Willkommen in der Realität! Nach einer Woche voller Trara, in der sich die Spitze der Schweizer und internationalen Wirtschaft, Politik und Medien auf den Bauch geklopft und ihre Verdienste und Erfolge bei der «Verbesserung des Zustands der Welt» angepriesen hat, hat das Davoser Forum seine Tore wieder geschlossen. Die Rückkehr auf den Boden der Tatsachen wird hart sein.
Anfang Oktober hatte ich versucht aufzuzeigen, dass der Westen nicht nur die Niederlage der ukrainischen Gegenoffensive verkraften, sondern sich auch der moralischen Niederlage stellen muss, zu der ihn seine anhaltende Politik der Doppelmoral – Wasser zu predigen und Wein zu trinken – geführt hat.
Inzwischen haben die Ereignisse in Gaza diese moralische Niederlage in eine strategische Niederlage verwandelt.
Das Drama von uns Westlern – um Abraham Lincoln zu paraphrasieren – besteht darin, dass wir uns selbst die ganze Zeit belügen und den Rest der Welt einen Teil der Zeit täuschen können, aber wir können nicht mehr alle Menschen die ganze Zeit täuschen. Nun aber kommt die Zeit, da wir die Rechnung bezahlen müssen. Zu dieser eindeutigen Feststellung gelangt auf einem anderen Weg Emmanuel Todd in seinem neuesten Buch («La défaite de l’Occident», Gallimard). Er stützt sich mit seiner gewohnten Brillanz auf statistische Daten, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen und eine Strenge der Argumentation, die schwer zu bestreiten sind. Wir werden darauf zurückkommen.
Wenn der Nebel des Krieges, die Wirksamkeit der Zensur und die Intensität der Propaganda in der Ukraine den Eindruck erwecken konnten, die gesamte Verantwortung für diesen Konflikt liege bei «Putin-dem-Dämon», so werden die Invasion des Gazastreifens und die anschliessenden Kriegsverbrechen der israelischen Armee, falls nötig, die Augen der blindesten Menschen geöffnet haben. Die ganze Welt war zu Recht schockiert über die Greueltaten der Hamas am 7. Oktober, doch nun ist sie – mit Ausnahme des Westens – fassungslos über die krankhafte Wut und Akribie, die die israelischen Invasoren in den letzten drei Monaten an den Tag gelegt haben. Auf die berechtigte Empörung über die Verbrechen der Hamas folgt nun die nicht minder berechtigte Empörung über die Übergriffe der IDF auf die palästinensische Zivilbevölkerung.
Selbst das Gesetz der Vergeltung – Auge um Auge, Zahn um Zahn – wurde vom jüdischen Staat, wie er sich ganz offiziell selbst nennt, nicht eingehalten, obwohl das Judentum sich doch darauf beruft: Bei 20 zu 1 (23 000 getötete Palästinenser gegenüber 1100 israelischen Opfern) wurden alle Grenzen des Kodex überschritten. Tausende von Juden in Israel und in der ganzen Welt sind darob alarmiert.
Der israelische Staat erscheint der Mehrheit der Welt als das, was er ist – ein unterdrückerischer, annexionistischer, neokolonialer Staat, der offen Apartheid und ethnische Säuberungen praktiziert, wie westliche Menschenrechtsaktivisten (Human Rights Watch, 2021) und der Internationale Gerichtshof bereits 2004 festgestellt haben.
Für Nicht-Westler ist Israel nicht die isolierte Insel der Demokratie inmitten eines Ozeans von Diktaturen, als die es gerne dargestellt wird. Südafrika, dessen Nelson Mandela sagte, dass die Welt die Apartheid nicht loswerden würde, solange sie in Palästina fortbestehe, hat sich nicht getäuscht. Es hat beim Internationalen Gerichtshof IGH gegen Israel Klage eingereicht wegen versuchten Völkermordes; das Gremium wird von der Amerikanerin Joan Donaghue geleitet, gilt aber als unparteiischer als der politisierte Internationale Strafgerichtshof, der seit seiner Gründung im Jahr 2002 unter angelsächsischem Einfluss steht.
Wir warten auf sein Urteil.
Wie dem auch sei, der moralische Schaden und der Imageschaden haben einen Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Die westlichen Länder sind auf frischer Tat beim Messen mit zweierlei Mass ertappt worden. Sie haben über die Ukraine gegen Russland Krieg geführt, weil es Provinzen seines Nachbarn annektiert und dort einmarschiert ist, aber sie akzeptieren ohne zu murren, dass ihr israelischer Schützling seit 50 Jahren auf den Golanhöhen und im Westjordanland dasselbe tut und dabei munter gegen das Völkerrecht verstösst.
Was Israel und die jüdische Welt betrifft, so sind beide dabei, die Legitimität und den Respekt zu verlieren, die ihnen der Holocaust und Jahrhunderte der Verfolgung in Europa eingebracht haben. Wie kann ein Volk, das so viel durchgemacht hat, ein derart unmenschliches Verhalten gegenüber unschuldigen Kindern und Zivilisten an den Tag legen? Wenn das Gedenken an den Holocaust nicht mehr die selbstlose Erinnerung an das Verbrechen der Verbrechen ist, sondern ein Propagandainstrument, das dazu dient, einen ausrottenden Zionismus zu rechtfertigen, wenn der Kampf gegen den Antisemitismus nicht mehr der gerechte und notwendige Kampf gegen den antijüdischen Rassismus ist, sondern ein Instrument, das dazu dient, einen räuberischen Staat zu legitimieren, der von einer korrupten Führung geführt wird, dann wird es sehr schwierig, diese Anliegen zu unterstützen.
Genau dies geschieht jedoch gerade.
Zum ersten Mal in der Geschichte kann die Weltöffentlichkeit zwei Kriege live miterleben, die die gleichen Ursachen haben – existenzielle Sicherheitsbedenken vor dem Hintergrund tödlicher Angriffe, Annexionen und opportunistischer Gebietsbesetzungen – und die gleichen aggressiven und tödlichen Verhaltensweisen hervorbringen, aber vom Westen und den Davoser Kreisen radikal unterschiedlich aufgenommen werden. In einem Fall wird der rote Teppich für den schuldigen Staatschef ausgerollt, im anderen Fall wird er jedoch verbannt und wegen Kriegsverbrechen angeklagt.
Diese doppelzüngige Haltung wird ausserhalb der westlichen Grenzen nicht mehr toleriert. Wie das Massaker von Katyn für die Polen, das von Oradour für die Franzosen oder die von Churchill 1943 in Bengalen verursachte Hungersnot für die Inder, werden die Bilder des zerbombten Gaza die arabische Welt jahrzehntelang verfolgen und den Kampf gegen den Antisemitismus überall auf der Welt schwächen, auch bei uns.
Der Preis, den wir zahlen müssen, wird daher sowohl für Israel als auch für den Westen hoch sein. Wir werden die Schlacht um die Tunnel gewonnen, aber den Krieg um die Herzen und das Recht verloren haben. In den Augen des Rests der Welt werden wir auf die falsche Seite der Geschichte gewechselt haben. In dieser Hinsicht ist der Umschwung Indiens faszinierend. Am Tag nach dem Angriff vom 7. Oktober hatte sich das Land auf die Seite Israels gestellt, sowohl aus antiislamistischen Gründen als auch aus Sorge um die Wahrung seiner guten Beziehungen zu den USA. Dann hat Delhi, im Rahmen eines bei uns nicht wahrgenommenen Besuches von Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar in Moskau Ende Dezember, unvermittelt einen Rückzieher gemacht und distanzierte sich von Tel Aviv und Washington, bestätigte seine strategische Freundschaft mit Russland und kehrte zu seiner blockfreien Haltung zurück. In Südafrika gingen Anfang Januar Hunderttausende von Südafrikanern auf die Straße, um gegen das Massaker an den Palästinensern zu protestieren. In den USA sind es die jungen Leute, die Biden massenhaft als Völkermörder anprangern.
Diese Beispiele zeigen einmal mehr, dass die Europäer und die USA nicht mehr in der Lage sind, ihr Narrativ durchzusetzen, und dass dieses Narrativ von den Ländern des Südens und des Ostens, die sich nun ihrer eigenen Medien und einer eigenständigen Sicht der Weltordnung erfreuen, heftig herausgefordert wird. In ihrer Vorstellung werden diese beiden Konflikte, die jahrzehntelang durch die bedingungslose Unterstützung der Ukraine und Israels angeheizt wurden, als Mittel gesehen, um die Entstehung einer gerechteren und faireren Weltordnung zu verzögern. Das ist eine radikale Neuerung.
Natürlich ist das letzte Wort des Westens noch nicht gesprochen. Er könnte die Entwicklung umkehren und seine Führungsrolle durch den Wiederaufbau des Friedens wiederherstellen. Er müsste nur auf Kooperation statt auf Konfrontation und auf die Anerkennung des Anderen statt auf seine Vernichtung setzen. Nichts hindert Israel daran, die Golanhöhen an Syrien zurückzugeben, in Frieden mit dem Libanon zu leben, die Existenz eines echten palästinensischen Staates an seiner Seite zu akzeptieren oder einen binationalen Bundesstaat zu gründen, wie es viele Zionisten vor 1948 in Erwägung gezogen hatten. Und wenn er nicht mit der islamistischen Hamas verhandeln will (die jedoch nur das muslimische Gegenstück zu den ultraorthodoxen jüdischen Extremisten ist, die die israelische Regierung bevölkern), so hindert ihn nichts daran, den palästinensischen Nelson Mandela, Marwan Barghouti, freizulassen, damit er die Führung einer erneuerten Palästinensischen Autonomiebehörde übernehmen kann. Wenn Südafrika das konnte, warum nicht auch Israel? Das schlägt jedenfalls der ehemalige Shin Bet-Chef Ami Ayalon im «Guardian» vor.
Ähnlich verhält es sich mit dem Konflikt in der Ukraine. Wenn die Ukraine und die Nato im Dezember 2021 zugestimmt hätten, auf das russische Projekt für europäische Sicherheit einzugehen, wäre der Krieg nie ausgebrochen. Es ist nicht unmöglich, darauf zurückzukommen, vorausgesetzt, dass alle Parteien an einen Tisch sitzen. Immerhin war dies dem Westen 1973 gelungen, als er das Helsinki-Abkommen mit der Sowjetunion unterzeichnete. Doch davon sind wir weit entfernt. Wenn sich die Schweiz als Förderer eines Friedensgipfels in der Ukraine aufspielt, indem sie Russland boykottiert, wird deutlich, wie sinnlos das Projekt ist und welch immenser Weg noch zurückzulegen ist, um den Dialog wiederherzustellen.
Die Parameter für einen dauerhaften Frieden sind bekannt. Aber bei uns will sie niemand in Betracht ziehen. Man zieht es vor, den Gegner zu dämonisieren, in Verruf zu bringen, seine Menschlichkeit zu leugnen und weiterhin auf den Krieg zu setzen, um den schicksalhaften Moment, in dem wir unseren Anspruch auf die Beherrschung der Weltangelegenheiten aufgeben und die Macht mit anderen Mächten teilen müssen, so weit wie möglich hinauszuzögern. Zweifellos aus einem Rest von Hybris, aber vor allem wegen eines Übermasses an Schwäche. Wir haben nicht mehr den Mut und die Mittel, den Frieden der Tapferen zu wagen. Es ist dieses tragische Unvermögen, das Emmanuel Todds These eindringlich beleuchtet: Unser moralischer Rückschritt und unsere Unfähigkeit, unsere politischen Schwierigkeiten anders als mit Gewalt zu lösen, weit davon entfernt, Folgen der Umstände zu sein, sind die faulen Früchte eines unaufhaltsamen und unkontrollierbaren wirtschaftlichen, demografischen und kulturellen Zusammenbruchs. Das wird das Thema unseres nächsten Artikels sein. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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