Respekt vor der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Staaten – versus Machtmissbrauch, Despotie und Krieg

XXXI. Kongress «Mut zur Ethik» vom 30. August bis 1. September 2024 in Sirnach

von Eva-Maria Föllmer-Müller

Vom 30. August bis 1. September 2024 trafen sich rund 150 Teilnehmer und 22 Referenten aus Europa, Afrika, Asien, Ozeanien und den USA zu den diesjährigen Septembergesprächen von «Mut zur Ethik» im schweizerischen Thurgau. Eingeladen hatte die Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik».

Auch in diesem 31. Jahr kamen wieder Gäste aus verschiedenen europäischen Ländern und zahlreiche Referenten aus der ganzen Welt zusammen, um während dreier Tage vieles zu den brennenden Fragen der Zeit zu erfahren, miteinander zu diskutieren und mögliche Lösungswege kennenzulernen. Wie gewohnt wurden die Gespräche wieder im Hybrid-Format geführt, so dass neben den Anwesenden auch Referenten und Teilnehmer aus verschiedenen Ländern zugeschaltet werden konnten.
  Das Thema in diesem Jahr war: «Respekt vor der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Staaten – versus Machtmissbrauch, Despotie und Krieg».

Völker- und menschenrechtlich verbrieft

Manch einer könnte sagen, das Thema bringe doch eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck. Wer spricht sich denn heute noch offen für Machtmissbrauch, Despotie und Krieg und gegen die Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Staaten aus?
  Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit sind sogar völker- und menschenrechtlich verbrieft.
  So lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948:

«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» 

Und die Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 spricht in ihrer Präambel von

«der Gleichberechtigung von allen Nationen, ob gross oder klein»,

im Artikel 1 von dem Ziel der Vereinten Nationen,

«freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln».

Und in Artikel 2 heisst es über die Vereinten Nationen:

«Die Organisation beruht auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller ihrer Mitglieder.»

Aber schon die Charta der Vereinten Nationen hat mit ihren eigenen Grundsätzen gebrochen, indem sie den Siegermächten des Krieges Sonderrechte, insbesondere das Veto-Recht im Weltsicherheitsrat, zugestand. Und der Blick auf unsere Wirklichkeit seit 1945 zeigt, dass wir noch weit entfernt sind von einer tatsächlichen Anerkennung der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Staaten.

Irrtum «Manifest Destiny»

Aus dem 20. Jahrhundert kennen wir die massenmordenden Rassen- und Klassenideologen. Bis heute gibt es die Vorstellung eines «Manifest Destiny», die geradezu fordert, die ganze Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Bekannt ist auch die Unterscheidung von Josep Borrell zwischen «Garten und Dschungel». Oder es gibt die Vorstellung, «Gottes auserwähltes Volk» zu sein, was in der praktischen Politik bedeutet, dass die eigenen Nachbarn schlimmer als Tiere behandelt werden.
  Tatsache ist: Die andauernden Kriege halten die Welt in Atem. Soziale Gerechtigkeit ist kein Thema mehr. Die Rechtsbrüche staatlicher Institutionen nehmen zu. Das gesellschaftliche Klima wird durch volksverhetzende Propaganda vergiftet. Der Umgang mit anderen Meinungen als den mainstream-medialen wird autoritärer, der Ton wird schärfer. Die Würde des Menschen wird mit Füssen getreten. Wir stellen die Aushöhlung der Grundlagen des Menschseins fest. Emmanuel Todd spricht von einem «anthropologischen Bruch».
  Die Mehrheit der Länder des Nicht-Westens lässt sich nicht mehr von westlichen Propagandaformeln wie «Demokratien versus Autokratien» täuschen und unterwirft sich nicht länger westlichen Hegemonialansprüchen. Sie geht ihren eigenen, selbstbestimmten Weg – auf der Grundlage des Völkerrechts und der Uno-Charta. Die neue, multipolare Weltordnung nimmt weiter Gestalt an. Die Forderung lautet: Eine Welt auf der Grundlage des Respekts vor der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen, Völker und Staaten.

Humanwissenschaftliche Konstanten

Wie steht es heute um die Conditio humana: um die Anerkennung und die Achtung der menschlichen Würde, um das Gemeinwohl, das Bonum commune, um den Schutz der unveräusserlichen Rechte aller Menschen und um die sittliche Verantwortung eines jeden von uns?
  Anstand, Ehrlichkeit, Respekt müssen wieder eingefordert werden; dies erfordert vom einzelnen eine innere Haltung, das heisst auch, sich wieder bewusst zu machen, was sich die Menschheit an humanwissenschaftlichen Konstanten erarbeitet hat, in allen Bereichen des menschlichen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Das heisst mitmenschlich, also für die menschliche Sache zu leben mit dem Ziel, Menschlichkeit zu verwirklichen und weiterzuentwickeln.
  Das heisst aber auch, von den Staaten und Regierungen der ganzen Welt den Respekt und die Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts einzufordern.
  Was braucht es hierfür aus Sicht der personalen Psychologie mit Blick auf den handelnden Menschen? Es braucht Menschen, die in ihrem Menschenbild eine emotional verankerte Grundlage haben, auf der sie mit den anderen Menschen in Freiheit und Gleichwertigkeit kooperieren können.

Grundprinzip
 der Psychologie und Pädagogik

Vor zehn Jahren – viel zu früh – verstarb die weithin geschätzte Historikerin und Psychologin Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser, die vor 31 Jahren «Mut zur Ethik» ins Leben gerufen hat. Aus ihrem Nachlass stammt ein unveröffentlichtes Manuskript mit dem Titel «Die Menschen stärken», das sie im Jahr 2000 verfasst hatte. Es ist eine Synopse über die direkte Demokratie, grundlegende psychologische Befunde und das Konzept einer werteorientierten Bürgerbewegung.
  Ich möchte aus dem Kapitel «Das Menschenbild der personalen Psychologie» zitieren, in dem sie u.a. die Würde des Menschen als ein Grundprinzip der Psychologie und Pädagogik beschrieben hat. Es gibt eine Vorstellung davon, was Gleichwertigkeit als wesentlicher Bestandteil einer «inneren Haltung», wie ich sie oben genannt habe, heisst und wie sie entwickelt werden kann:

«Die Würde des Menschen muss, wenn sie nicht blosses Postulat bleiben soll, eine erlebte emotionale Qualität sein, die sich nur im sozialen Bezug vollziehen und festigen kann. Sie beruht auf einem gegenseitigen Geben und Empfangen. Familie und Schule sowie die Gesellschaft können die Bedingungen schaffen, dass die Würde des Menschen nicht nur geachtet, sondern gelebt wird. Es war nicht von ungefähr, dass dieses Postulat 1948, nach dem Desaster des Zweiten Weltkrieges, als erster Punkt in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen aufgenommen wurde: 
  ‹Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.›
  Psychologie und Pädagogik, Familie und Schule können die Grundlegung in der Erziehung leisten und zur lebendigen Verwirklichung unter den Erwachsenen beitragen. Die Würde des Menschen ist kein Automatismus, sie fällt nicht fertig vom Himmel, ist keine aussermenschliche Entität, sondern sie muss im menschlichen Zusammenleben gelegt, gestärkt, gefördert, stets erneuert und weitergetragen werden: Sie muss gelebt und so für die Kinder und Jugendlichen emotional fassbar werden. Damit sie als ein ‹essential› des menschlichen Lebens geschützt ist, muss sie aber auch in der Verfassung der Länder und in internationalen Konventionen unumstösslich verankert sein.»

Ringen um die multipolare Welt

Für das Zusammenleben der Staaten und Völker beobachten wir ein anhaltendes, hartes und leider auch opferreiches Ringen um eine multipolare Welt auf der Grundlage des Völkerrechts, so, wie es in den oben zitierten Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen zum Ausdruck kommt.
  Diese Idee und der Kampf für die Anerkennung und Achtung der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Staaten ist auch Teil der europäischen Kulturgeschichte – wie auch anderer Kulturen. Während die antike Philosophie nur bedingt Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit anerkannte – hier ist vor allem auf den römischen Staatsdenker und Politiker Cicero zu verweisen – haben die christlichen Kirchen mit der Lehre von der «Gottebenbildlichkeit» aller Menschen ein Fundament gelegt. Renaissance, Humanismus, Aufklärung und in unserer Zeit die personalen Humanwissenschaften haben auf diesem Fundament mit Vernunftgründen aufgebaut.
  Bis heute ist es eindrucksvoll zu sehen, wie es mutigen Christen gelungen ist, dem menschenverachtenden europäischen Kolonialismus der frühen Neuzeit Zugeständnisse an die Menschenwürde abzuringen. Joseph Kardinal Höffner hat dies in seinem 1947 erstmals unter dem Titel «Christentum und Menschenwürde» und dann im 1972 neu aufgelegten Buch, jetzt mit dem Titel «Kolonialismus und Evangelium. Spanische Kolonialethik im Goldenen Zeitalter», nachgezeichnet. In seinem Schlusskapitel hat Kardinal Höffner Sätze formuliert, die gerade auch heute sehr bedenkenswert sind. Er schreibt,

«dass europäische Kultur und Zivilisation nicht als Norm für die ganze Menschheit hingestellt werden dürfen. […] Alle Kulturkreise haben ihren Eigenwert und ihr Daseinsrecht. Europa hat seine führende Stellung und Geltung in der Welt längst verloren. Die Schwerpunkte des Weltgeschehens haben sich in andere Kontinente verlagert. All diese Entwicklungen und Wandlungen zeigen, dass für die Menschheit von heute, die durch Weltwirtschaft und Weltverkehr, Kriegsdrohung und Friedenssehnsucht zu einer Einheit geworden ist wie nie zuvor, das Gesetz der Solidarität und der wechselseitigen Befruchtung der Kulturkreise gelten muss, wenn es nicht zu weltweiten Katastrophen kommen soll.»

Mut zur Ethik – Würde des Menschen

Die der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Staaten zugrundeliegende Anerkennung und Achtung der Würde des Menschen zieht sich als Thema wie ein roter Faden durch die Arbeit und die Kongresse der Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik». 1997 haben wir dem Thema «Die Würde des Menschen» einen ganzen Kongress gewidmet und Thesen verabschiedet, die nichts von ihrer Bedeutung verloren haben.
  So heisst es in der Präambel zu diesen Thesen:

«Die Anerkennung der Würde der menschlichen Person in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ist die wertvollste sittlich-rechtliche Errungenschaft unserer Zivilisation. Sie ist Grundlage der Verfassungen der modernen Demokratien und der internationalen Pakte der Völkergemeinschaft. Es ist eine historische Tatsache, dass die Anerkennung der Menschenwürde, soweit sie erfolgt ist, unsere Gesellschaften aus endlosen Religions- und Bürgerkriegen, aus staatlicher Willkür, sozialer Ungerechtigkeit und totalitärer Unterdrückung herausgeführt hat. Die Rückbesinnung auf Menschenwürde und Menschenrechte, ihre objektive Begründung aus dem Wesen des Menschen und seiner Natur, ihre Sicherung und weitere Verwirklichung gehören daher zu den drängendsten Problemen unserer heutigen Zeit.»

In dieser Ausgabe veröffentlichen wir eine erste Auswahl von Kongressbeiträgen. Weitere Beiträge werden in folgenden Ausgaben von Zeit-Fragen publiziert. •

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