von Patrick Lawrence*
Im Frühjahr 1983 begann der verstorbene und sehr vermisste John Pilger mit der Ausstrahlung einer Interviewreihe namens «The Outsiders» im britischen Fernsehen. Johns Themen waren breit gefächert. Costa-Gavras, Jessica Mitford, Seán MacBride, der irische Politiker und Nobelpreisträger von 1974, Helen Suzman, die südafrikanische Anti-Apartheid-Aktivistin: John wählte «Menschen, die ihr Leben ausserhalb des Systems gelebt haben», wie es der Slogan von Channel 4 ausdrückte.
Meine persönlichen Favoriten unter Johns Interviewpartnern, diejenigen, die mir am meisten bedeuten, waren Wilfred Burchett und Martha Gellhorn, zwei der aussergewöhnlichsten Auslandskorrespondenten des 20. Jahrhunderts. «Er war der einzige westliche Journalist, der konsequent von der anderen Seite, der ‹falschen Seite›, berichtet hat», sagte John, als er den Beitrag über Burchett einleitete. Über Gellhorn sagte John folgendes:
«Martha Gellhorn, die nie eine Marionette für die Obrigkeit war, die immer aus der Sicht der Kriegsopfer geschrieben hat, hat mehr als die meisten anderen die Wahrheit gesagt, und schon deshalb ist sie eine hervorragende Aussenseiterin.»
Jetzt werde ich nach Johns Videokamera greifen und sie direkt auf ihn zurückdrehen. John war unter seinesgleichen, als er «The Outsiders» drehte. Wenn es in seiner langen und abwechslungsreichen Karriere auch vieles gab, was ihn auszeichnete, so war es doch John Pilgers Stellung als Aussenseiter, die sein Werk am stärksten prägte. Hätte er nicht verstanden, wie wichtig es war und ist, sich so zu positionieren, hätte er die Serie nicht gemacht.
John starb am 30. Dezember im Alter von 84 Jahren in London, nachdem er einige Zeit mit Lungenfibrose gekämpft hatte. Es traf mich besonders hart, als mich die Nachricht, dass wir ihn verloren hatten, einige Stunden später erreichte: Ich hatte an diesem Morgen gedacht: «Ich muss John anrufen, um ihm ein gutes neues Jahr zu wünschen.» Es ist immer noch bitterer, die Einsamkeit noch stechender, wenn solche Gelegenheiten verpasst werden.
Meine Gedanken gingen an diesem Nachmittag schnell zu etwas, das I.F. Stone bei verschiedenen Gelegenheiten sagte: Alle wahren Journalisten sind Aussenseiter, pflegte der grosse Izzy zu sagen, und jede Generation bringt nur wenige von ihnen hervor.
John war einer der wenigen seiner Zeit.
Als John in den späten 1950er Jahren auftauchte, waren unabhängige Medien wie Consortium News noch nicht so weit entwickelt wie heute. Man lernte von innen heraus, wie man als Aussenseiter überleben konnte. John, der 1939 in New South Wales geboren wurde, einen Monat nach Beginn des Zweiten Weltkriegs, begann mit 19 Jahren in der unbekanntesten aller beruflichen Positionen: Er war Redakteur bei einer inzwischen längst verschwundenen Sydneyer Boulevardzeitung namens «The Sun». 1962 ging er nach London, wo er eine Zeit lang bei Reuters am Schreibtisch für den Nahen Osten arbeitete. Ein Jahr später stellte ihn der «Daily Mirror» ein, und Johns Stern begann zu steigen.
Er stieg und stieg. Als Korrespondent berichtete er u.a. über die Kriege in Vietnam, Kambodscha und Biafra. Unter seinen zahlreichen Auszeichnungen wurde er 1967 zum Journalisten des Jahres, 1970 zum internationalen Reporter des Jahres, vier Jahre später zum Nachrichtenreporter des Jahres und 1979 erneut zum Journalisten des Jahres gewählt. So war es bei John: Seine besondere Gabe war immer offensichtlich.
Mitte der 1970er Jahre nahmen das Fernsehen und Dokumentarfilme einen immer grösseren Teil der Arbeit ein. «Year Zero: The Silent Death of Cambodia» (1979), «Death of a Nation: The Timor Conspiracy» (1994), «Palestine Is Still the Issue» (2002), «The Coming War with China» (2016): Diese Filme gehören zu den herausragenden Werken von John. Der letzte war seine 60. Dokumentation für das britische Fernsehen. Sechzig: Die Energie des Mannes und seine Hingabe an sein Handwerk waren enorm.
Bleibende Treue zu
Berufsethik und Idealen
Hier und da, in der Presse und in verschiedenen Gesprächen, pflegte John zu bemerken, dass es in der Konzernpresse einmal einige wenige Orte gab, an denen Reporter und Korrespondenten ihren Idealen, ihrer Berufsethik und den Standards, die Journalisten in ihrer Arbeit widerspiegeln sollten, treu bleiben konnten. Johns Karriere hat das bewiesen.
Aber diese Orte schrumpften und verschwanden dann, fügte John immer hinzu. Er schien zu glauben, dass dies eine Folge des Endes des Kalten Krieges war, wenn ich seine Ansicht richtig verstehe. Mein Datum für den jähen Niedergang unseres Berufsstandes war 2001, aber das macht nichts: Wir teilten auch den Gedanken, dass es keine konzerneigene Presse mehr gibt, in der man noch ehrliche Arbeit leisten könnte – weder in England noch in Amerika noch in Australien – und je nachdem, wie sich die Dinge in den kommenden Jahren entwickeln, werden wir vielleicht nie wieder eine solche Presse kennen.
Ich beschreibe den Weg, der John und mich, individuell, zu unabhängigen Medien geführt hat. Und seither habe ich John als Beweis für eine Wahrheit angesehen, die ich für grundlegend halte. Im Guten wie im Schlechten und bis auf weiteres sind die besten unabhängigen Journalisten diejenigen, die zwar in den Methoden der traditionellen Medien ausgebildet wurden – aber sicher nicht in der Ideologie und all den Kompromissen mit der Macht.
Ich kannte John Pilger lange, bevor ich ihn persönlich kannte. Er kam 1982 für den «Daily Mirror» nach Asien, um über Kindesmissbrauch und Kinderhandel in Thailand zu berichten, beides seit langem traurige Tatsachen. Zu dieser Zeit leitete ich das Singapur-Büro der Far Eastern Economic Review und war auf dem besten Weg, wegen meiner Berichterstattung des Landes verwiesen zu werden.
Johns Artikel für den «Mirror» erzählte die Geschichte der 8jährigen Sunee, die John für 85 Pfund kaufte und ihrer Mutter zurückgab. Der Artikel wurde weltweit aufgegriffen. Dann stellte sich heraus, dass Sunee und ihre Mutter von Pilgers thailändischem Mittelsmann dafür bezahlt worden waren, eine völlig frei erfundene Geschichte zu erzählen, um auf Seite 1 zu erscheinen. John vermutete, wie er noch im letzten Sommer in einem Telefongespräch erklärte, dass es sich um einen geheimdienstlichen Auftrag handelte, der ihn in Misskredit bringen sollte. Ich selbst neige dazu, allein auf Grund der idiotischen Dinge, zu denen Menschen in dem Beruf, den John und ich gemeinsam ausübten, fähig sind, anzunehmen, dass ein lokaler Mittelsmann eine sensationelle Geschichte ausheckte, um seinen europäischen Arbeitgebern zu gefallen.
Ich erwähne diesen Vorfall, weil er in den Akten steht und angesprochen werden sollte. Wichtig sind hier zwei Punkte. Erstens: John wurde zwar hereingelegt, aber er war nicht derjenige, der die Sache in die Wege geleitet hat, mit anderen Worten, er war nicht der Auftraggeber. Zweitens ist sein beruflicher Ruf unversehrt geblieben, wie es auch sein sollte, und wir können den Vorfall in Thailand als ein Missgeschick und nichts weiter bezeichnen. Seine Arbeiten nach Thailand gehören zu seinen besten. Ein Jahr später drehte er «The Outsiders», eine grossartige Interviewserie für Channel 4.
Freundschaft
Wie angenehm überraschend war es, als mir John Jahrzehnte später während der Arbeit an «The Coming War with China» schrieb, um mich zu fragen, ob ich ihm helfen könnte, sich in den vielseitigen maritimen Ansprüchen im Südchinesischen Meer zurechtzufinden, einer komplexen Frage, die mehrere amerikanische Regierungen so verzerrt haben, dass sie China als den neo-imperialen Bösewicht Ostasiens darstellten. In der Folgezeit wurden wir Freunde – im Netz. Zwei Jahre später, als ich meine aussenpolitische Kolumne zu Consortium News verlegte, war John Mitglied des Vorstands. Als ich weitere Jahre später begann, The Floutist auf Substack zu veröffentlichen, war John grosszügig und schickte uns Beiträge, die wir gerne veröffentlichen durften. Das haben wir immer getan, und sie waren immer ausgezeichnet.
Vielleicht gibt es nichts, was sein Verständnis für die Bedeutung unabhängiger Medien und seine Menschlichkeit besser widerspiegelt, als seine Unterstützung für Julian Assange. Als Assange 2010 in London verhaftet wurde, war er einer derjenigen, die eine Kaution hinterlegt haben. Als Assange Jahre später aus der ecuadorianischen Botschaft abgezogen und in das Belmarsh-Gefängnis verlegt wurde, war John ein treuer Besucher, immer mitfühlend, immer unterstützend. Ihre Freundschaft dauerte schliesslich bis zu Johns Tod.
«Journalismus ist einfach der Akt, die Dinge ins rechte Licht zu rücken.» So zitierte John Martha Gellhorn in der Einleitung zu seinem Interview mit ihr von 1983. Das ist es, wofür John stand, wie ich ihn seit langem in Erinnerung habe. Es geht um kompromisslose Professionalität und um ein Verständnis von Journalismus als unabhängigem Machtpol – beides ist heute nicht mehr im Überfluss vorhanden.
Grundpfeiler
Es gibt noch einen weiteren Punkt, der hier erwähnt werden sollte. Alle Korrespondenten bringen ihre politische Haltung mit – eine natürliche Sache, eine gute Sache, eine Bestätigung ihres engagierten, staatsbürgerlichen Selbst, die keineswegs zu bedauern ist. Die Aufgabe besteht darin, die eigene Politik im Einklang mit der beruflichen Verantwortung zu managen, mit dem einzigartigen Platz, den Korrespondenten im öffentlichen Raum einnehmen. John verstand dies so gut oder besser als jeder von uns. Es war der Grundpfeiler, der allem, was er tat, Gewicht verlieh.
Im vergangenen Mai lud ich John im Namen einer Verlagsgenossenschaft in der Schweiz ein, auf einer Konferenz am Ende des Sommers eine Reihe von Vorträgen zu halten. Er schrieb mir zurück, dass er gerne dabei wäre, aber dass es ihm nicht gut ginge und er Anfang September wahrscheinlich nicht in der Lage sei zu reisen. Da John ein zurückhaltender, etwas verschlossener Mann ist, kannte ich damals die Art seiner Erkrankung nicht und hielt es nicht für angemessen, ihn zu fragen. Aber in diesem Moment verstand ich, dass er einen ernsten Kampf führte.
Am Silvesterabend rief ich Eva-Maria Föllmer-Müller an, die die Schweizer Vortragsreihe mitbetreut, um ihr die Nachricht von Johns Tod mitzuteilen. Sie wusste es bereits. «Er schrieb mit einem sehr klaren Verstand», sagte sie ohne zu zögern. «Aber er schrieb auch mit viel Gefühl, aus dem Herzen heraus.» Ich kann diese Wertung dessen, was John Pilger getan hat, nicht besser ausdrücken.
George Burchett, einer von Wilfreds Söhnen, der jetzt in Hanoi lebt und malt, wo er geboren wurde, war ein Freund von John (wie auch von mir). Er schrieb am Neujahrstag eine kurze Würdigung und schickte sie über das People’s Information Bureau, seinen privat verbreiteten Newsletter, weiter. George schrieb, und ich teile dies mit den Lesern, so wie er es mit mir geteilt hat:
«Ich erinnere mich, dass ich John vor einigen Jahren in einem Moment der Verzweiflung in einer E-Mail gefragt habe:
‹Und was sollen wir tun?›
Er schickte eine E-Mail zurück:
‹George, wir machen weiter, was wir machen.›
Das ist ein guter Rat, vor allem in Augen-blicken der Finsternis.
Ich danke dir, John!
Für alles.» •
Erstveröffentlichung consortiumnews.com vom 8.1.2024
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Patrick Lawrence, langjähriger Auslandskorrespondent, vor allem für die «International Herald Tribune», ist Kolumnist, Essayist, Autor und Dozent. Sein vorletztes Buch ist «Time No Longer: Americans After the American Century», Yale 2013. Im Juli 2023 ist sein neues Buch «Journalists and Their Shadows» bei Clarity Press erschienen. Seine Webseite lautet patricklawrence.us. Unterstützen Sie seine Arbeit über patreon.com/thefloutist.
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