Zeit-Fragen: Die Republik Südafrika hat beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag eine 84seitige Klageschrift ge-gen den Staat Israel eingereicht. Mit der Klageschrift verbunden ist der Antrag, eine dringende Anordnung zur Umsetzung vorläufiger Massnahmen zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung zu erwirken. Am 11. Januar hat Südafrika vor dem Gerichtshof entsprechend vorgetragen. Mit dem Antrag auf Erlass vorläufiger Massnahmen will Südafrika erreichen, dass Israel den Krieg gegen die Palästinenser sofort beendet. Südafrika behauptet, Israel verfolge mit seinem Krieg genozidale Absichten. Was ist Ihr Eindruck von der Klageschrift und dem Vortrag Südafrikas vor dem Gericht? Wie beurteilen Sie die rechtliche und politische Bedeutung dieser Klage?
Alfred de Zayas: Der von Südafrika eingereichte juristische Schriftsatz ist überzeugend. Die Zuständigkeit wurde gemäss Artikel IX der Völkermordkonvention begründet, und Südafrika dokumentiert detailliert, wie Israel gegen Artikel II, Absätze a, b und c verstossen hat:
«Völkermord [bedeutet] eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
(c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen …»
Südafrika hat Beweise vorgelegt, die belegen, dass Israel alle diese Verbrechen begangen hat. Die Schlüsselfrage ist die des «Vorsatzes», und die Seiten 59–67 des südafrikanischen Schriftsatzes dokumentieren diesen Vorsatz sorgfältig durch die Worte von Benjamin Netanjahu, von seinen Ministern und Generälen. Es gibt wirklich kein Entrinnen vor der Feststellung eines Völkermordes. Alles andere würde bedeuten, den Wortlaut der Konvention zu ignorieren. Es wäre eine Verhöhnung von Ziel und Zweck der Konvention. Ausserdem ist der Internationale Gerichtshof (IGH) an seine eigenen Präzedenzfälle gebunden.
Das Vorgehen Israels in Gaza ist zweifelsohne weitaus grausamer als das einmalige Massaker von Srebrenica 1995, das bereits vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien und vom Internationalen Gerichtshof selbst als Völkermord eingestuft wurde. Israel hat die Grenze definitiv überschritten. Die Schwelle vom Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Völkermord ist überschritten.
Der IGH ist an seine eigenen Präzedenzfälle gebunden und kann in diesem Fall keinen Rückzieher machen. Würde er dies tun, würde er jede Autorität und Glaubwürdigkeit verlieren. Dies ist ein entscheidender Moment für den IGH.
Israel hat am 12. Januar vor dem IGH entgegnet, alle Vorwürfe zurückgewiesen und statt dessen versucht, die Hamas und auch Südafrika auf die Anklagebank zu setzen. Wie beurteilen Sie Israels Stellungnahme?
Der Zynismus der israelischen Antwort ist erschreckend. Wir wissen, dass Anwälte darin geschult sind, das Recht «umzuinterpretieren», Schlupflöcher in Verträgen zu finden und zu versuchen, sich aus Verpflichtungen herauszuwinden. Aber hier sehen wir eine absichtliche Zerstörung der Sprache, eine Verzerrung der Realität und eine Umkehrung der Wahrheit. Im wahrsten Sinne des Wortes bedeutet dies eine Beleidigung der Intelligenz der 15 Richter des IGH. Es sendet die falsche Botschaft an die Welt.
Aus Ihrer langjährigen Erfahrung als Völkerrechtler und Insider internationaler Organisationen, welches Urteil erwarten Sie?
Der IGH hat keine andere Wahl, als das Unterlassungsgebot zu fällen, und er sollte dies so schnell wie möglich tun, denn jeder Tag bedeutet die Fortsetzung des Völkermords. Der IGH muss feststellen, dass die Bestimmungen von Artikel II a, b, c von Israel verletzt wurden. Es ist eine schwierige Entscheidung, aber Israel hat sie dem IGH und sich selbst aufgezwungen. Eine solche Feststellung zieht die Feststellung der zivil- und strafrechtlichen Verantwortlichkeit nach sich. Von Israel wird ein hohes Mass an Reparationszahlungen an die Palästinenser verlangt werden. Aber ich würde mir nicht zu viel versprechen. Israel hat die Erfahrung gemacht, dass es UN-Entscheidungen straffrei ignoriert, weil es die bedingungslose Unterstützung aller US-Regierungen geniesst. Damit ist nicht die Unterstützung durch das amerikanische Volk gemeint, sondern nur durch die sogenannten demokratischen Präsidenten, Senatoren und Kongressabgeordneten, die in den Diensten des fortgesetzten Imperialismus und Kolonialismus stehen.
Israel hat bereits angekündigt, kein Urteil zu akzeptieren, das sich gegen die Fortsetzung seines Krieges richtet. Kann ein Urteil des IGH trotzdem Konsequenzen haben? Wie würde die Völkergemeinschaft auf ein Urteil gegen Israel reagieren?
Ein Urteil des IGH gegen Israel bedeutet einen erheblichen Prestigeverlust nicht nur für Israel, sondern auch für die Vereinigten Staaten und alle Länder, die den israelischen Völkermord an den Palästinensern nicht verurteilt haben. Durch die Lieferung von Waffen an Israel haben sich die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich, Frankreich und Deutschland gemäss Artikel III e der Konvention an dem Völkermord beteiligt.
Ein Urteil des IGH gegen Israel sollte auch eine «Uniting for Peace»-Resolution1 der Generalversammlung der Uno und einen internationalen Boykott Israels auslösen. Natürlich wird der Sicherheitsrat weiterhin von den USA blockiert, die in der Vergangenheit bereits etwa 80 Resolutionen mit ihrem Veto blockiert haben, um Israel vor den Konsequenzen seiner illegalen Handlungen zu schützen. Ich könnte mir vorstellen, dass Dutzende von lateinamerikanischen, afrikanischen und asiatischen Ländern den gesamten Handel mit Israel boykottieren.
Die Verbrechen Israels rechtfertigen eindeutig die Aktivierung der Doktrin der «Schutzverantwortung», wie sie in der Resolution 60/1 der Generalversammlung vom 24. Oktober 20052 in den Ziffern 138 und 139 festgelegt ist. Allerdings wurde die R2P bisher nur gegen die Gegner des «kollektiven Westens» geltend gemacht. Dies wäre das erste Mal, dass sie gegen einen mit dem Westen verbündeten Staat angewendet werden könnte.
Israel kann diesen Krieg nur führen, weil es dabei politisch, finanziell und militärisch von Staaten des Westens, insbesondere den USA und Deutschland, unterstützt wird. Sehen Sie irgendwelche Anzeichen dafür, dass die Unterstützerstaaten Israels ihre Politik nach einem Urteil des IGH gegen Israel korrigieren werden?
Nein, zumindest noch nicht. Das menschliche Syndrom der Uneinsichtigkeit, der Unwilligkeit zu akzeptieren, dass man im Unrecht ist, ist stärker als der gesunde Menschenverstand. Die Vereinigten Staaten, das Vereinigte Königreich und die Europäische Union, insbesondere Deutschland, werden aus diesem Dilemma mit einem grossen Prestigeverlust in den Augen der globalen Mehrheit in der Welt hervorgehen.
Kann die Zivilgesellschaft etwas tun, damit der Krieg im Nahen Osten beendet wird?
Ja, Millionen von Menschen sollten in Berlin, Frankfurt, Zürich, Genf, Paris, Lyon, London, Manchester, Amsterdam, Den Haag, Rom, Mailand, Kopenhagen, Oslo, Stockholm auf die Strasse gehen und einen sofortigen Waffenstillstand fordern. Millionen von Menschen sollten von ihren «demokratisch gewählten» Regierungen verlangen, das Gemetzel zu beenden.
Schweigen ist keine Option. Qui tacet consentire videtur (Wer schweigt, stimmt zu). Selbst die Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs im Völkermordfall Bosnien gegen Serbien von 19963 hat klargestellt, dass es eine Erga omnes-Verpflichtung [Rechtspflichten gegenüber der gesamten Staatengemeinschaft] zur Verhinderung von Völkermord gibt. Und Artikel III c verbietet die Aufstachelung zum Völkermord, deren sich unsere Medien in ihrer verzerrten Berichterstattung über den Völkermord an den Palästinensern, in ihrer Apologetik von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht haben. Die Urteile des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda4 sind relevant für die strafrechtliche Verantwortung von Politikern und Journalisten, die sich der Aufwiegelung schuldig machen, die auch durch Artikel 20 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte verboten ist.
Artikel III der Völkermordkonvention macht die Regierungen der USA, Frankreichs, Deutschlands und des Vereinigten Königreichs zu Mitschuldigen am Völkermord. Die Zivilgesellschaft muss dies wissen und entsprechend handeln. In Artikel III heisst es: «Die folgenden Handlungen sind zu bestrafen: a) Völkermord, b) Verschwörung zur Begehung von Völkermord, c) unmittelbare und öffentliche Anreizung zur Begehung von Völkermord, d) Versuch, Völkermord zu begehen, e) Teilnahme am Völkermord.»
Vielen Dank, Professor de Zayas, für das Interview. •
1 Die am 7. Oktober 1950 verabschiedete Resolution 377 (V) besagt, dass die Generalversammlung handeln kann, wenn der UN-Sicherheitsrat mangels Einstimmigkeit der ständigen Mitglieder seiner Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit nicht nachkommt. https://www.un.org/en/sc/repertoire/otherdocs/GAres377A(v).pdf
2 https://undocs.org/Home/Mobile?FinalSymbol=A%2FRES%2F60%2F1&Language=E&DeviceType=Desktop&LangRequested=False
3 https://icj-cij.org/case/91
4 https://unictr.irmct.org/en/news/historic-judgement-finds-akayesu-guilty-genocide; https://encyclopedia.ushmm.org/content/en/article/incitement-to-genocide-in-international-law
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Alfred-Maurice de Zayas ist ehemaliger unabhängiger UN-Experte für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung (2012–2018), leitender Jurist im Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, Sekretär des UN-Menschenrechtsausschusses und Leiter der Petitionsabteilung. De Zayas wuchs in Chicago auf, studierte Geschichte und Jura, erwarb einen J.D. von der Harvard Law School und promovierte zum Dr. phil. in moderner Geschichte an der Universität Göttingen. Er ist Autor von 13 Büchern, darunter «Building a Just World Order» (2021), «Countering Mainstream Narratives: Fake News, Fake Law, Fake Freedom» (2022) und «The Human Rights Industry» (2023) (alle clartiypress.com). Für sein Buch «Building a Just World Order» (Aufbau einer gerechten Weltordnung) wurde er 2022 mit dem International Book Award in der Kategorie Recht ausgezeichnet.
There is light at the end of the tunnel – the ICJ has issued a provisional measure ordering Israel to stop the massacre of Gaza civilians. Will the ICJ now call a spade a spade, a genocide a genocide?
The ICJ judges had little choice but to follow their own precedents. It would have been incoherent and incomprehensible to deny provisional measures. The ICJ would have lost all authority and credibility.
The Bosnia v. Serbia ruling of 1996 is fully applicable to the Gaza war, and what Israel has done by far exceeds the crimes of Srebrenica. I pray as well for the Israeli hostages – victims who MUST be liberated.
Alone the precautionary principle in international law compelled the ICJ to issue provisional measures of protection. Behind each statistic is a human tragedy – on every side. Ceasefire is only the first step.
After becoming President, Nelson Mandela stated “our freedom is incomplete without the freedom of the Palestinians”. Mandela never forgot Israel’s support of Apartheid in South Africa.
Quelle: Tweet von Alfred de Zayas über die Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs am 26. Januar 2024
ef. Die Kriegsverbrechen Israels haben weltweit zu anhaltenden Protesten und zu weiteren Klagen geführt. Auch unterstützen unter anderen die Regierungen zahlreicher Länder explizit die Klage von Südafrika vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Zu diesen Staaten gehören Nicaragua, Venezuela, Kuba, Bolivien, Malaysia, Türkei, Jordanien, Bangladesch, Malediven, Namibia, Pakistan, Kolumbien und Brasilien. Hinzu kommen die Arabische Liga und die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ) mit 57 Mitgliedsstaaten, aber auch über 1000 Volksbewegungen, Parteien, Gewerkschaften und weitere Organisationen unter ihnen auch eine Petition von über 600 Israeli.
Am 15. Januar berichtet die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu, Südafrika bereite eine separate Klage gegen die Regierungen der USA und des Vereinigten Königreichs vor. Der südafrikanische Anwalt Wikus van Rensburg, der das Team von inzwischen fast 50 Anwälten leitet, begründet die Klage damit, dass sich die beiden Länder an den Kriegsverbrechen Tel Avivs gegen die Bevölkerung von Gaza mitschuldig gemacht haben.
Auch Chile wird eine Klage beim Internationalen Strafgerichtshof einreichen, «um eine Untersuchung der in den besetzten palästinensischen Gebieten begangenen internationalen Verbrechen zu beantragen», wie die ständige Vertreterin Chiles bei den Vereinten Nationen (UN), Paula Narváez, am 9. Januar vor der UN-Generalversammlung in New York bekanntgab. «Chile wird der aktuellen Situation und dem Schmerz des palästinensischen Volkes nicht gleichgültig gegenüberstehen.»
Nach der Anhörung im IGH gab es auch in den USA grosse Proteste, die sich auch gegen die Bombardierung des Jemen am selben Tag, als Südafrika seine Klage vorgetragen hat, richteten. Am vergangenen Wochenende demonstrierten allein 400 000 Menschen in Washington D.C., um einen sofortigen Waffenstillstand zu fordern und gegen Israels anhaltenden Völkermord in Gaza zu protestieren. Die Demonstranten hinterliessen blutige Babypuppen vor den Toren des Weissen Hauses, um den Völkermord im Gaza-Streifen und die Tötung von mehr als 10 000 Kinder zu verurteilen. In Spanien demonstrierten am vergangenen Samstag zigtausend Menschen in 115 Städten.
Auch beim 19. Gipfeltreffen der Bewegung der Blockfreien Staaten (NAM), das vom 15.–20. Januar in Uganda ausgerichtet wurde, haben afrikanische Staats- und Regierungschefs Israels Militäraktion im Gaza-Streifen verurteilt und ein sofortiges Ende des andauernden Konflikts gefordert. Die NAM ist ein Zusammenschluss von 120 Staaten, die formal keinem der grossen Machtblöcke angehören. Die Bewegung der Blockfreien Staaten, die während des Zusammenbruchs der Kolonialsysteme und auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entstand, ist von grosser historischer Bedeutung. Laut ihrer Webseite hat die NAM eine zentrale Rolle bei den Entkolonialisierungsprozessen gespielt und sieht sich verpflichtet, den weltweiten Frieden und die Zusammenarbeit zu fördern.
Der Präsident der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Denis Francis (Trinidad und Tobago), forderte in einer eindringlichen Erklärung die NAM auf, ihren Einfluss geltend zu machen, um der verheerenden Gewalt Einhalt zu gebieten: «Ich muss Ihnen sagen, dass ich zutiefst besorgt und in der Tat bestürzt bin über die anhaltende Katastrophe im Gaza-Streifen, und deshalb rufe ich diese Bewegung auf, ihren Einfluss geltend zu machen, um dem Gemetzel, das wir alle unglücklich miterleben, ein Ende zu setzen.»
Ugandas Präsident Yoweri Kaguta Museveni schloss sich diesen Worten an: «Wir, die Widerstandskämpfer Ugandas, sind fassungslos und schauen mit Geringschätzung auf die philosophische, ideologische und strategische Oberflächlichkeit einiger Akteure in der Welt herab. Warum respektiert man nicht die Freiheit eines jeden, wenn man sagt, man sei ein Demokrat? Wie kann man sagen, man sei ein Demokrat, und trotzdem wollen, dass andere Menschen Sklaven sind?»
Er warnte die führenden Politiker davor, der Gesellschaft, in der sie leben, ihre enge einseitige ideologische Ausrichtung aufzuzwingen, geschweige denn der Welt: «Die Unterdrücker verrechnen sich, wenn sie ihren zeitweiligen Vorsprung in Wissenschaft und Technik dazu nutzen, andere Menschen auf unbestimmte Zeit zu unterdrücken. Die Unterdrückten werden lernen, aufholen und die Unterdrücker besiegen. Aus diesem Grund brechen Imperien immer zusammen. Die Idee von Imperien ist eine schlechte Idee. Warum versuchen sie nicht, die Menschen durch ihr gutes Beispiel zu beeinflussen, anstatt durch Manipulation, Belehrungen und Drohungen?»
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