Volksdiplomatie und die Bedeutung von Städtepartnerschaften in einer modernen Welt

von Juri Starovatych, Russland*

Liebe Freunde, ich grüsse Sie aus dem ehemaligen Stalingrad!
  Lassen Sie mich zunächst den Organisatoren dieses Forums danken, die seit vielen Jahren die Grundsätze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit auf der internationalen Bühne verteidigen. Ich möchte auch allen, die heute hier anwesend sind, dafür danken, dass Ihr Verstand Sie nicht verlassen hat und Sie hier sind!
  Ich bin sicher, dass wir alle, die wir in dieser für die Welt schwierigen Zeit hier versammelt sind, Vertreter verschiedener Länder und Konfessionen und vor allem diejenigen, die die Schrecken des Krieges erlebt haben, unsere Beteiligung und Verantwortung für das Schicksal der Welt spüren.

«1945 war jedem klar, dass die Hegemonie
eines einzigen Landes unmöglich war»

Als Hitlers Regime, das auf den wahnsinnigen Ideen des Nationalsozialismus und des Militarismus beruhte, 1945 fiel, war jedem klar, dass die Hegemonie eines einzigen Landes und einer einzigen Ideologie in der Welt unmöglich war. Leider müssen wir 80 Jahre später feststellen, dass die Lehren der Geschichte nicht gelernt wurden. Doch die Geschichte lehrt uns, dass ein Krieg bekämpft werden muss, bevor er beginnt.
  Heute ist die Situation so, dass es in der modernen Welt einen gemeinsamen Feind gibt – und das ist eine reale Kriegsgefahr. Die Menschen spüren, dass die Gefahr eines Krieges in einem unvorstellbaren Ausmass jeden Tag grösser wird.
  Leider ist die Tendenz, das Kräfteverhältnis auf der internationalen Bühne zugunsten des Friedens, der Vernunft und des guten Willens zu verändern, mit einem bösen Virus infiziert worden. Die Menschheit ist der endlosen Abfolge von «Tauwetter», Farbrevolutionen und lang anhaltenden Kälteperioden, militärischen Konflikten wie in Jugoslawien, Irak, Iran, Afghanistan und anderen Ländern überdrüssig, und der gesunde Menschenverstand sowie der natürliche Trieb zur Selbsterhaltung weigern sich, die Logik des Selbstmords zu verstehen.

«Zeit, die Kräfte des gesunden
 Menschenverstandes zu bündeln»

Ich bin sicher, dass es an der Zeit ist, die Kräfte des gesunden Menschenverstandes zu bündeln, unsere Bemühungen zu intensivieren und nochmals zu intensivieren!
  Und hier möchte ich Sie alle in das Jahr 1985 zurückversetzen: Auf Einladung von Willy Brandt schickte das sowjetische Komitee zur Verteidigung des Friedens eine Delegation, die ich leiten durfte, zu den Antikriegsveranstaltungen nach Nürnberg.
  Willy Brandt, ein Nobelpreisträger, der sich nach eigenen Worten nicht scheute, gegen den Strom zu schwimmen, organisierte 40 Jahre nach Kriegsende das West-Ost-Forum in Nürnberg (wo der berühmte Prozess gegen den Faschismus stattfand), und dies war eine neue Phase der Beziehungen. Die Führer der vom Krieg am stärksten betroffenen Städte waren dort vertreten: Warschau, Oradour, Dresden, Köln, Rotterdam, Coventry, Stalingrad, Leningrad, Minsk. Dieses Forum wurde «Nürnberger Friedensgespräch» genannt. Willy Brandt sagte damals: «Wir erkennen an, dass wir eine Verantwortung haben, und wir tun dies, damit der Frieden und die Freiheit der sozialen Gerechtigkeit gedeihen können.» Dies war ein Mann mit hohem Bürgersinn.

Städtepartnerschaften

Wir haben auch mit Norbert Burger, dem Oberbürgermeister von Köln, der leider nicht mehr lebt, gesprochen, mit dem wir 1988 eine Vereinbarung über unsere Städtepartnerschaft unterzeichnet haben, die immer noch lebendig und ziemlich effektiv ist – die Gesellschaften «Wolgograd – Köln» und «Köln – Wolgograd» sind immer noch aktiv. Und das Fazit unserer Gespräche war, dass wir auch in Zukunft immer wieder Gelegenheiten suchen müssen, miteinander zu sprechen, uns zu treffen und gemeinsam zu handeln, immer wieder. Krieg ist schrecklich und absurd, und die Folgen einer nuklearen Katastrophe sind unvorstellbar. Die heute auf der Erde angehäuften Atomwaffen reichen aus, um die Menschheit vollständig zu vernichten, und es ist ganz klar, dass jeder Atomkrieg, sollte er ausgelöst werden, eine Weltkrise bedeuten und mit der totalen Auslöschung der Menschheit enden wird. Es wird uns Menschen nicht mehr geben, jung und alt, die wir unsere Nächsten lieben und von ihnen geliebt werden. Dies ist noch eine Theorie, und wir werden für das Recht zu leben kämpfen!

Die Rolle der USA

Heute sind die Vereinigten Staaten von Amerika der Anwärter auf die Weltherrschaft. Dieser Staat und seine Satelliten sind fest entschlossen, die Hegemonie zu übernehmen – militärisch, politisch, wirtschaftlich, kulturell und sogar moralisch. Sie zwingen der Welt künstliche geopolitische Konstruktionen auf, ihr pervertiertes Verständnis von «richtigen» und «falschen» Werten ersetzen das Völkerrecht durch eine bestimmte «Ordnung», die auf von ihnen erfundenen «Regeln» beruht. Sie handeln nach dem Prinzip: «Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.»
  Was soll man von den Worten des US-Aussenministers Anthony Blinken halten, der im Februar dieses Jahres in München sagte, die Welt sei gespalten in diejenigen, die «am demokratischen Tisch» sitzen, und diejenigen, die auf ihrem «Speiseplan» stehen? Erinnert uns das nicht an die Politik der Kolonialreiche vergangener Jahrhunderte?
  Aber jeder vernünftige Mensch erkennt, dass die heutige Welt zu komplex und vielfältig ist, um sie vollständig einer Idee oder einem Regime unterzuordnen. Ausserdem entstehen heute in Asien, Afrika und Lateinamerika neue Einflusszentren auf dem Planeten. Die internationalen Beziehungen befinden sich in einem globalen Wandel. Unter diesen Bedingungen ist eine unipolare amerikanische Welt einfach unmöglich. Es ist notwendig, eine multipolare Zusammenarbeit zu entwickeln. Und dies wird durch die Gründung der BRICS bestätigt.

Multipolare Zusammenarbeit …

Ein weiteres hervorragendes Beispiel für eine solche multipolare Zusammenarbeit ist die internationale Bewegung der Partnerstädte, deren Ursprung vor 80 Jahren die sowjetische Stadt Stalingrad und die britische Stadt Coventry waren. Im Juni 1944 erklärten sich die beiden Städte, die unter schweren Bombenangriffen gelitten und gemeinsam gegen Nazi-Deutschland gekämpft hatten, gegenseitig zu Partnerstädten. Dieses Ereignis, das auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs stattfand, wurde zu einem Symbol der Einheit, Solidarität und gegenseitigen Unterstützung im Kampf gegen den Faschismus.
  Das wichtigste Moment bei der Gründung der ersten Städtepartnerschaften der Welt war die Tatsache, dass sie nicht durch einen Verwaltungsakt zustande kam, sondern aus dem gegenseitigen Bestreben der Bürger resultierte, die ihren gemeinsamen Beitrag zum Kampf für das Leben und dessen gemeinsamen Sieg leisteten. Es war echte Volksdiplomatie.
  Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten dem Beispiel von Stalingrad (1961 in Wolgograd umbenannt) und Coventry weitere Städte. Tausende von Städten auf der ganzen Welt haben ihre Beziehungen zueinander gefestigt und die internationale Städtepartnerschaftsbewegung gegründet, die in den acht Jahrzehnten ihres Bestehens zu einem wichtigen Akteur in den internationalen Beziehungen geworden ist.

… und Volksdiplomatie

Derzeit hat Wolgograd 44 Partnerstädte – aus 21 Ländern der Welt. Die Beziehungen zu ihnen werden in verschiedenen Bereichen gepflegt. Aus aktuellem Anlass, bis Europa zur Besinnung kommt, liegt der Schwerpunkt natürlich auf dem Osten.
  Erst kürzlich, im Juli 2024, nahm das Kollektiv des Kinderchoreographie-Ensembles «Volzhanochka» am Internationalen Jugendmusikfestival der Partnerstädte teil, das in Chengdu, China, stattfand. Junge Künstler aus China wiederum nehmen jedes Jahr aktiv an kreativen Wettbewerben teil, die von der Wolgograder Regionalen Kinderkunstgalerie organisiert werden. Es gibt auch gemeinsame Projekte mit der türkischen Partnerstadt Izmir und mit vielen anderen unserer Freunde in aller Welt. Es ist erfreulich, dass ein grosser Teil dieser Aktivitäten von jungen Menschen durchgeführt wird, die sich ihre Zukunft erst noch aufbauen müssen. Dieses Zusammenwirken durch die Diplomatie von Mensch zu Mensch ermöglicht es uns, die Beziehungen zwischen der Stadt und ihren Bewohnern in der Welt zu entwickeln und die internationale Freundschaft zu stärken.
  In den vergangenen zwei Jahren habe ich mich in der Friedensstiftung der Region Wolgograd mit Einwohnern Deutschlands und der Tschechischen Republik getroffen, Mitgliedern zivilgesellschaftlicher Organisationen, die davon überzeugt sind, dass das wahre Russland nicht so ist, wie es in den westlichen Medien dargestellt wird. Sie betrachten die sowjetischen Soldaten, die Europa vor 80 Jahren vom Faschismus befreit haben, nicht als «Invasoren». Und sie glauben den Argumenten der heutigen europäischen Politiker nicht, dass Russland in die Nachbarländer eindringen wolle. Es sind Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Berufe und unterschiedlicher sozialer Stellung, die davon überzeugt sind, dass Freundschaft zwischen Völkern und Staaten und nicht Konflikt die Grundlage sein sollte, auf der internationale Beziehungen aufgebaut werden sollten.
  Nur zwei Jahre vor Beginn der von Russland durchgeführten militärischen Sonderoperation plante die Friedensstiftung Region Wolgograd gemeinsam mit dem Bundesverband der Deutschen West-Ost-Gesellschaften und dem Deutsch-Russischen Forum eine Jugendkonferenz in Berlin abzuhalten und anschliessend mit einem speziellen Gedenkzug von Berlin über Warschau, Brest, Minsk, Smolensk und Moskau Gedenkstätten zu besuchen, um die Aufmerksamkeit der erwachsenen und jungen Generation Europas und Russlands auf den Kampf für den Frieden zu lenken. Doch die bekannten Ereignisse liessen die Verwirklichung des Plans nicht zu.

«Der Frieden in Europa ist ohne
 die Beteiligung Russlands unmöglich»

Und so erhielt ich am 30. Juli 2024 die Kopie eines offenen Briefes eines Aktivisten der deutschen Partei Die Linke, Mitglied des Arbeitskreises Deutsch-Russische Freundschaft Sachsen, an die deutsche Regierung und den Präsidenten der Russischen Föderation. Hier sind Auszüge aus dem Brief: «Die sowjetischen Truppen und ihre Verbündeten haben Deutschland und ganz Europa vom Faschismus befreit. Unser Dank an die Befreiungshelden lässt sich nicht in Worte fassen!» «Wir fordern, dass unsere Regierung die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellt, diplomatische Initiativen ergreift, um diesen Krieg zu beenden, und aufhört, Russland zu dämonisieren.» «Die Begründung für die Lieferung von Angriffswaffen an die Ukraine war die Anschuldigung, dass der russische Staat die Ukraine am 24. Februar 2022 als erster angegriffen und damit einen Krieg gegen die Ukraine begonnen habe. Wir wissen, dass dies nicht wahr ist! Die USA haben den Ukraine-Krieg mit einem blutigen Putsch auf ukrainischem Territorium im Jahr 2014 begonnen, mit indirekter Unterstützung anderer führender Nato-Staaten. Dieser Krieg schloss Russlands Militäroperation in der Ukraine ein.» «Der Frieden in Europa ist ohne die Beteiligung Russlands unmöglich.»
  Die Volksdiplomatie birgt ein grosses Potential sowohl für die Verbesserung des globalen internationalen Umfelds als Ganzes als auch für die Stärkung der Freundschaft und des gegenseitigen Verständnisses zwischen Menschen in verschiedenen Ländern. Und solange es Menschen gibt, die diesen Weg der Entwicklung anstelle von Feindschaft wählen, hat die Menschheit Hoffnung auf eine gute Zukunft.
  Die Welt braucht Frieden!  •

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Juri Fjodorowitsch Starovatych, geboren 1937 in Stalingrad (heute Wolgograd), war von 1986 bis 1990 Oberbürgermeister von Wolgograd. Er ist Bauingenieur und hat u.a. das Panorama-Museum «Die Stalingrader Schlacht» in Wolgograd mitgebaut sowie die U-Bahn und mehrere Objekte im sozialen Bereich. Er war Vize-Präsident der internationalen Organisation «Mayors for Peace», Mitglied des Exekutivbüros zahlreicher internationaler Organisationen wie «The International Association of Peace Messenger Cities», der Föderation der Partnerstädte u. a. Bis heute engagiert er sich für Städtepartnerschaften von Wolgograd in der ganzen Welt. In seiner Amtszeit wurden 40 Städtepartnerschaften begründet. Juri Starovatych ist Vorsitzender der regionalen Zweigstelle der «Russischen Friedensstiftung» in Wolgograd, Ehrenbürger der Heldenstadt Wolgograd, Ehrenbürger von Hiroshima und Träger der Ehrenmedaille «Für die Festigung des Friedens und der Verständigung zwischen den Völkern».

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