Wer ist eine Gefahr für die Demokratie?

Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen

von Karl-Jürgen Müller

Am 1. September haben die ostdeutschen Bundesländer Sachsen und Thüringen ihren neuen Landtag gewählt. Die Parteien, die vom politischen und medialen Mainstream am meisten bekämpft und als «Gefahr für die Demokratie» hingestellt wurden – die Alternative für Deutschland (AfD) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) –, haben in Sachsen zusammengerechnet 42,4 % (AfD 30,6 %, BSW 11,8 %) der Stimmen erhalten, in Thüringen 48,6 % (AfD 32,8 %, BSW 15,8 %). Dort stellen sie zusammen die absolute Mehrheit der Sitze im neuen Landtag. Demgegenüber erzielten die drei Parteien der deutschen Bundesregierung in Sachsen zusammen nur 12,7 % und in Thüringen nur 10,4 % der Stimmen. Relativ ungeschoren kam die CDU mit 31,9 % der Stimmen in Sachsen und 23,6 % in Thüringen davon. Starke Verluste erlitt die Partei Die Linke.
  Es ist in Deutschland so üblich, dass die Wähler am Wahltag vor den Wahlbüros ausführlich befragt werden, um nach den Wahlen nicht nur das Wahlergebnis, sondern auch verschiedenste Wählermeinungen veröffentlichen zu können. Diese Befragungen führt das deutsche Meinungsforschungsinstitut infratest dimap im Auftrag der ARD durch, von der die Ergebnisse nach den Wahlen auch veröffentlicht werden.1 Nicht bei allen Fragen liegen Ergebnisse für beide Bundesländer vor.

Mehr als 80 % unzufrieden
 mit der Bundesregierung

Zum Wahlergebnis der deutschen Regierungsparteien passt es, dass in beiden Bundesländern mehr als 80 % der Wähler angegeben haben, sie seien mit der Politik der Bundesregierung «unzufrieden».
  Aber es gibt auch weitere interessante Umfrageergebnisse. So wurden die Wähler befragt, welches Thema für ihre Wahlentscheidung die grösste Rolle gespielt hat. In beiden Bundesländern wurden folgende drei Themen am häufigsten genannt: soziale Sicherheit, Zuwanderung sowie Kriminalität und innere Sicherheit. Das sind Themen, die den Alltag der Wähler unmittelbar betreffen. Dabei sticht die «grosse Sorge, dass die Kriminalität künftig massiv zunimmt» deutlich hervor. In Sachsen sind es 76 % der Befragten, die diese Sorge teilen, in Thüringen sogar 81 %, 17 % mehr als bei den letzten Wahlen vor fünf Jahren.
  Es wird immer wieder behauptet, die Wählerstimmen für die AfD und das BSW seien vor allem «Proteststimmen». Dem widerspricht, dass die Wähler genau bei den oben genannten drei Themen der AfD im Vergleich mit den anderen Parteien die grösste Kompetenz zuschreiben. Und: Die Bundesregierung wird gerade bei diesen Themen stark kritisiert. 68 % der Befragten in Sachsen geben an: «Die Bundesregierung tut zu wenig, damit wir in Deutschland sicher leben können.» Dort bejahen sogar 80 % die Frage: «Brauchen wir eine grundsätzlich andere Asyl- und Flüchtlingspolitik, damit weniger Menschen zu uns kommen?» In Thüringen sind es 84 %, die diese Frage bejahen.

Mehrheit kritisiert
 Waffenlieferungen an die Ukraine

Widersprüchlich sind die Befragungsergebnisse zum Thema Ukraine-Krieg und Russland. Als wahlentscheidendes Thema wurde dies eher selten genannt. Eine Ausnahme sind die Wähler des BSW. Hier belegt das Thema in beiden Bundesländern einen der drei Spitzenplätze. Das BSW hatte die Friedenspolitik zu ihrem zentralen Wahlkampfthema gemacht und vor den Wahlen mehrfach betont, es werde sich nur dann an einer Landesregierung beteiligen, wenn sich diese für eine andere Russland- und Ukraine-Politik einsetzt: keine weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine und statt dessen Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen mit Russland. Das entspricht auch dem mehrheitlichen Wunsch der Wähler. 56 % der Wähler in Sachsen und 62 % der Wähler in Thüringen finden: «Die Unterstützung der Ukraine mit Waffen durch Deutschland geht zu weit.» Andererseits (aber nur in Sachsen2): Mit 44 % Wähler-Zufriedenheit ist der deutsche Kriegsminister Pistorius der Spitzenreiter. Weit abgeschlagen sind die Regierungspolitiker Lindner, Habeck und Scholz (das Schlusslicht) – deutlich hinter der BSW-Vorsitzenden Wagenknecht und dem AfD-Vorsitzenden Chrupalla. Da wäre es interessant zu wissen, was für diese Wählerangaben ausschlaggebend war.

Ostdeutsche sehen sich nach wie vor
 als «Bürger zweiter Klasse»

Interessant ist auch, dass die grosse Mehrheit der Wähler nach wie vor grosse Unterschiede zwischen West- und Ostdeutschland wahrnimmt. 74 % der sächsischen Wähler und 75 % der Thüringer Wähler sagen: «Ostdeutsche sind an vielen Stellen immer noch Bürger zweiter Klasse.» Und 74 % der sächsischen Wähler sagen: «Politik und Wirtschaft sind immer noch zu stark von Westdeutschen bestimmt.» In beiden Bundesländern traut eine relative Mehrheit am meisten noch der AfD zu, die Interessen der Ostdeutschen zu vertreten. Aber auch bei der AfD liegt dieser Prozentsatz (25 % in Sachsen und 25 % in Thüringen) hinter dem Wähleranteil der Partei.
  Ein letzter Blick auf die Zahlen: Die jungen Wähler im Alter zwischen 18 und 24 Jahren haben in relativer Mehrheit AfD gewählt. In Sachsen waren es 31 % (11 % mehr als 2019) und in Thüringen sogar 38 %.

«Wir leben gar nicht
 in einer richtigen Demokratie»

Bis hin zum Leitmedium «New York Times» sprechen deutsche und westliche Mainstream-Medien davon, von den Wahlergebnissen in Sachsen und Thüringen gehe eine «Gefahr für die Demokratie» aus.
  Man bemüht den Vergleich mit den letzten Jahren der Weimarer Republik, als die kommunistische KPD und die nationalsozialistische NSDAP bei Wahlen ständig zulegten, schliesslich schon 1932 die Mehrheit im deutschen Parlament, dem Reichstag, stellten … und die NSDAP ab dem 30. Januar 1933, nachdem Adolf Hitler quasi legal zum Reichskanzler ernannt worden war, in Windeseile eine totalitäre Diktatur errichteten. Und man ruft noch lauter nach der «wehrhaften Demokratie».
  Dabei wird unterschlagen, dass es die bisherigen Regierungsparteien (inklusive der heute die grösste Oppositionsfraktion stellenden CDU/CSU) waren, die in den vergangenen Jahren die deutsche Demokratie ausgehöhlt haben.
  Hierzu ein letztes Mal Zahlen aus den Wahlumfragen in Thüringen3.

  • 71 % der Befragten sagen: «Man wird heute ausgegrenzt, wenn man bei bestimmten Themen seine Meinung sagt.»
  • 69 % sagen: «Der Staat kümmert sich mehr um Menschen, die zu uns kommen, als um unsere Bürger.»
  • 54 % sagen: «Ständig will mir jemand vorschreiben, wie ich zu leben und zu denken habe.»
  • 50 % sagen: «Wir leben gar nicht in einer richtigen Demokratie.»

Hasserfüllter
 Propaganda-Stil der Regierungsparteien

Wie sich Deutschland verändern könnte, wenn Parteien wie die AfD und das BSW Regierungsgewalt innehaben, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Beide Parteien mit dem Verdikt «extremistisch» und «Gefahr für die Demokratie» zu belegen, ist jedoch vor allem eine Propaganda-Formel der noch in Deutschland Regierenden. Und den politischen Un-Stil der entsprechenden Parteivertreter dabei kann ich nur noch als völlig inakzeptabel bezeichnen. Drei Beispiele aus dem Umfeld der Landtagswahlen:
  Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) sagte am 30. August 2024 bei einer Wahlkampfveranstaltung in Sachsen: «Wir machen nicht alles richtig, aber korrupt, gekauft ist niemand [in der Bundesregierung]. Im Unterschied zu AfD und BSW. Denn jeder weiss, dass viele von denen aus Moskau und Peking bezahlt werden.» (Hervorhebung km)

  Anton Hofreiter (Bündnis 90/Die Grünen) schrie beim politischen Frühschoppen auf dem Gillamoos-Volksfest im niederbayerischen Abensberg am 2. September 2024: Sahra Wagenknecht ist die «schlimmste Propagandistin des Kriegsverbrechers Putin» und «eine der schlimmsten Kriegstreiberinnen, die wir im Land haben». 
  Und Bernd Posselt von der bayerischen CSU befand am 3. September 2024: Sahra Wagenknecht ist die «friedensgefährdende Chefpropagandistin Wladimir Putins» und der «menschgewordene Hitler-Stalin-Pakt». 
  Wer ist eine Gefahr für die Demokratie?  •



1 https://www.tagesschau.de/wahl/. Dort gibt es auch die weitergehenden Links.
2 In Thüringen ist Sahra Wagenknecht die Politikerin, mit der die relativ meisten Befragten (46 %) zufrieden sind. Kriegsminister Pistorius kommt in der Rangliste gar nicht vor. Auch hier liegt der AfD-Vorsitzende Chrupalla vor den Regierungsmitgliedern Scholz und Habeck.
3 Die Zahlen für Sachsen sind in der Reihenfolge der Aussagen: 69 %, 67 %, 53 % und 47 %.

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