Eigentlich wäre alles klar: Nach allgemeiner heutiger Rechtsauffassung geniessen alle Staaten souveräne Gleichheit. Sie haben dieselben Rechte und Pflichten und sind gleichberechtigte Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, ungeachtet aller Unterschiede wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer oder anderer Natur. Nachdem eine ganze Reihe westlicher Staaten nach dem Ende des Kalten Kriegs das Gewaltverbot aufgeweicht hatte, untergraben sie nun auch dieses Prinzip, indem sie Vorrechte für sich reklamieren. Das kommunizieren sie ganz offen. Die Resultate zweier Weltkriege stehen auf dem Spiel.
Teil dieses Bemühens ist die Vertauschung der Rolle von Opfern und Tätern. Wenn man die Opferzahlen des Zweiten Weltkriegs studiert, kommt man zu eindeutigen Erkenntnissen: In einem Teil der Länder der «Achse», vor allem in Ungarn, Finnland, Rumänien und Bulgarien, kam die Zivilbevölkerung vergleichsweise glimpflich davon, und diese Länder wurden für ihre Rolle im Krieg nie richtig an den Pranger gestellt, vor allem wohl, weil das seitens der Sowjetunion unerwünscht war.1 Auch in Deutschland überwog die Anzahl gefallener Soldaten jene der getöteten Zivilpersonen um ein Vierfaches, und das Verhältnis wäre noch eindeutiger zulasten des Militärs, wenn da nicht die westalliierten Bombenangriffe gewesen wären.2 Auf der anderen Seite haben in erster Linie Polen, die Sowjetunion, Jugoslawien und Griechenland ihren bewaffneten Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland am teuersten bezahlt.3
Heute sind alle Aggressoren des Zweiten Weltkriegs – mit Ausnahme Japans – Mitgliedsländer der Nato.4 Eine weitere Gruppe von Mitgliedsländern besteht aus jenen Ländern, die sich in jenen Jahren mit der Wehrmacht arrangierten.5 Das hält sie aber nicht davon ab, die Verdienste der Roten Armee zu schmälern, die fast die Hälfte aller gefallenen Soldaten des gesamten Zweiten Weltkriegs zu beklagen hatte.
Mit der Gründung der Vereinten Nationen am 26. Juni 1945 in San Francisco zogen die 51 Gründungsmitglieder die Konsequenzen aus zwei Weltkriegen: Sie versuchten es ein zweites Mal mit der Gründung eines Bundes der Völker der Erde und bestimmten fünf Siegermächte als «Wachhunde» der neuen Weltordnung.6 Im Kalten Krieg blockierten sich die Kontrahenten unter den fünf permanenten Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats aus ideologischen Gründen gegenseitig. In den zehn Jahren nach dem Zerfall der Sowjetunion begann der Westen aber zu schalten und zu walten, wie es ihm gerade passte. In den letzten Jahren haben sich nun drei der Siegermächte von 1945 mit einer Reihe von Aggressoren und Kollaborateuren von damals zusammengetan und treten als Initiatoren der «regelbasierten Ordnung» auf.
Altes Sendungsbewusstsein …
Jahrhundertelang zogen die europäischen Kolonialmächte in die Welt mit dem Anspruch, in den sie interessierenden Gebieten die Herrschaft ausüben zu dürfen. Spanier und Portugiesen waren quasi im päpstlichen Auftrag unterwegs, die Heiden zum Christentum zu bekehren. In ihren Augen bestätigte der Vertrag von Tordesillas vom 7. Juni 1494, in welchem der Papst die Erde in eine spanische und eine portugiesische Einfluss-Sphäre aufteilte, diesen Auftrag.7 Und weil Spanier und Portugiesen im Unterschied zu den Menschen in Afrika, Asien und Südamerika um den Schlüssel zum Eintritt ins Himmelreich wussten, beförderten sie ganze Völkerschaften gleich dorthin. Das war ihre Form der Fürsorge.
Basis britischer Herrschaftsausübung war ein zivilisatorisches Sendungsbewusstsein, das unter anderem auf unbestreitbaren Errungenschaften englischen Verfassungsrechts wie beispielsweise der Magna Charta Libertatum und der Habeas Corpus Akte basierte.8 Der Barde dieses Sendungsbewusstseins war der britisch-indische Schriftsteller Rudyard Kipling, der 1865 in Mumbai zur Welt kam und bis 1936 in England lebte.9 In seinen Büchern und Erzählungen über Indien postulierte er die Mission des gebildeten weissen Mannes, den Gott dazu ausersehen habe, die Kolonialvölker zu erziehen und zu zivilisieren. Das britische Empire erscheint in dieser Perspektive als eine Art Vormundschaft für die noch nicht mündigen Kolonialvölker.
Spät, aber besonders aggressiv entwickelte sich der italienische Kolonialismus: Benito Mussolini knüpfte an das antike Reich der Römer an. Das ist sehr vielsagend, denn die alten Römer waren sehr prinzipiell: Fremde Menschen hatten Römer zu werden. Wer sich hingegen nicht romanisieren lassen mochte, dem standen Krieg und Versklavung bevor.
… und neues
Ganz besonders aussagekräftig war der geschmacklose Zirkus anlässlich der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele in Paris vor wenigen Wochen. Hier zeigte das heutige Frankreich sehr deutlich sein Gesicht.
Dass Frankreich die Olympischen Spiele nutzen würde, um sich als Grande Nation zu zelebrieren, war absehbar. Mit dem Feiern der Französischen Revolution knüpfte es an das Sendungsbewusstsein an, das die Französische Republik einst in alle Welt geführt hatte, wo es den Völkern die Segnungen der Revolution näherbringen sollte. Die Französische Revolution hat übrigens etwa 20 000 Menschen auf die Guillotine gebracht und wahrscheinlich 200 000 Opfer generell gefordert.10 Dass die junge Republik nach der Absetzung von König Ludwig XVI. die aus dem Haus Habsburg stammende Königin Marie-Antoinette nicht einfach nach Österreich zurückspedieren konnte, ist klar. Dass man sie nach einem Schauprozess köpfte und ihren Sohn Louis-Charles mit List oder Gewalt erst dazu brachte, seine Mutter im Prozess zu belasten, um ihn dann im Gefängnis verrotten zu lassen, war aber zweifellos ein Verbrechen.11
Nun haben gerade wir Schweizer ein ambivalentes Verhältnis zur Französischen Revolution. Einerseits brachte sie das Ende von Leibeigenschaft und Untertanenverhältnissen in der Alten Eidgenossenschaft. Andererseits schlugen französische Revolutionstruppen auf brutale Art und Weise Aufstände in der Innerschweiz nieder. Später war Napoleon klug genug, sich über das Wesen der Eidgenossenschaft und ihrer Bewohner informieren zu lassen, und oktroyierte den Eidgenossen im Jahr 1803 die Mediationsakte auf.12 Obwohl Napoleon die Schweiz zum französischen Protektorat machte, empfand man für ihn in der Eidgenossenschaft teilweise Begeisterung. Wie schade, dass die Organisatoren der Eröffnungszeremonie von Paris keine Zeit fanden, auf die positiven Seiten der Französischen Revolution hinzuweisen …
Die Verbindung von LGBTIQ+ und französischer Revolution, die in der Eröffnungszeremonie von Paris geknüpft wurde, ist aber unhistorisch und propagandistisch: Der Anteil an Homosexuellen und Lesben an der Gesamtbevölkerung heute ist wohl um die 5 % und nicht 90 % wie jener der Leibeigenen im Ständestaat des 18. Jahrhunderts, und sie sind in der Wahl von Arbeit und Wohnort nicht eingeschränkt wie die Hörigen damals.13
Die Kombination aus Bildern aus Französischer Revolution und LGBTIQ+ beinhaltet eine ganz klare Botschaft an die Welt: Frankreich hat, zusammen mit anderen Europäern, ein neues Bewusstsein seiner Überlegenheit gefunden. Auf der Basis von LGBTIQ+ und «Toleranz» nimmt es sich das Recht heraus, alle anderen hierüber zu belehren. Das heutige Frankreich ist erneut bereit, Köpfe abzuschlagen und Blutbäder zu veranstalten. Das ist die Botschaft von Paris.
Militärisch unterstützte Belehrung?
Und so feiert das Sendungsbewusstsein der Europäer in neuen Kleidern wieder fröhliche Urständ – durchaus auch mit handfesten militärischen Folgen. Westliche Kriegsschiffe sind weltweit unterwegs, um die Freiheit der Seefahrt durchzusetzen und ein Uno-Seerechtsabkommen umzusetzen, welches die angebliche Führungsnation des Westens, die USA, selbst nicht einmal ratifiziert haben. Recht oder Unrecht? Macht!
Die Verbündeten Frankreichs und Mitgliedsländer der Nato verfügen über mehr als 40 % der weltweiten Wirtschaftsleistung und bestreiten mehr als 50 % der weltweiten Militärausgaben14. Dabei handelt es sich ausnahmslos um Länder, die seit 80 Jahren nicht mehr auf eigenem Territorium angegriffen wurden, die aber seit dem Zweiten Weltkrieg zahlreiche andere Länder auf deren eigenem Territorium angegriffen haben und auch noch die Frechheit besassen, dies als legitime Selbstverteidigung darzustellen. Die Nato als Ganzes oder einzelne ihrer Mitglieder haben kein Recht, andere Länder als Bedrohung ihrer Sicherheit zu deklarieren oder als Bedrohung des globalen Friedens. Sie haben auch gemäss der Helsinki-Schlussakte von 1975 kein Recht, ihre Sicherheit und ihre Bequemlichkeit auf Kosten jener zu verfolgen, auf deren Territorium sie Krieg führen.
Nach Reklamationen entschuldigte sich das Organisationskomitee der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris für die Verletzung religiöser Gefühle und die Kränkung bestimmter Personengruppen. Bedauern genügt nicht, wo Bescheidenheit angesagt wäre: Bescheidenheit durch Verzicht auf Vorrechte, die einem nicht zustehen, als Garantie für das Ausbleiben militärisch unterstützter Belehrungsversuche. •
1 Von allen Verbündeten der «Achse» hatte Ungarn den höchsten Blutzoll zu entrichten mit über 10 % seiner Bevölkerung, wobei die Mehrheit der getöteten Zivilpersonen Juden waren, welche schwergewichtig 1944 noch vor dem Ausscheiden Ungarns aus der Allianz deportiert wurden. Die Mehrheit der Todesopfer Deutschlands waren Soldaten von Wehrmacht und SS – etwa 80 % der gesamten Opfer. Im Falle Finnlands, Rumäniens und Bulgariens stellten Soldaten die überwiegende Mehrzahl – über 95 % – der Todesopfer.
2 Heute geht man allgemein davon aus, dass im Zweiten Weltkrieg etwa 1,2 Millionen deutsche Zivilpersonen ums Leben kamen, davon etwa 600000 durch die anglo-amerikanischen Bombenangriffe. Von den 210000 jüdischen Deutschen lebten bei Kriegsende noch etwa 15000 in Deutschland. Die überwiegende Mehrheit war vertrieben oder ermordet worden.
3 Polen verlor im Verlauf des Krieges über 17 % seiner Bevölkerung, davon etwa 3 Millionen Juden, und Jugoslawien über 10 %. Die Sowjetunion verlor etwa 14 % ihrer Bevölkerung.
4 Japan verlor etwa 5,2 % seiner Bevölkerung.
5 Die Niederlande verloren etwa 2,5 % ihrer Bevölkerung, Belgien 0,8 % und Frankreich 0,9 %. Gut die Hälfte der zivilen Opfer bestanden aus deportierten Juden.
6 Die Gründung des Völkerbunds war eine der 14 Punkte im Programm des US-Präsidenten Thomas Woodrow Wilson von 1918. Er sollte sowohl die internationale Kooperation fördern, in Konfliktfällen vermitteln, als auch die Einhaltung von Friedensverträgen überwachen. Zum ersten Mal traten die Delegierten am 15. November 1920 zusammen. Der Völkerbund existierte formal bis 1946.
7 Der Vertrag von Tordesillas wurde durch das spanische Kultusministerium digitalisiert und im Internet veröffentlicht. Siehe «Tratado de Tordesillas. Versión portuguesa», Original in portugiesischer Sprache, online unter https://pares.mcu.es/ParesBusquedas20/catalogo/description/121026?nm. Die Grenze zwischen den portugiesischen und den spanischen Hoheitsgebieten sollte auf einer Nord-Süd-Linie 370 Léguas (etwa 2282 Kilometer) westlich der Kapverdischen Inseln liegen. Das entspricht nach heute dem Meridian von 46°37′ westlicher Länge. Alle Inseln und Länder im Atlantik westlich dieser Linie sollten zum Hoheitsgebiet der spanischen, jene östlich davon der portugiesischen Krone gehören.
8 Die Magna Carta Libertatum vom 15. Juni 1215 verbriefte grundlegende politische Freiheiten des Adels gegenüber dem englischen König und schränkte dessen Willkür ein. Insbesondere der berühmte Artikel 39 (in späteren Fassungen Artikel 29) begründet das Prozessrecht, indem er festlegt, dass kein freier Mann ohne Gerichtsurteil ins Gefängnis geworfen werden dürfe. Sie ist immer noch Grundlage des Rule of Law, des angelsächsischen Verfassungsrechts. Der englische Text ist online veröffentlicht auf der Homepage der Yale Law School, The Avalon Project, Documents in Law, History and Diplomacy unter https://avalon.law.yale.edu/medieval/magframe.asp. Die Habeas Corpus Akte gewährt jedem Verhafteten das Recht auf Haftprüfung durch ein Gericht und damit Schutz vor willkürlichem Freiheitsentzug. Siehe «Habeas Corpus Act 1679», The National Archives, in englischer Sprache online unter https://www.legislation.gov.uk/aep/Cha2/31/2/data.pdf.
9 Kiplings Biographie und ein Überblick über seine Werke: «Rudyard Kipling, British writer» bei Encyclopædia Britannica, online unter https://www.britannica.com/biography/Rudyard-Kipling/Legacy
10 siehe Winfried Schulze. «Die Zahl der Opfer der Französischen Revolution», in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 59 (2008) 3, S. 140–152, Abstract bei Fachportal Pädagogik, online unter https://www.fachportal-paedagogik.de/literatur/vollanzeige.html?FId=2962185. Vgl. «Verhaftungen und Exekutionen in der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution von Juni 1793 bis Juli 1794», bei Statista, online unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1087169/umfrage/verhaftungen-und-exekutionen-in-der-terrorherrschaft-der-franzoesischen-revolution/.
11 siehe Silvia Dethlefs. «Marie Antoinette, Erzherzogin von Österreich», in: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 16, Berlin 1990, online unterm https://www.deutsche-biographie.de/gnd118577905.html#ndbcontent. Zu ihrem Sohn Louis Charles siehe «Genforscher: Ludwig XVII. starb in Festungshaft», in: Der Tagesspiegel vom 19.4.2000, online unter https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/genforscher-ludwig-xvii-starb-in-festungshaft-672124.html und Laurent Dandrieu. «Les morts mystérieuses : 6. Louis XVII ou l’indicible martyre», in: Valeurs actuelles vom 18.8.2010, online unter https://www.valeursactuelles.com/histoire/les-morts-mysterieuses-6-louis-xvii-ou-lindicible-martyre, in französischer Sprache
12 siehe «Epoche des Wandels: die Schweiz zwischen 1798 und 1848», auf der Homepage des Schweizerischen Bundesarchivs, online unter https://www.bar.admin.ch/bar/de/home/recherche/recherchetipps/themen/die-moderne-schweiz/epoche-des-wandels–die-schweiz-zwischen-1798-und-1848.html und Andreas Fankhauser. «Mediationsakte», in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 8.12.2009, online unter https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009808/2009-12-08/
13 siehe L. Graefe. «Sexuelle Identifikation in ausgewählten Ländern 2023», bei Statista vom 20.6.2024, online unter https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1414281/umfrage/sexuelle-identifikation-in-ausgewaehlten-laendern/
14 siehe «SIPRI-Bericht; Weltweite Militärausgaben auf Allzeithoch», bei ZDF Heute vom 22.4.2024, online unter https://amp.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/sipri-militaerausgaben-waffen-100.html
* Ralph Bosshard studierte Allgemeine Geschichte, osteuropäische Geschichte und Militärgeschichte, absolvierte die Militärische Führungsschule der ETH Zürich sowie die Generalstabsausbildung der Schweizer Armee. Im Anschluss daran folgte eine Sprachausbildung in Russisch an der Staatlichen Universität Moskau sowie eine Ausbildung an der Militärakademie des Generalstabs der russischen Armee. Mit der Lage in Osteuropa und Zentralasien ist er aus seiner sechsjährigen Tätigkeit bei der OSZE vertraut, in der er unter anderem als Sonderberater des Ständigen Vertreters der Schweiz tätig war.
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