinne des ius utendi et abutendi (Recht, eine Sache zu gebrauchen, aber auch zu missbrauchen) an sich gerissen und die auf dem bisherigen Lehen lebenden Menschen zu vom Boden getrennten Rechtlosen gemacht.
Karl Polanyi (1886–1964), Wirtschaftswissenschaftler und Historiker, der 1944 das Zeitgeschehen unter dem Titel «The Great Transformation» analysierte, sagte dazu Entscheidendes: «Was wir als Grund und Boden bezeichnen, ist ein mit den Lebensumständen des Menschen untrennbar verwobenes Stück Natur. Dieses Stück Natur herauszunehmen und einen Markt daraus zu machen, war das vielleicht absurdeste Unterfangen unserer Vorfahren.»2 «Es ist gerade das Fehlen der Drohung des Hungers für den einzelnen, das die primitive Gesellschaft in gewissem Sinne humaner macht als die marktwirtschaftliche Gesellschaft …»3
Der Grosse Wandel –
The Great Transformation
In vielen heutigen Redensarten wird vom Verschwinden der Landwirtschaft geredet als dem historischen Merkmal unserer Zeit. Die am Boden arbeitende Bevölkerung hat im Laufe von gut 100 Jahren von 90 Prozent auf wenige Prozent an der Gesamtbevölkerung abgenommen.
Die Innenkolonisation
und ihre Bestrebungen
Im Gegensatz zur gewaltsamen Landaneignung und Vertreibung der angestammten Bevölkerung als Urkonflikt befasst sich die Innenkolonisation gegenläufig mit der Frage, wie Wirtschafts-, Raum- und Gesellschaftsentwicklung auf der angestammten Bodengrundlage, von der alle leben, entsprechend zum Nutzen aller reorganisiert werden muss. Denn die durch die Industrialisierung ausgelösten Strukturveränderungen wie die Abwanderung aus der Landwirtschaft, die schnell wachsenden Siedlungsgebiete, der zunehmende Bodenverlust der Bevölkerung benötigen eine Neuordnung von Infrastrukturen, Versorgung, Energie, Verkehr bis zu Planungsmassnahmen für eine geordnete Entwicklung des Gesamtraumes. Die Innenkolonisation will die Entwicklung des eigenen Lebensraums zusammen mit dem wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritt selbst gestalten.
Die Überwindung der ökonomischen Rückständigkeit, die Überwindung der beschwerlichen Arbeit und der Wunsch nach einer sicheren Versorgung liegen im Gemeinschaftsinteresse. Die Rückständigkeit der damals auf der Landschaft und in den Dörfern lebenden, zu 90 % in der Landwirtschaft tätigen Bevölkerung beinhaltete auch ein Leben mit 150 Festtagen pro Jahr4, einem beschaulichen Kulturleben, das die Arbeitszeit mit dem Lebensrhythmus verband. Goethe hat uns eindrückliche Einblicke in die Lebens- und Arbeitswelt in den Webstuben der bäuerlichen Kleinlandwirtschaftsbetriebe gegeben. Arbeitsleben und Kulturleben griffen ineinander und schufen die wesentlichen Grundlagen und Massstäbe für die Aufklärung.
Die Früchte des Bodens
und die Früchte der Arbeitsteilung
Um diese kulturelle Lebenszeit des Volkes aufzubrechen und somit der wirtschaftlichen wertbildenden Verwertung durch die aufstrebenden Marktakteure zugänglich zu machen, fühlte sich Heinrich VIII. von England berechtigt, die eigenen Bauerndörfer anzuzünden und die angestammte Bevölkerung mit Gewalt zu zwingen, den angestammten Boden ihrer Existenz und Lebensgrundlage zu verlassen und mittellos in die Zentren der sich damals herausbildenden Industriegebiete abzuwandern. Und in diesem Zustand der Mittellosigkeit hatten sie als nun «freie» Arbeitskräfte auch keinen legitimen Anteil mehr an den Früchten der Arbeitsteilung wie ehemals an den Früchten des Bodens.
Diese dem Fortschritt immanenten Konflikte zwischen Verbesserungen und den damit verbundenen Veränderungen, und damit die Frage, wie sich die Menschen wirtschaftlich organisieren, damit nicht nur die Arbeit, sondern auch die Früchte der Arbeit geteilt werden, sind seit dem 16. Jahrhundert bis heute nicht gelöst und immer wieder Ursache von Gewalt, Kriegen und Zerstörungen.
90 % der bäuerlichen Bevölkerung genossen vordem die Existenzsicherheit ihrer Bodengrundlage als überschaubaren, wenn auch bescheidenen Wohlstand. Enteignung und Vertreibung setzten dem ein jähes Ende. Aber auch die zunehmenden Abgabenlasten zu Gunsten der steigenden Ansprüche des Feudaladels belassen der am Boden arbeitenden Bevölkerung immer weniger Mittel für ihre Reproduktion, so dass sie verarmt. Wird die Abgabenlast zu hoch und werden sie von der Obrigkeit ohne Gegenleistung verkonsumiert, so rumort es bei der Bevölkerung. Die Kompetenz der feudalen Ordnung wird als lediglich den Interessen des Adels dienend angezweifelt und als Misswirtschaft erkannt. Dies rief in Frankreich vor allem die Physiokraten auf den Plan, welche die Bodenproduktion als Grundlage des volkswirtschaftlichen Reichtums hervorhoben. In seinem berühmten Tableau versuchte François Quesnay, 1694–1774, erstmals Übersicht zu schaffen zwischen den Leistungen, die Stoffe gewinnen, sie verarbeiten und wiederum rückwirkend die Arbeit aller zum Nutzen aller erleichtern. Produktiv ist aus Sicht der Physiokraten nur die Landwirtschaft, die die Rohstoffe aus dem Boden holt. Die übrige Wirtschaft sei lediglich mit der Umarbeitung der Rohstoffe befasst.
Industrieentwicklung ohne Metropolenbildung –
Besuch aus England
In der Schweiz dagegen konnte sich die Landwirtschaft seit dem 14. Jahrhundert viel früher ohne Feudaladel entwickeln und somit für die Reproduktion und Verbesserungen der ländlichen Wirtschaft zwar auf klimatisch und pedologisch (die Bodenqualität betreffend) eher bescheidenen Böden prosperieren. Erwähnenswert, dass Goethe um 1800 mehrmals Kleinjogg, einen Wegbereiter physiokratischer Anbaumethoden in Rümlang (nördlich von Zürich), besuchte, um sich über die praktischen Errungenschaften einer von Feudallasten befreiten bäuerlichen Landwirtschaft zu informieren: auch den Boden selbst nicht auszubeuten, sondern ihm durch Düngerkreisläufe zurückzugeben, was ihm entnommen wird.
Gut ein halbes Jahrhundert später schickte das englische Unterhaus Mitte des 19. Jahrhunderts John Stuart Mill in die Schweiz, um zu klären, warum die Schweizer Textilindustrie trotz eingeschränkten technologischen Möglichkeiten der englischen Konkurrenz standhalten konnte. Dass man sich in England eine solche Frage überhaupt stellte, zeigt, wie entwickelt diese Kolonialmacht war, die ihre informellen Fühler überallhin ausstreckte.
Mill erfuhr, dass der Textilarbeiter in der Spinnerei in Uster in Fussdistanz eine feste kleinlandwirtschaftliche Existenzgrundlage in Nänikon hatte. Bei Konjunkturflaute bzw. Unterbeschäftigung intensivierte er seine Kleinlandwirtschaft, während der Spinnereiunternehmer keine Lohnkosten tragen musste. Dazu kommt: Die dezentrale dörfliche Siedlungsstruktur der Schweiz, die sich nach der Vertreibung des Feudaladels frei von Abgaben in einem dichten Netz aus Dörfern und Flecken entwickeln konnte, war eine grundlegende Voraussetzung für die Frühindustrialisierung der Schweiz. Dichte Erschliessung des Landes und folglich gute Transportwege, dezentral zugängliche Wasserkraft und das Arbeitsreservoir der Kleinlandwirtschaft, das bei Konjunkturschwankungen ihr festes Auskommen auf den eigenen Heimstätten hatte, hielten die Transaktionskosten und die sozialen Reproduktionskosten tief. Die entscheidende Voraussetzung war jedoch, dass in der Schweiz keine gewaltsame Vertreibung der Bevölkerung vom Land in die Industriezentren stattfand: Ernährung, Wohnen und Arbeiten blieben räumlich eng verwoben, was einerseits enorme Einsparungen im Siedlungsbau zur Folge hatte, andererseits aber auch zu einer beispiellosen Schul- und Berufsbildung der ganzen Bevölkerung beitrug, die von Albert Anker reich dokumentiert wurde. Das soziale Elend der englischen Arbeiterviertel der Industriestädte gab es in der Schweiz nicht!
Die Besonderheiten der bäuerlichen Wirtschaft
– Besuch aus Russland
Wieder ein halbes Jahrhundert später, 1912, kam der russische Agrarwissenschaftler Prof. Alexander Tschajanow in die Schweiz, um sich auf dem Bauernsekretariat in Brugg über die Landwirtschaft der Schweiz und ihre Entwicklung zu informieren. Nicht weil Russland nach Absatzmärkten oder nach wirtschaftlichen Vorteilen im Handel mit der Schweiz suchte. Vielmehr wollte der Agrarwissenschaftler wissen, nach welchen wirtschaftlichen Gesetzen sich in der industrialisierten Schweiz die Kleinlandwirtschaft erhalten hatte. Ihn interessierte, welchen wirtschaftlichen Gesetzen die bäuerliche Landwirtschaft folgte.5 Tschajanow versuchte, vertiefte Kenntnisse über die Besonderheiten der bäuerlichen Wirtschaft zu gewinnen, um sie in Russland umzusetzen. Er suchte nach Wegen, wie der Agrarstrukturwandel der zahlenmässig überwiegenden Landbevölkerung, die in Russland bisher auf dem Landeigentum des Adels festsass, nun neu auf Grund der Landreform nach den Grundsätzen des freien Familienbetriebes zu organisieren war. Gewissermassen umgekehrt zur Einhegung der dörflichen Landwirtschaft und deren Privatisierung durch den Grundadel in England. Nun sollte in Russland der Grundadel enteignet und das Land zu Eigentum an die von der Leibeigenschaft befreiten, aber bislang landlos gebliebenen Bauern zugeteilt werden. Sie sollten zu Landeigentümern in der Art des freien Familienbetriebes werden.
Gleichzeitig sollten auch die technischen Neuerungen der Industrie zur Arbeitserleichterung in der Landwirtschaft einfliessen. Tschajanow unterschied zwischen dem kapitalistischen Betrieb, der seine Produktion nach dem Reingewinn ausrichte, und der bäuerlichen Wirtschaft, die ein Optimum zwischen Aufwand und Ertrag anstrebe.
Dazu hatte das Bauernsekretariat der Schweiz in Brugg durch Prof. Ernst Laur, der auch an der ETH lehrte, statistisches Zahlenmaterial erhoben. So verdreifachten zum Beispiel die von ihm untersuchten landarmen Schweizer bäuerlichen Betriebe ihre Intensität; sie erlebten dabei eine wesentliche Einbusse am Verdienst je Arbeitseinheit, gewannen dadurch aber die Möglichkeit, auch auf dem kleinen Landanteil ihre Arbeitskraft voll auszunutzen und ihre Familien zu ernähren. «Ebenso erweitern die landarmen bäuerlichen Betriebe Nord- und Westrusslands die Flachs- und Kartoffelkulturen, welche manchmal im Vergleich mit Hafer weniger rentabel sind, dafür aber eine höhere Arbeitskapazität aufweisen und den Rohverdienst der Familien steigern.»6
Wo lagen die Gründe für die wirtschaftliche Zählebigkeit der Familienbetriebe gegenüber dem industriell-kapitalistischen Landwirtschaftsbetrieb? Wo liegt das ökonomische bzw. technische Betriebsoptimum der bäuerlichen Landwirtschaft?
Russland war Ende des 19. Jahrhunderts noch ein Agrarland mit 90 Prozent Beschäftigten der Bevölkerung in der Landwirtschaft. Die Industrieentwicklung hatte in Russland um die Jahrhundertwende erst begonnen. Eine gewaltige Transformation musste in kurzer Zeit bewältigt werden.
Die Innenkolonisation vor 100 Jahren
Demgegenüber war die industrielle Entwicklung in der Schweiz schon deutlich im Aufstieg und die Umschichtung des Bodenbezugs der Bevölkerung, die sogenannte Abwanderung, die Siedlungsentwicklung bereits weit fortgeschritten.
Aus dem SVIL-Geschäftsbericht 1919: «In der Schweiz, die keine Kolonisations-Tradition kannte, begann sich der Kolonisationsgedanke [der Innenkolonisation] seit der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges abzuzeichnen. Es handelte sich um eine zielbewusste, systematische Innenkolonisation, eine langfristige volkswirtschaftliche und nationalpolitische Aufgabe allererster Ordnung. Die Schweiz hatte sich in relativ kurzer Zeit von einem Agrarland zu einem Industriestaat entwickelt, dessen hoch ausgebildete Volkswirtschaft sich mehr und mehr auf die Zufuhr aus dem Ausland abstützte. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch rund 300000 ha mit Getreide bestellt waren, verkleinerte sich die Anbaufläche bis 1880 auf ungefähr 200000 ha und bis zur Jahrhundertwende auf etwa 100 000 ha. Mit dieser Entwicklung ging eine örtliche Bevölkerungsballung einher, die zu Städtebildungen führte […].»7
Mit diesem Kommentar zur laufenden Umwälzung der fortschreitenden Industrialisierung und des fortschreitenden Verlusts des Bodenbezuges der immer mehr in die Industrie abwandernden Bevölkerung umriss 1919 Prof. Hans Bernhard, Gründer und Direktor der SVIL, die künftige Aufgabe der Innenkolonisation in der Schweiz.
Die Schweiz kannte kein soziales Elend aus der Bodenvertreibung. Dagegen wurde die Schweiz unerwartet getroffen durch den Zusammenbruch des Freihandels als Ergebnis des Ersten Weltkrieges. Im 19. Jahrhundert – ganz auf einen zollfreien Freihandel ausgerichtet – wurde das Brotgetreide nicht mehr in der Schweiz angebaut, sondern fast vollständig importiert. Dieser Import brach 1917 zusammen, weil die Alliierten die Getreidetransporte, die in Genua anlandeten und welche die Schweiz schon bezahlt hatte, konfiszierten und in die Hungergebiete Osteuropas umlenkten. Damit waren Mangelversorgung und drohender Hunger in der Schweiz plötzlich ein Thema. Es wurde erkannt, dass der Freihandel immer noch mit dem ursprünglichen Kainsmal der Trennung der Bevölkerung vom Boden belastet war und als Folge der Versorgungskrise zur Lösung drängte.
Hans Bernhard und Alexander Tschajanow verband der gleiche Reformgedanke, aber unterschiedlich angewandt auf ihre jeweiligen Länder. Bernhard: «Im Ausland unternahm die Innenkolonisation vorwiegend Massnahmen zur Aufteilung von Grossgütern. In der Schweiz dagegen lag das Hauptübel in der Güterzerstückelung, die eine Güterzusammenlegung erforderte.»8
Auf Russland bezogen: Wie kann aus der Auflösung von adligem Grossgrundbesitz und der Leibeigenschaft die damit freiwerdende Bevölkerungszahl mit dem Boden verbunden werden, und wie muss diese Landwirtschaft sich organisieren, damit der Bodenertrag nicht einbricht und gleichzeitig die Arbeit am Boden nach Massgabe der technisch verfügbaren Mittel erleichtert wird? Wie können Aufwand und Nutzen gestaltet werden, ohne dass das kapitalistische Renditedenken den Boden einseitig in Beschlag nimmt und die Lebensgrundlage der ganzen Bevölkerung entzieht?
Auf die Schweiz bezogen: Wie kann eine dicht strukturierte Kleinlandwirtschaft in einem schon fortgeschrittenen Industrieland mit den technisch verfügbaren Mitteln durch die Innenkolonisation so umstrukturiert werden, dass die landwirtschaftliche Bodenfläche wie auch der Bodenertrag als Ernährungs- und
Versorgungssicherheit der Bevölkerung auf der Basis einer berufsbäuerlichen Struktur erhalten bleibt?
Die «Einhegungen» von heute – Beispiel Ukraine
Die eurasischen Schwarzerdeböden und der «Green New Deal»
Der in der Ukraine durch die aktuelle Aufhebung des bisherigen Bodenrechts ermöglichte freie Landverkauf von Bauern-, Genossenschafts- und Staatsland von Millionen von Hektaren macht das Land den global agierenden, Billionen von Dollar schweren Finanzakteuren für deren Welternährungsstrategien zugänglich!9
Gemäss der Weltbank beträgt der Wert von realen Gütern und Dienstleistungen weltweit 90 Billionen Dollar. Demgegenüber beträgt die Blase der Finanzwirtschaft bereits mehr als 500 Billionen Dollar, die ausserhalb der Realwirtschaft von den BlackRocks und Konsorten im Kreis herumgeschoben und mit Milliarden von aus dem Nichts ins Finanzsystem gepumpten Dollars durch die Banken und Zentralbanken gemästet werden. Inzwischen ist auch diesen Kreisen klar geworden, dass dies so nicht weitergeführt werden kann. Was also machen mit diesem riesigen überschüssigen Geldvermögen, bevor es zerfällt?
Ihre Idee ist, damit einen «Green New Deal» zu finanzieren. Damit ist aber die Frage noch nicht beantwortet, wie der Umbau auf eine ökologische Wirtschaft im Vergleich zur Wachstumswirtschaft je im Sinne des Investments rentieren soll. Dies soll dadurch erreicht werden, dass man grosse Flächen unserer Erde, Wälder, Wasserreservoire, Agrarland zusammenkauft, um später auf die mit diesem Eigentum verbundenen «Ökosystemleistungen» von der breiten Bevölkerung als Bezüger von Umweltleistungen einträgliche Abgaben zu verlangen. Dabei schätzt das Investmentbanking die Werte der Ökosysteme der Natur auf weltweit 4 Billiarden (4000 Billionen) Dollar. Mit dem Einsatz von 500 Billionen Dollar kann also ein Wert von etwa 4000 Billionen Dollar erworben werden!
Es handelt sich um die fortgesetzte «Einhegung» im Weltmassstab: die flächendeckende Privatisierung der natürlichen Lebensgrundlage des Bodens!
Im Bericht des Oakland-Instituts aus dem Jahr 2023 mit dem Titel «War and Theft: The Takeover of Ukraine’s Agricultural Land» heisst es zur Situation in der Ukraine:
«Mit 33 Millionen Hektaren kultivierbarem Land verfügt die Ukraine über grosse Landstriche mit dem fruchtbarsten Farmland der Welt. Seit 1990 haben Privatisierung und korruptes Regieren dazu geführt, dass sich der Boden in den Händen einer neuen Oligarchenklasse konzentrierte. 4,3 Mio. ha werden heute grossindustriell bewirtschaftet, davon sind inzwischen 3 Mio. ha mehrheitlich in den Händen von einem Dutzend Agrogrosskonzernen. Weitere 5 Mio. ha haben Privatinteressenten direkt vom Staat übernommen. Der Rest wird von 8 Mio. Bauern bewirtschaftet.
2021 wurden diese Verhältnisse durch eine kontroverse Landreform konsolidiert: Sie war Teil eines Strukturanpassungsprogramms, das unter der Schirmherrschaft von westlichen Finanzinstituten und im Gefolge des Maidan-Umsturzes, der eine pro EU-Regierung an die Macht brachte, zustande kam.
Heute werden 28 % des fruchtbaren Landes – also 9 Millionen ha – von Oligarchen, korrupten Individuen und Agrogrosskonzernen kontrolliert. Die grössten Landbesitzer sind heute – neben den Oligarchen – europäisch oder US-amerikanisch, inklusive zwei Aktiengesellschaften, die eine hat ihren Sitz in den USA, die andere in Saudi-Arabien.
Zu den prominenten Investoren gehören: die Vanguard Group, Kopernik Global Investors, BNP Asset Management Holding, die NN Investment Partners Holdings von Goldman Sachs sowie Norges Bank Investment Management, die den staatseigenen Fonds von Norwegen verwaltet. Auch eine Vielzahl von US-Pensionsfonds, privaten und universitären Stif-tungen haben in ukrainisches Land investiert. Und viele dieser Firmen sind bei westlichen Finanzinstituten verschuldet – insbesondere bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD), bei der Europäischen Investment Bank (EIB), bei der International Finance Cooperation (IFC), dem Arm der Weltbank für den Privatsektor.
Kommt hinzu, dass Kiew 2023 BlackRock und JPMorgan damit beauftragt hat, bei der Einrichtung eines Fonds zu helfen, um öffentliches Kapital zu beschaffen, das private Investitionen für den Wiederaufbau der Ukraine anziehen könnte, der schätzungsweise Hunderte von Milliarden Dollar kosten wird.»10
Ungelöste Fragen
Verbunden mit dem wirtschaftlichen Wachstumszwang sind Konflikte um Märkte trotz WTO nach wie vor ungelöst. Land, Rohstoffe und Energie sind die sich verschärfenden Streitpunkte, auf die Halford John Mackinder schon vor 100 Jahren in «Der geographische Drehpunkt der Geschichte» hingewiesen hatte. Auf diesen die Geopolitik bestimmenden Zusammenhang hat auch Zbignew Brzeziński in «Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft» Ende der neunziger Jahre aufmerksam gemacht.
Die Schweiz steuert heute, 100 Jahre nach Mackinder, alternativlos auf eine 10- und 12-Millionen-Schweiz zu, während die Bevölkerung der Ukraine durch Auswanderung deutlich abnimmt.
Wie löst die Schweiz das Schwinden der eigenen Ernährungsgrundlage? Führt das zur Preisgabe der Souveränität? Wie präsentiert sich heute die Versorgungsabhängigkeit von der Naturgrundlage? Sind in einer hocharbeitsteiligen Welt die gewachsene landwirtschaftliche Bodengrundlage und der Grundgedanke der Innenkolonisation noch aktuell?
Die «totalen Einhegungen» zielen auf die ganze Naturgrundlage inklusive Mikrobiom. «Digi, Nano, Bio, Neuro» sind die Kürzel der Technologien, die gefördert werden, um sich unserer Lebensumwelt weiter zu bemächtigen und so die Konflikte, welche die bisher angewandten Technologien hinterlassen haben, angeblich lösen zu können. Wie Prof. Mathias Binswanger jedoch zeigt, führt die so angestrebte Rundum-Erfassung aller Lebenszusammenhänge nicht zu mehr Gestaltungsspielraum und zu einer effizienteren, Ressourcen sparenden Ordnung mit mehr Freiheit, sondern die zu regulierenden Einzeldaten wachsen schneller als die verfügbaren Rechenleistungen.11 Das heisst, wer über die grösste Rechenleistung verfügt, bestimmt die Fakten – und wer über die grösste Kaufkraft verfügt, verfügt über die materiellen Ressourcen.
Welche neuen Existenzgrundlagen werden durch Digitalisierung, Nanotechnologie, Biowissenschaft (Mikrobiom) und Neurowissenschaft neu erschlossen, die bislang nicht zur Verfügung standen?
Dazu kommen Nachhaltigkeitspostulate, die menschliche Ernährung aus Gründen des sogenannten Umweltschutzes vom Boden zu lösen und in industriell-synthetische Reaktoren zu verlagern. Die bisherigen «Bio-» und Umweltschutzargumente und die Gesundheitsmedizin verbinden sich zu einer vom biologischen Boden getrennten Herstellungs- bzw. Fabrikationsweise. Damit wird die Lebenswelt aus ihrer Naturgrundlage ausgebettet und in den «Bio-Sektor» verlegt. Es soll durchgesetzt werden, wovor die Innenkolonisation vor 100 Jahren gewarnt hatte: die Industrialisierung der Naturgrundlage zu betreiben. Damit realisiert sich die Utopie einer aus der Natur ausgebetteten, in die Retorte verlegten Lebensweise!
Der «freie Markt» der Wachstumswirtschaft kann die zunehmenden Konflikte der Ernährungsfrage, der Wohnfrage, der Verstädterung, der Mobilität und der Versorgungsfrage mit Energie und Rohstoffen nicht lösen. Denn während einerseits beharrlich die Unantastbarkeit des freien Marktes betont wird, spitzen sich andererseits Handelskriege zu. Zudem werden laufend Nachhaltigkeitsziele verschärft. Es wird versucht, globale Regulierungen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und Energiestoffwechsel durchzusetzen — wobei sich die Grenzen zwischen offenen Handelskriegen und den Social-Development-Goals-Regulierungen auflösen. Dient der Umweltschutz dem Handelskrieg, oder begründet der Handelskrieg seine Ziele mit Argumenten des Umweltschutzes? Zielt das CO2-Abkommen von Paris auf die Energieversorgung der BRICS-Staaten? Ist Geoengineering Klimakrieg? Die «Nachhaltigkeitsziele» dienen offensichtlich dazu, die synthetische Herstellung der menschlichen Ernährung mit der herbeigeredeten Entlastung der Umwelt zu erzwingen. Dass dieser Reset, wie er z.B. vom WEF vertreten wird, die Krise nur verschärft – vor allem im Bereich Energie und Ernährung –, ist für ihre Promotoren nicht von Belang. Denn der dahinterstehende Zusammenhang ist ein anderer: Die propagierten Umweltziele und der verlangte «Reset» sollen dazu dienen, die globale «Einhegung 2.0» durchzusetzen.
Von Sustainable Development
bis zum Great Reset
Je mehr die Krisenprozesse sich verschärfen, um so mehr weitet sich das Feld für die Regulierung der Gesellschaft und ihrer Lebenswelt. Erste Gedanken in diese Richtung sind dazu in Rio+20 formuliert worden. Seither wurden sie über die Sustainable Development Goals SDG (Ziele für nachhaltige Entwicklung) 17 bis zum Great Reset des WEF und zu dem von der Finanzwirtschaft der USA ausgeweiteten Sanktionsregime zu einem mächtigen globalen Machtapparat verbunden. Den methodischen Grundsatz dieser Art des Wirtschaftens hat Polanyi im Kapitel «Markt und Mensch» aufgezeigt:
«Bei den mächtigen Staaten des Westens war diese unbegrenzte und uneingeschränkte monetäre Souveränität mit dem völligen Gegenteil verbunden, einem unablässigen Druck zur Ausweitung der Marktwirtschaft und Marktgesellschaft in andere Gebiete.»12 Und Polanyi ergänzt: «Die Arbeit von anderen Aktivitäten des Lebens zu trennen und sie dem Gesetz des Marktes zu unterwerfen, bedeutet alle organisatorischen Formen des Seins auszulöschen und sie durch eine andere Organisationsform zu ersetzen, eine atomistische und individualistische Form.»13
Heute wird mit KI versucht, diese durch die «Einhegung» erzeugte «atomistische und individualistische Form» des Seins durchzuregulieren – ohne jeden Lebenssinn!
Und im Bereich Landwirtschaft und Ernährung stehen wir damit vor der konkreten Frage, ob entgegen den bisher festgestellten Unterschieden in den Produktions- und Marktbedingungen zwischen Landwirtschaft und Industrie und dem nicht gelösten Konflikt der Wachstumswirtschaft mit der Naturgrundlage nicht doch unter dem Deckmantel der SDG eine aus den natürlichen Lebensgrundlagen entbettete Lebens- und Ernährungsform erzwungen wird: die Industrialisierung der Ernährung à la WEF, nämlich in einer aus den realen Lebenszusammenhängen ausgebetteten Form, die Lebenssinn und Glück der Menschen opfert.
In der Illusion, man habe die unbegrenzte Vermögensvermehrung im Griff, wird der Bezug zur Naturgrundlage übergangen. Die Wirtschaft könne den Boden bzw. die Naturgrundlage ersetzen und dem sich zuspitzenden Konflikt zwischen nicht vermehrbarer Naturgrundlage und ewigem Wachstum durch die totale Entgrenzung der Lebensgrundlagen – wie das exemplarisch in der Ukraine versucht wird – ein neues Geschäftsfeld zu schaffen: durch den weiteren Erwerb von Abermillionen von Hektaren Landwirtschaftsland – unter dem Deckmantel eines «Green New Deal». •
1 https://www.youtube.com/watch?v=wIr4YScuuo
2 Polanyi, Karl. The Great Transformation, S. 243, stw 2021
3 Polanyi, a.a.O., S. 225
4 Einer Schätzung aus dem 13. Jahrhundert zufolge arbeiteten ganze Bauernfamilien nicht mehr als 150 Tage im Jahr auf ihrem Land. Gutshofaufzeichnungen aus dem England des 14. Jahrhunderts zeigen ein äusserst kurzes Arbeitsjahr – 175 Tage – für Leibeigene. Vorindustrielle Arbeiter arbeiteten weniger Stunden als die heutigen. Die Innenkolonisation will diese Ordnung nach menschlichem Mass wiederherstellen, jedoch neu auf der Basis der Errungenschaften der Arbeitsteilung.
5 Tschjanow, Alexander. Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft, 1923. Campus 1987
6 Tschajanow, Alexander. Zur Frage einer Theorie der nichtkapitalistischen Wirtschaftssysteme, Archiv für Sozialwissenschaften und Sozialpolitik, 51. Band, 3. Heft, Tübingen 1924
7 SVIL Geschäftsbericht Nr. 2., 1919
8 SVIL Geschäftsbericht Nr. 9.,1922
9 How Climate Change Impacts and Adaptation Responses Will Reshape Agriculture in Eastern Europe and Central Asia and received the World Bank Green Award in 2011 in recognition of his innovative work on climate change and agriculture. Recipe for a Livable Planet
10 https://reliefweb.int/report/ukraine/war-and-theft-takeover-ukraines-agricultural-land
11 Binswanger, Mathias. Die Verselbständigung des Kapitalismus. Wie KI Menschen und Wirtschaft steuert und für mehr Bürokratie sorgt. Weinheim 2024
12 Polanyi, a.a.O., S. 334
13 Polanyi, a.a.O., S. 224
zf. Als Kolonisation bezeichnet man ursprünglich die Urbarmachung und Besiedelung brachliegenden Landes und im Laufe der Zeit auch die wirtschaftliche Unterwerfung bereits besiedelter Länder. Innenkolonisation meint dagegen die Entwicklung des Wirtschafts- und Siedlungsraumes im Inland.
Die Schweizerische Vereinigung Industrie und Landwirtschaft (SVIL) ist ein privatrechlicher Verein, der im Interesse der Ernährungssicherheit gemeinnützig handelt. In den Statuten sind der Schutz des Schweizer Bodens und seine rationelle Nutzung als Hauptziel genannt. Im Vordergrund stehen die Erhaltung und Förderung des Bodens als erneuerbare Ressource und sichere Ernährungsgrundlage.
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