Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit

von Aliaksandr Ganevich, Ausserordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter der Republik Belarus in der Schweizerischen Eidgenossenschaft*

Nach dem Prinzip der souveränen Gleichheit, das in der UN-Charta von 1945 verankert wurde, sind alle Staaten vor dem Völkerrecht gleich, unabhängig von der Grösse ihres Territoriums, ihrer Bevölkerung, ihrer Wirtschaft oder ihrer Streitkräfte.
  Staaten kontrollieren grundsätzlich auch die Angelegenheiten innerhalb ihrer Grenzen und sind vor unzulässiger Einmischung von aussen geschützt. Dieser Grundsatz selbst existiert schon seit langem und ist im Völkerrecht anerkannt. Was dies jedoch in der Praxis bedeutet, hat sich im Laufe der Zeit geändert, sowohl als Reaktion auf wachsende internationale Verpflichtungen als auch sicherlich in bezug auf die Menschenrechte.
  Folgende Prinzipien auf diesem Gebiet sind bekannt:

– das Prinzip der Nichtanwendung von Gewalt und der Androhung von Gewalt,

– das Prinzip, internationale Streitigkeiten mit friedlichen Mitteln zu lösen,

– das Prinzip der Nichteinmischung in Angelegenheiten, die in die innerstaatliche Zuständigkeit der Staaten fallen,

– das Prinzip der Gleichheit und Selbstbestimmung der Völker,

– das Prinzip der souveränen Gleichheit der Staaten,

– das Prinzip der Unverletzlichkeit der Staatsgrenzen,

– das Prinzip der territorialen Integrität der Staaten,

– das Prinzip der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten.

Die Einhaltung dieser Prinzipien im heutigen Leben ist ein Thema intensiver Diskussionen in den Vereinten Nationen, im Sicherheitsrat, in internationalen Organisationen wie der OSZE und vielen anderen. Und es ist nicht möglich, dass wir heute alle davon ansprechen können. Ich werde auf einige Punkte im Zusammenhang mit der Situation in der Republik Belarus eingehen, die ich vertrete.
  Vor dem Hintergrund der anhaltenden geopolitischen Veränderungen erweist sich das Völkerrecht als wirksames Instrument zum Schutz der Menschenrechte und Freiheiten als widersprüchlich. Das bestehende System des Völkerrechts ist selektiv, und die Diktate einzelner Länder schädigen die nationale Souveränität erheblich. Die entstehende Ordnung in der neuen multipolaren Welt muss auf der Gleichheit der Länder und ihrer Souveränität basieren.
  Die Rechtsstaatlichkeit wird zur Grundlage einer neuen internationalen Zusammenarbeit. Belarus z.B. steht für den Aufbau gegenseitig vorteilhafter Partnerschaften im politischen und sicherheitspolitischen Bereich, in der Wirtschaft, in Wissenschaft, Kultur und im Sport. Es sind die Rechtsstaatlichkeit und die Achtung der Souveränität der Staaten, die eine solide Grundlage für die entstehende gerechtere und demokratischere multipolare Weltordnung bilden. Wir vertreten den Standpunkt, dass das Prinzip der Souveränität als internationale Rechtsordnung respektiert werden sollte, das auf der Unabhängigkeit souveräner Staaten basiert, die das Recht haben, gemäss den gültigen internationalen Verträgen über Rechte und Pflichten zu verfügen.

Souveränität des Staates und des Rechts
wird Schicksal der Menschheit bestimmen

Die Souveränität des Staates und des Rechts wird das Schicksal der Menschheit für die kommenden Jahrzehnte bestimmen. Heute hat sich alles verändert, und staatliche Souveränität und Rechtssouveränität werden in der Tat nicht nur die Entwicklung der Rechtssysteme, sondern auch das Schicksal der Menschheit für viele Jahrzehnte massgeblich bestimmen und das sogenannte Bild der Zukunft bilden. Darin sollte kein Platz sein für das Gesetz der Auserwählten, kein Platz für die Herrschaft des einen über alle Gesetze.
  Heute verringern einseitige US-Massnahmen die Anwendbarkeit internationaler Normen und Regeln. Aber wir dürfen unter keinen Umständen zulassen, dass sich dieser Utilitarismus durchsetzt und das Völkerrecht zerstört. Es kommt für internationale Gerichte nicht in Frage, ihre eigene Zuständigkeit zu bestimmen, so wie es z.B. der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ЕGMR, internationale Investitionstribunale und andere ähnliche rufschädigende Strukturen getan haben, die Fälle für sich konstruiert haben, um ihre eigene Bedeutung zu erhöhen und die Kosten in Höhe von mehreren Millionen Dollar zu rechtfertigen. Etwas, das den Interessen einer Gruppe westlicher Eliten dient.
  Das Völkerrecht befindet sich in einer Krise, und es gibt eine Verschlechterung der Qualität der Gerichtsverfahren. Das Völkerrecht befindet sich gewissermassen im Niedergang, und das System der internationalen Justiz hat sich verschlechtert. Das bedeutet aber nicht, dass wir das Völkerrecht aufgeben sollten, denn es ist das wichtigste Instrument für die Kommunikation zwischen Ländern.
  Die internationalen Rechtsbeziehungen sollten auf der Gleichheit und Souveränität der Staaten basieren. Unsere Aufgabe besteht heute darin, die internationalen Beziehungen wieder zu ihrer ursprünglichen Bedeutung zu bringen, zu den Prinzipien der Gleichheit und Zusammenarbeit und nicht zu Diktat und Herrschaft. Es geht darum, zuallererst den Respekt vor dem Gesetz, seinem Geist und seinen Buchstaben und den daraus erwachsenden Grundsätzen des Völkerrechts zu erzwingen.

Die nationale Identität bewahren

Das Bekenntnis zu den Grundsätzen der souveränen Gleichheit ermöglicht es uns, die Interessen unserer Staaten vollständig zu berücksichtigen und ihre nationale Identität zu bewahren, uns gegenseitig zu unterstützen und zu stärken und für alle Seiten vorteilhafte Kompromisse zu finden.
  Wir müssen den Aufbau einer multipolaren Weltordnung abschliessen, in der die Souveränität der Staaten von zentraler Bedeutung und besonderem Wert ist. Für eine erfolgreiche Zusammenarbeit ist es notwendig, gerichtliche Instanzen auf der Grundlage internationaler Organisationen zu schaffen. Es ist dringend notwendig, auf der Grundlage regionaler internationaler Organisationen Gerichtsbarkeitsorgane zu schaffen. Mittlerweile arbeiten sie in internationalen Wirtschaftsverbänden einzelner Länder – in der Eurasischen Wirtschaftsunion, in Asien. Es ist möglich, dass ähnliche Gremien in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), in der BRICS und anderen Verbänden entstehen. Abgesehen von den von der Uno verhängten Sanktionen sind alle anderen Sanktionen illegitim – wir erkennen sie nicht an.
  Was die Sanktionen betrifft, so unterliegt Belarus seit Anfang seiner Unabhängigkeit in gewissem Masse diesen Sanktionen. Dies ist eine Strafe für souveräne Aussen- und Innenpolitik, die im eigenen nationalen Interesse und nicht im Interesse der Initiatoren von Sanktionen betrieben wird. Ich sage es Ihnen direkt, ich erinnere mich zum Beispiel an das Jahr 2010, als uns im Klartext mitgeteilt wurde, dass bestimmte Beschränkungen aufgehoben würden, wenn wir dies und das tun würden. Und die Forderungen betrafen rein innenpolitische Fragen, die Zulassung bestimmter, von Westlern benannter Personen für die Regierung des Landes, den Verkauf nationaler Vermögenswerte und so weiter.

Bevölkerung verarmen,
 um Unruhe zu stiften

Es ist klar, dass alle diese Massnahmen – sie waren unterschiedlich – im Prinzip darauf abzielten, die Möglichkeiten unseres Wirtschaftswachstums einzuschränken und einen regionalen Wirtschaftskonkurrenten auszuschalten. Daher begannen im Jahr 2020 natürlich nicht nur Sanktionen, sondern ein regelrechter hybrider Krieg. Es gab nur ein Ziel der Akteure: die Bevölkerung von Belarus zu verarmen, um Unruhen zu provozieren und so ihre Ziele zu erreichen. Einige Politiker und Führungspersönlichkeiten äusserten sich sogar öffentlich dazu. Zu den rechtswidrigen restriktiven Massnahmen kamen eine Verkehrsblockade, die Sperrung des Zugangs zu Seehäfen – was einen groben Verstoss gegen das Völkerrecht darstellt –, Finanzsanktionen und mehr hinzu. Die polnische Führung unterstützt und finanziert paramilitärische Extremistenformationen, die offen über die Notwendigkeit der Vorbereitung von Terroranschlägen in Belarus sprechen. Litauen führt ähnliche Aktivitäten durch.
  Aber diese Erfahrungen machen die Belarussen nur stärker. Wir stellen uns diesen Herausforderungen erfolgreich. Auch gemeinsam mit Russland, unseren anderen Partnern und Verbündeten, befreundeten Ländern sowie im Rahmen einer Reihe von Integrationsverbänden. Die meisten Länder stehen auf der Seite der Gerechtigkeit, daher sind Versuche, uns zu isolieren, zwecklos.
  Viele Länder sind der Meinung, dass es notwendig ist, in Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Ländern (China, Kuba, Russland) einen Anti-Sanktionsclub zu gründen und rechtliche Mechanismen im Rahmen der Souveränität, des Rechts und des Völkerrechts zu entwickeln, um eine Lösung zur Bekämpfung der Sanktionen zu finden. Es ist auch notwendig, finanzielle und wirtschaftliche Regeln festzulegen, den Dollar als internationale Währung abzuschaffen und ihn durch nationale Währungen zu ersetzen. Der Anti-Sanktionsclub sollte eine Klage gegen die Urheber der Sanktionen einreichen und Schadensersatz fordern.  •



Aliaksandr Ganevich ist seit 2020 Ausserordentlicher und Bevollmächtigter Botschafter (der ersten Klasse) der Republik Belarus in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Er wurde in Lida, Region Grodno, geboren. Seine Ausbildung absolvierte er in der Militärkommandoschule in Ussurijsk, an der Moskauer diplomatischen Akademie sowie an der diplomatischen Schule des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland. Seit 1993 war er in Minsk, Berlin, Bern und München im diplomatischen Dienst tätig. Aliaksandr Ganevich ist verheiratet und hat zwei Kinder. Er spricht Belarussisch, Russisch und Deutsch.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK