«›Schwierige‹ Schüler. Wer sie versteht, kann ihnen helfen.»

Zum Buch von Michael Felten

von Eliane Perret

Das neue Schuljahr hat wieder begonnen – hoffnungsvoll seitens der Lehrer sowie der Kinder und Jugendlichen. Doch schon bald ergeben sich möglicherweise Fragen zu den «schwierigen» unter ihnen. «Was ist los mit Leon?» «Wie kann ich Angela helfen?» wird sich mancher Lehrer zu Recht fragen, sich eine baldige Lösung der Probleme erhoffen und sich sogar eine Abklärung beim Schulpsychologischen Dienst überlegen.

Wer sie versteht, kann ihnen helfen

«Unterrichten ist eine herrliche Arbeit – allerdings auch eine fordernde: Jungen Menschen immer wieder aufs Neue interessante Blicke auf Natur und Kultur eröffnen, sie zu Bildungsprozessen anregen, ihre Persönlichkeitsentwicklung fördern» (S. 9), schreibt Michael Felten zu Beginn seines Buches, dessen Titel Programm ist: «‹Schwierige› Schüler. Wer sie versteht, kann ihnen helfen». Der Autor richtet seinen Blick auf das einzelne Kind. Es geht jedoch nicht nur um augenfällige und unüberhörbare, sondern auch um zurückgezogene, unauffällige Kinder – immer mit dem Ziel, solch irritierten oder verzagten Kindern und Jugendlichen wieder zu mehr Mut und Selbstsicherheit zu verhelfen, damit sie den anstehenden Lebensaufgaben wieder entschlossener und zuversichtlicher begegnen. Natürlich gibt es kein Patentrezept, das stellt der Autor gleich zu Beginn klar, «dennoch lassen sich aus Beispielen konkreten Gelingens wesentliche Grundzüge für den Umgang mit Schwierigkeiten, Störungen, Blockaden im Unterricht destillieren.» (S. 10)

Alfred Adler – ein pädagogisch
 fokussierter, tiefenpsychologischer Ansatz

Im ersten Teil seines Buches analysiert Felten gut dokumentierte Beispiele und greift dazu auf den wertvollen Fundus in der älteren individualpsychologischen Fachliteratur zurück. Dieser am stärksten pädagogisch fokussierte, tiefenpsychologische Ansatz wurde in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts von Alfred Adler, einem Wiener Arzt und Psychologen und seinen Mitarbeitern, entwickelt und erfolgreich erprobt. Felten gibt sie geschickt gekürzt wieder, verweist aber stets auf die Originaltexte, die sich zu lesen lohnen. So verschieden die angeführten Beispiele sind, so ist ihnen doch gemeinsam, dass die Lehrpersonen der Kinder nicht versuchten, problematisches Verhalten der Schüler als Störung zu bekämpfen und sich nicht in einen unglücklichen Teufelskreis mit dem Kind verwickeln liessen, sondern: «Sie haben das Problem vielmehr als Symptom angesehen, als Ausdruck einer tieferliegenden seelischen Not», wie Michael Felten festhält. So lernt der Leser Max, Fritzl, Leopold, Helga, Markus, Hans, Karl, Kinder mit einer je eigenen Problematik und Lebensgeschichte kennen, die Hilfe brauchen. An ihren Beispielen kann er sich die Grundlagen der Individualpsychologie als Schlüssel für ein vertieftes Verständnis von pädagogischen Problemstellungen aneignen.

Und in der heutigen Zeit?

Im zweiten Teil des Buches geht es um «Sieben Klippen», wie sie der Autor nach einer Zwischenbilanz umschreibt und damit die Schwierigkeiten meint, denen Lehrer in heutigen Klassenzimmern begegnen. Die Beschreibungen machen es nochmals deutlich, es geht nicht um Rezepte oder unzulässige Verallgemeinerungen, sondern stets um das Verstehen der individuellen Entwicklung eines Kindes, um seine Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen des familiären und schulischen Umfelds – und was das Kind daraus gemacht hat, oder wie Alfred Adler es formuliert: «Nicht die Erlebnisse eines Kindes diktieren seine Handlungsweisen, sondern die Schlussfolgerungen, die es aus diesen Erlebnissen zieht.» (S. 62 aus: Adler Alfred 1931/1979) 
  So lernen wir sie auch kennen – Nihat, Azar, Jochen, Justus, Sera, Charlie und Martin. Sie alle fallen in der Schule auf und geben Rätsel auf als Unruheherde, kleine Prinzen, Witzbolde, Clowns, zu scheue, unsichere oder zurückgezogene Kinder. Deutlich wird auch die pädagogische Haltung in der Begegnung mit ihnen. Felten lässt dazu Alfred Adler zu Wort kommen: «Wir müssen das sichere Gefühl haben, dass sich stets eine Methode finden lässt, um einem Kind zu helfen. Selbst unter den schlimmsten Umständen steht immer ein bestimmter Zugang offen … den wir freilich entdecken müssen.» (S. 65 aus: Adler Alfred 1930/1976)
  Erleichternd sei es, so Felten, die familiäre Vorgeschichte des Kindes in Erfahrung zu bringen, um so «die emotionale Perspektive des Kindes einzunehmen, die Welt mit seinen Augen zu sehen und eine Hypothese zu seinem Lebensstil aufzustellen.» (S. 58) Das ermögliche es einem Lehrer vor dem Hintergrund einer vertrauensvollen Beziehung und dem Einbezug der Klassengemeinschaft, die Stärken des Kindes als positiven Ansatzpunkt feinfühlig aufzugreifen und es ermutigend bei seinen neuen Schritten zu begleiten – ein Weg, bei dem viele Eltern einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation erahnen und sich unterstützend anschliessen. 

Ein Brückenschlag zwischen
 Tiefenpsychologie und Pädagogik

Im vierten Kapitel des Buches legt der Autor die aus den Beispielen gewonnenen Erkenntnisse in Form eines individualpsychologischen Manuals und daraus abgeleiteter Schulpädagogik gut nachvollziehbar und praxisbezogen dar, um anschliessend einige wichtige psychoanalytische Impulse aufzugreifen, die zum Verstehen eines Kindes beitragen (speziell auch zu den heute leider üblich gewordenen Diagnosen wie ADHS, Autismus oder auch dem Absentismus). Damit gelingt ihm ein wichtiger und heute vernachlässigter Brückenschlag zwischen Tiefenpsychologie und Pädagogik.

Die Schulklasse als Entwicklungshelfer

So ist der Leser gut vorbereitet für die «Sieben Miniaturen» im folgenden Teil des Buches. Nicht immer reiche die Zeit aus, um die Vorgeschichte eines Kindes auszuleuchten, aber die Erfahrung mit all den Kindern, die man bereits erlebt und/oder gedanklich durchgearbeitet habe, wären hier eine wichtige Unterstützung, schreibt der Autor. Das helfe, mit der eigenen «diagnostischen Brille» den richtigen Ton zu treffen.
  So lernen wir in kurzen Beschreibungen nochmals sieben Kinder kennen, wie wir sie in heutigen Klassenzimmern antreffen können – lustlos, schweigend, impulsiv, gekränkt oder verweigernd – und können uns darin üben, die jeweils vorliegende Problematik vor dem Hintergrund des bereits Erfahrenen zu erfassen und Lösungsansätze zu suchen.
  Dazu gehört auch, die Schulklasse als Entwicklungshelfer einzubeziehen. In allen von Michael Felten aufgeführten Beispielen nahm sie eine wichtige Rolle ein. Die Klassengemeinschaft wurde zu einem heilsamen Ort, oder wie Alfred Adler schreibt: «Ich habe viele schwierige Kinder gesehen, deren Verhalten durch das Interesse der Gespielen und durch die Zusammenarbeit mit ihnen vollständig verändert wurde.» (S. 96 aus: Adler Alfred 1931/1979)
  Die in den 1920er Jahren (bis 1934) in Wien erstmals öffentlich erprobte individualpsychologische Versuchsschule erbrachte den Beweis, dass auf dieser Grundlage auch mit Kindern und Jugendlichen mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten (die heute in bildungspolitischen Diskussionen einen wichtigen Platz einnehmen) eine erfolgversprechende Perspektive erarbeitet werden kann. Alfred Adler meint dazu in einem ihm zugeschriebenen Zitat: «Man kommt nicht weiter, wenn man mit den Schülern kämpft, sondern ihre Muster wohlwollend durchschaut und ihre Energie in nützliche Bahnen lenkt.» (S. 58)

Gleichwertige Begegnung
 und fachliche Kompetenz

Die besten Erfolgschancen ergeben sich natürlich, wenn es gelingt, die Eltern als Mitspieler zu gewinnen, da der Ursprung der Schwierigkeiten oft im familiären Kontext zu finden ist. Deshalb widmet der Autor diesem Thema ein weiteres Kapitel. Eltern seien am ehesten zur Mithilfe bereit, «wenn sie empfinden, dass ich ihr Kind mag – trotz der Probleme, die es macht; wenn sie sich als Eltern nicht kritisiert fühlen – selbst wenn es Gründe dafür gibt; wenn ich sie davon überzeugen kann, dass meine Anforderungen die Fähigkeiten des Kindes stärken; wenn ich nicht zu viel von ihnen verlange.» (S. 103) Das sei die Grundlage einer konstruktiven Gesprächsatmosphäre, in der der Lehrer den Eltern gleichwertig begegnet und sie zugleich die fachliche Kompetenz, seine Zuversicht und seinen Optimismus erleben. Auch wenn eine so gestaltetet Elternarbeit Zeit koste – es sei gut eingesetzte Zeit. Das ist eine Erfahrung, der man nur zustimmen kann! Der Autor verweist auch auf die transkribierten Elterngespräche Alfred Adlers, in denen viele Beispiele zu finden sind, die orientierungsgebend zeigen, mit welcher Leichtigkeit und welchem Optimismus er auch schwierige Probleme angegangen ist (z.B. in Adler Alfred 1930/1993).

Und nun?

Die heutige Schulsituation ist für Lehrkräfte anspruchsvoll, und viele geben – enttäuscht oder erschöpft von ihrem beruflichen Alltag – (zu) früh auf, suchen sich weniger anspruchsvolle pädagogische Nischen, berufen sich auf ihre Work-Life-Balance und arbeiten nur noch mit reduziertem Pensum und wenig Verantwortung, oder sie suchen sich gar ein neues Tätigkeitsfeld. Schade! Vielleicht lesen sie aber zuerst noch das Buch von Michael Felten, vertiefen sich weiter in die anstehenden Aufgaben und lernen auch sich und die eigenen Reaktionen kennen (so wie sie es bei den Schülern tun sollten), denn wie Felten schreibt:
  «Insgesamt ist es wie mit dem Coach beim Sportwettkampf: Er darf nicht erst hinter der Ziellinie aktiv werden und dann auch nur bei Erfolg – er ist vielmehr während des ganzen Trainings gefragt. Er muss die Bewegung genau verfolgen, muss gelegentlich anspornen, muss die ganze Zeit achtsam, aufmerksam, präsent sein.» (S. 94)
  Das Buch von Michael Felten ist eine wichtige Inspirationsquelle. Es bietet viel Wissen und Anregung für die weitere Vertiefung für alle, denen das Wohl unserer heranwachsenden Generation ein Anliegen ist. Es ist jedem Lehrer, jeder Lehrerin zu empfehlen, damit sie in ihrem Beruf die gesuchte Genugtuung erfahren und erleben können. Es ist auch allen Ausbildungsverantwortlichen und Bildungspolitikern ans Herz zu legen, damit sie sehen und erfahren, wie der Bildungsdampfer wieder in die richtige Richtung gesteuert werden kann.  •

Felten Michael. ‹Schwierige› Schüler. Wer sie versteht, kann ihnen helfen; Dietzingen: Reclams Universal Bibliothek. 2023, ISBN 978-3-15-014361-2, auch als E-Book erhältlich.

Zum Weiterlesen und Weiterdenken

Adler, Alfred. (1930/1993). Das Leben gestalten. Vom Umgang mit Sorgenkindern. Frankfurt a. M.: Fischer-Verlag
Adler, Alfred. (1930/1976). Kindererziehung. Frankfurt a. M.: Fischer-Verlag 
Adler, Alfred. (1930/1974). Die Technik der Individualpsychologie BD.2: Die Seele des schwer erziehbaren Schulkindes. Frankfurt a. M.: Fischer-Verlag
Bonfranchi Riccardo, Perret Eliane. (2021). Heilpädagogik im Dialog. Praktische Erfahrungen, theoretische Grundlagen und aktuelle Diskurse. Bielefeld: Athena/ wbv, ISBN: 978-3-7639-6580-9
Bonfranchi Riccardo, Dünki Renate, Perret Eliane.(2022). Integration, Separation, Kooperation. Ein heilpädagogischer Blick auf die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Bielefeld: Athena/wbv, ISBN: 978-3-7639-7159-6

Michael Felten

Michael Felten war Gymnasiallehrer für Mathematik und Kunst in Köln (1981–2017). Seit 2007 übernahm er Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Universitäten und war als unabhängiger Referent in der Lehrerausbildung tätig. Seit 1995 ist er Autor verschiedener Sachbücher zu schulpädagogischen Fragen und publiziert in der Tages- und Fachpresse. Webseite: https://www.eltern-lehrer-fragen.de

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