All jene, die die Verankerung der Neutralität in der Verfassung der Schweiz als ein zu starres Anliegen betrachten, das es auszuschliessen gilt, sollten sich an einen wesentlichen Sachverhalt erinnern: Es ist gerade umgekehrt. Ohne die Wahl der Neutralität gibt es keine Freiheit. Die Neutralität ist eine Kraft, die grundlegende zivilisatorische Werte vermittelt: Freiheit, Menschenwürde, Einheit, Zusammenarbeit, Solidarität.
In Frankreich, aber auch in den internationalen Medien gab es mehrere leidenschaftliche Stellungnahmen, in denen die Neutralität der Schweiz verurteilt wurde. Oft wurde dabei ihre Neutralität mit Feigheit gleichgesetzt oder mit dem, was in meiner Sprache «veulerie» heisst, also reines Anpassertum. Das kann ich nicht so stehenlassen, das ist eine unzulässige Verdrehung, sogar eine lügenhafte.
Um urteilen zu können, muss man die Schweiz kennen. Kennt man in Frankreich die Schweiz? Nein. In der EU? Nochmals nein, und in den Vereinigten Staaten schon gar nicht! Die Tatsache, dass eine Person oder ein Staat wie die Schweiz nicht an einem Konflikt oder einem Krieg aktiv teilnimmt, kann keineswegs als Feigheit oder Anpassertum angesehen werden! Jeder Bürger, der sich seine selbständige Denkfähigkeit bewahrt hat, weiss, dass die Lösung eines Konflikts jenseits der vereinfachenden Logik von richtig oder falsch liegt. Sie ist ausschliesslich im ehrlichen, sachbezogenen und damit friedfertigen Dialog zu finden. Der überwindet allerdings Gräben.
Auch wenn der in seiner Zeit weit über die Grenzen der Schweiz bekannte Einsiedler Niklaus von Flüe aus einem innerlichen Gebot heraus zum Einsiedler wurde: Neutralität bedeutete auch für ihn nicht, sich aus der Welt zurückzuziehen, sondern im Gegenteil, mit seinem weisen Rat Zerwürfnisse einer Lösung näherzubringen. Echte Neutralität ist verbunden mit der Anstrengung, durch Diplomatie zur Lösung eines Konflikts beizutragen. Die Schweiz hat bewiesen, dass sie dies gut kann. Sie sollte ihre Guten Dienste bei der Lösung von Konflikten gerade in der heutigen Welt noch aktiver zur Verfügung stellen.
Auf der Konferenz von Bandung im Jahr 1955 hatten die vielen teilnehmenden blockfreien Staaten, gerade die zahlreichen aus Asien, klar zum Ausdruck gebracht, dass, wer sich neutral verhält, gerade damit auch seinen Beitrag zum Frieden in der Welt leistet. Sie lehnten die Teilung der Welt in zwei Blöcke, in Ost und West, und den daraus resultierenden Kalten Krieg ab. Es war für viele Staaten gerade ihr erlangter Status der Neutralität, der es ihnen erlaubte, nach Jahrhunderten der Kolonialisierung und des forcierten Imperialismus ihre Freiheit und ihre Menschenwürde zurückzuerlangen. Sie hatten mit ihrem Anspruch, als neutrale Länder behandelt zu werden, das Recht vollkommen auf ihrer Seite! Es war für die Länder, die neutral wurden, gerade die Neutralität, die es ihnen ermöglichte, den inneren Aufbau ihres Landes zu festigen und gleichzeitig ihre internationale Position zu stärken. Die Neutralität war keineswegs störend, sondern ermöglichte es, die Architektur des internationalen Systems zu festigen.
Die Verteidigung des Friedens, der Demokratie, der Menschenrechte und des Völkerrechts sind Werte, die keine Kompromisse oder Zweideutigkeiten zulassen. Sie entspringt dem Engagement für die Verteidigung der Menschenwürde, der eigenen und derjenigen des anderen. In einer Welt voller Turbulenzen erfordert dies viel Mut und persönliche Integrität, aber auch gegenseitige Solidarität im Rahmen gemeinsamen Handelns.
Das demokratische Prinzip ist zu Recht fest in der Verfassung verankert. Das Überprüfen der Verfassungsmässigkeit staatlichen Handelns stellt keine Abkehr von der Demokratie dar, sondern gewährleistet im Gegenteil deren Bedingungen. Ist der Impuls ehrlich, diese Überprüfung abzulehnen? Oder ist es die Verleugnung der Förderung von Offenheit, Partizipation und Transparenz – wesentliche Kriterien für die Legitimität von Verfassungsreformen –, die einige in dieser Debatte um die Neutralität der Schweiz antreibt?
Die am 10. Dezember 1948 verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte hat es ausführlich anerkannt:«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.»
Zu verstehen, warum die feste Verankerung der Neutralität in der Verfassung eines demokratischen Landes von grundlegender Bedeutung ist, bedeutet, die Notwendigkeit des Schutzes der Menschenwürde zu verstehen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. •
Vortrag bei den Septembergesprächen «Mut zur Ethik» vom 30. August – 1. September 2024
(Übersetzung Zeit-Fragen)
* Nicole Duprat ist diplomierte Absolventin der Abteilung Recht und internationale Beziehungen des Institut d’Etudes Politiques et diplomatiques, Aix-en-Provence (F). Sie war als staatlich diplomierte Pädagogin mit Ausbildung am Pädagogischen Institut Saint Cassien (Marseille) und nach Forschungstätigkeit in Florenz als Lehrerin an französischen Schulen tätig. Nicole Duprat wirkt als Künstlerin und im Kunsthandwerk in einer entsprechenden Vereinigung (AVF) in Villeneuve-lès-Avignon. Sie ist Mitarbeiterin von Zeit-Fragen/Horizons et débats, wohnhaft in der Region Avignon (Provence).
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