Neutralität als aussenpolitische Maxime

von Associate Prof. Dr. Pascal Lottaz, Schweiz und Japan *

Mein Thema ist die Neutralität als aussenpolitische Maxime. Das Wichtigste, was es dazu zu sagen gibt, ist, glaube ich, dass Neutralität eben nicht nur eine Erfindung der Schweizer und Österreicher ist, sondern generell verwendet wird in den internationalen Beziehungen. Und das ist der Schwerpunkt meines Forschungsgebietes. Es gibt verschiedenste Arten von Neutralität, und es gibt sie seit vielen, vielen Jahren. Die ältesten Aufzeichnungen, die wir finden, gehen zurück bis zu Thukydides, dem griechischen Historiker, der über die Peloponnesischen Kriege berichtet hat.
    Auch in diesen Kriegen gab es Stadtstaaten, die sich neutral verhalten haben. Man findet das Konzept auch bei den Indern. Dort gab es zur gleichen Zeit, vor etwa 2400 Jahren, einen indischen Historiker, Kautilya1 (Chanakya), der war so etwas Ähnliches wie ein alter indischer Niccolo Machiavelli, der aufgeschrieben hat, wann welcher Prinz sich in welchen Kriegen wie neutral verhalten sollte, wenn die Kriegskonstellation so oder so ausschaut.

Eine einfache und alte Idee

Man hat also Neutralität schon immer verwendet während der Konflikte anderer Staaten. Und ich möchte darüber kurz mit Ihnen sprechen, einfach, damit wir uns auch bewusst sind, wo sich die Schweiz und Österreich und generell europäische Staaten, in welchem Feld man sich bewegt, wenn man sich versucht vorzustellen, wie Staaten, die nicht bei einem Krieg oder in einer Auseinandersetzung mitmachen wollen, in welchen Dilemmata sie stecken. Ich möchte darauf hinweisen, dass Neutralität eben ein ganz spezifisches Prinzip darstellt, und das ist das Prinzip des sich Raushaltens aus den Konflikten anderer Parteien.
    Man kann das noch genereller erfassen: Es sind nicht nur Kriege, es sind generell Konflikte. Und das Grundproblem, das jeder Neutrale in einem Konflikt hat, ist, dass zwischen zwei Parteien B1 und B2 ein Konflikt herrscht. Jetzt stellen wir uns häufig vor, dass sich der Neutrale dann zwischen diesen zwei Polen bewegen muss, und er wird hin und her gezogen, und dass er in der Mitte steht. Lustigerweise wird das Wort Neutralität auf japanisch und chinesisch sogar als «in der Mitte stehen» (中立) geschrieben.
    Aber ich lege Wert darauf zu sagen, dass das eigentlich ein Fehler ist, dass wir uns Neutralität anders vorstellen sollten. Denn wenn wir dieses Bild vor Augen haben, ist das häufig das Bild der Waagschale, wo der Neutrale in der Mitte steht und die Waage links und rechts auszugleichen versucht. Aber das sind schlechte Sinnbilder.

Die Logik der Neutralität

Es macht mehr Sinn, sich die Neutralität als Dreieck vorzustellen, denn ein neutraler Staat hat das Grundproblem, dass er mit beiden Konfliktparteien im Frieden leben will, während diese miteinander einen Konflikt – oder im schlimmsten Fall einen Krieg – haben. Und die Neutralität des neutralen Staates ist immer gerichtet auf den Konflikt, nicht auf die Konfliktparteien. Ein neutraler Staat ist nicht neutral gegenüber den Konfliktparteien. Er ist neutral in bezug auf deren Konflikt. In bezug auf die Konfliktparteien ist ein neutraler Staat einfach normal. Er verhält sich gegenüber diesen Staaten so, oder versucht sich mit ihnen so zu verhalten, wie er sich auch in Friedenszeiten, wenn diese Staaten im Frieden miteinander sind, verhielte.
    Und das ist eines der grossen Missverständnisse, wo dann immer gesagt wird, ja, die Schweiz, die im Zweiten Weltkrieg versucht hat, den Courant normal aufrechtzuerhalten, das ist doch eine Schande. Nein, ist es nicht. Es ist genau der Punkt dahinter, neutral zu sein. Man ist neutral, weil man zu den Konfliktparteien ein normales, friedliches, diplomatisches und Wirtschaftsverhältnis hat. Oder zumindest ist es normalerweise das Ziel eines neutralen Staates. Das Wichtige ist, dass ein neutraler Staat, auch wenn er sich gegenüber dem Konflikt neutral verhält, es nie schafft, sich aus der Konfliktkonstellation herauszubewegen. Das ist auch ein inhärenter Teil des Problems, denn ein neutraler Staat wird dann immer von beiden Konfliktparteien gedrängt, sich so oder so zu verhalten, sich normalerweise mehr auf ihre Seite zu schlagen. Und daher stammen dann alle diese Probleme, dass ein Neutraler immer wieder auf beiden Seiten erklären muss, also schau mal, ich habe es ja gut mit dir, ich verstehe, dass du Probleme mit B1 hast. Aber ich möchte mit B1 keine weiteren Probleme, daher werde ich jetzt B1 so und so behandeln, auch wenn du sagst, ich sollte gegen B1 Sanktionen und so weiter verhängen. Und gegenüber B2 muss man dann immer wieder sagen, dass ich ja mit B1 ein gutes Verhältnis habe. Daher möchte ich gerne B1 nicht schlechter behandeln, nur weil ihr zwei unglücklicherweise miteinander im Krieg seid. Und natürlich werden B1 und B2 beide Druck auf A ausüben, um A dazu zu bringen, sich mehr auf ihre Seite zu schlagen.
    Der Punkt, den ich hier ansprechen möchte, ist, dass jede Konfliktkonstellation immer so ausschaut, dass wir normalerweise Konfliktparteien haben und Parteien, die sich lieber nicht beteiligen möchten.
    Und wir können diese Parteien als neutral bezeichnen, denn das ist mehr oder weniger, was sie versuchen zu organisieren. Wenn wir komplett nicht beteiligte Parteien haben, nenne ich diese den «Mann im Mond». Nehmen wir an, wir hätten den Mann im Mond, und der sitzt auf der anderen Seite des Mondes, und der schaut in die andere Richtung der Galaxie. Der hat noch nie etwas von der Erde gehört, der hat noch nie etwas von Russland gehört, der hat noch nie etwas von der Ukraine gehört und erst recht nicht von ihrem Krieg untereinander.
    Wenn es so ein Wesen gäbe, dann würden wir dieses Wesen nicht «neutral» nennen im Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Wir würden dieses Wesen schlicht unbeteiligt nennen. Ein neutraler Akteur in den internationalen Beziehungen zeichnet sich immer dadurch aus, dass er sich selbst zwar im Konflikt nicht auf eine Seite schlägt, dass er vom Konflikt aber etwas weiss und dass er selbst eine Einstellung bezüglich des Konfliktes hat und eine Position einnimmt. Das ist dann das, was man häufig den Neutralen vorwirft.
    Also, wenn die Schweiz keine Waffen an die Ukraine liefert, wirft man ihr vor, sie helfe Putin, weil Putin davon profitiert, dass die Ukraine keine Waffen kriegt. Das ist ein ganz typischer, absolut normaler Vorwurf, bei dem ein neutraler Staat sich immer wieder sagen muss: «Also, liebe Kriegsparteien, ich verstehe eure Wut, ich verstehe euer Problem, aber ich habe meine eigene Position, ich habe meine eigene Einstellung, und ich möchte gute Beziehungen zu beiden.»
    Jetzt ist der Unterschied in der Schweiz im Moment, dass sie sich im Grossmachtkonflikt zwischen Russland, den USA und der Nato (einem Grossmachtkonflikt, der nicht mit Waffen ausgetragen wird, sondern der im Moment über einen Stellvertreterkrieg geführt wird) wirtschaftlich auf die Seite einer Konfliktpartei geschlagen hat. Im Schusswechselkrieg, der auch im Moment stattfindet zwischen der Ukraine und Russland, da hält sich die Schweiz aber an die völkerrechtliche Neutralität. Und die völkerrechtliche Neutralität reguliert nur diese Schusswechselkriege. Es gibt keine Völkerrechtsvorgaben für kalte Kriege, so wie diesen Wirtschaftskrieg zwischen den USA und Russland oder den Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China. In diesen Grossmachtsauseinandersetzungen verhält sich die Schweiz sehr parteiisch. Aber im Schusswechselkrieg verhält sie sich im Moment zumindest noch relativ neutral.
    Neutrale wollen Freunde mit allen sein und Feinde mit keinem. Und daraus resultiert dann, dass neutrale Staaten eben Freunde mit Feinden sind, also Freunde mit Staaten, die sich gegenseitig feindlich gegenüberstehen. Oder wenn wir das in einem Twitter-Terminus ausdrücken wollen: Neutrale Staaten bezeichnen den Konflikt anderer Staaten mit dem Hashtag «Not my war».
    Diese Konstellation finden wir immer und immer wieder. Es gibt verschiedenste Staaten in der Welt, die sich in der Vergangenheit oder in der Gegenwart neutral verhalten haben. Das ganze Neutralitätsrecht, das wir im Völkerrecht kennen, resultiert eigentlich aus einer langen Geschichte von Staaten, die während Kriegen anderer Staaten gesagt haben: «Nein, ich mache jetzt bei euch nicht mit.»

Neutralitätsrecht:
erfunden auf dem Meer

Wirklich angefangen hat es mit dem Völkerrecht eigentlich mit dem sogenannten «Consolato del Mare»2. Das war ein Sammelwerk von Regeln, das vor etwa 700–800 Jahren aufkam, im Mittelmeerraum, wo viele kleine Stadtstaaten – von Spanien über Nordafrika, Südfrankreich und um Italien herum – alle miteinander Handel trieben, alle ums Mittelmeer herum. Und da kam es immer wieder vor, dass gewisse Staaten mit anderen Staaten oder Stadtstaaten im Krieg waren, die anderen wollten dann aber immer weiter Handel treiben. Und da war es dann wirklich sehr wichtig, vor allem für die Schiffahrer, zu wissen: Was können wir noch transportieren, während unsere Kollegen miteinander im Kampf sind?
    Deshalb haben wir das internationale Recht des «Consolato del Mare». Und was dann später alles formuliert wurde, ist sehr detailliert. Welche Güter von kriegführenden Staaten können auf neutralen Schiffen transportiert werden? Oder welche Güter von neutralen Staaten können auf kriegführenden Schiffen transportiert werden? Was darf ein anderer kriegführender Staat konfiszieren, was nicht?
    Das hat sich alles über viele Jahre hinweg entwickelt. Und es gibt sehr viel Gewohnheitsrecht, das dann schlussendlich auch kodifiziert wurde. Das Interessante dabei ist, dass das Neutralitätsrecht eigentlich aus dem maritimen Bereich stammt, nicht aus dem Bereich des Landkrieges, sondern des Seekrieges. Und Neutralität hatte schon immer extrem viel mit Handel zu tun.
    Wenn also heute zum Beispiel den Indern vorgeworfen wird, dass sie im Moment Schindluder treiben, weil sie es wagen, in Russland weiter Öl zu kaufen und mit diesem Öl zu handeln, wo doch Russland unter Sanktionen steht, und dass das doch ein Bruch der westlichen Sanktionen sei, dann muss man zwei Dinge dazu sagen. Ja, das sind westliche Sanktionen, und der Westen kann das schon reklamieren und sagen, das sei nicht schön, aber die Inder kümmert das wenig, weil die Inder eine eigene Beziehung mit den Russen haben und die weiter so gestalten können, wie sie möchten.
    Während sie sich immer auch überlegen müssen: Wie mache ich weiter, damit westliche Staaten Indien jetzt nicht auch noch sanktionieren, denn solche Sekundärsanktionen sind im Moment extrem «in». Das ist dieses typische Problem, wie sich ein Neutraler im Dreieck zwischen B1, B2 und sich selbst verhalten muss. Und dass es um Handel geht, dass es um Wirtschaft geht, das war schon immer ein Teil des Problems von neutralen Staaten, die dann eben Neutralität als Aussenpolitik betreiben während der Kriege oder Konflikte anderer Staaten. Hugo Grotius hat erst vor 400 Jahren angefangen, grosse Teile des Völkerrechts konkreter zu kodifizieren.

Neutralitätsrecht: der andere
Teil des Humanitären Völkerrechts

Das Konzept der Neutralität kam auch damals auf, mehr oder weniger. Und 1899 und 1907 hatten wir quasi die grössten und wichtigsten Konferenzen, die Haager Konferenzen, zwei Friedenskonferenzen, auf denen auch Neutralitätsrecht festgeschrieben und in Staatsverträgen unterzeichnet wurde. Danach kamen aber der Erste und Zweite Weltkrieg, und die ganze Konzeption, wie wir sie heute als Neutralität verwenden, hat sich dadurch geändert, dass man gesagt hat: Krieg ist generell verboten, und wenn der Krieg verboten ist, dann braucht es eigentlich auch keine Neutralität mehr. Das Problem ist aber, dass wir Krieg zwar verboten haben, die Kriege aber nie losgeworden sind, wir haben einfach weitergemacht mit den Kriegen.
    Und das Kriegsrecht, das auch Teil des Völkerrechts ist, das haben wir einfach umbenannt. Was früher, also vor dem Ersten Weltkrieg, Kriegsrecht genannt wurde, heisst jetzt Humanitäres Völkerrecht, aber es ist eins zu eins dasselbe. Das Humanitäre Völkerrecht, das regelt – wie die Genfer Konventionen –, dass man nicht auf Zivilisten schiessen darf. Das ist einfach das Kriegsrecht im Völkerrecht, das wir jetzt umbenannt haben.
    Das Neutralitätsrecht verhält sich ganz ähnlich wie das Humanitäre Völkerrecht. Im Prinzip sollten wir es nicht mehr brauchen, in der Praxis ist es aber immer noch notwendig. Und wir sehen, so wie es Kriege gibt, gibt es dann auch Staaten, die sich neutral verhalten wollen. Und jetzt nehmen wir die Staaten aus dem Globalen Süden, also Indien, Indonesien, ganz Südostasien versteht im Moment nicht, dass sich die Europäer mit der Ukraine und Russland so in eine Konstellation verrennen, in der sie quasi schon einen Nuklearkrieg befürchten müssen auf ihrem eigenen Kontinent.
    Und die Staaten des Globalen Südens sagen: Da halten wir uns raus, wir haben nichts damit zu tun. Diese Staaten verhalten sich im Moment neutraler als die Schweiz, wenn es um Wirtschaftssanktionen geht.
    In der Neutralitätsinitiative der Schweiz geht es darum, dass sich die Neutralitätsdefinition, die wir im Moment haben, nur auf kriegerische Akte bezieht und völkerrechtlich nur darauf, ob die Schweiz Waffen liefert oder mitmacht oder nicht mitmacht. Darüber hinaus sollte sich die Neutralität auch auf Wirtschaftskriege beziehen.
    Das ist die Auseinandersetzung, die wir jetzt führen müssen in der Schweiz, ob wir so eine Neutralitätsdefinition wollen, ja oder nein. Denn Neutralität ist extrem flexibel, extrem dehnbar, und man kann die verschiedensten Sachen darunter verstehen.

Neutral-Neutrale Kooperation

Neutrale Staaten wie die Schweiz und Österreich sind nicht einmalig in der Welt. Es gibt auch noch andere permanent neutrale Staaten, Malta, Irland; auch die Moldau hat noch einen Neutralitätsgrundsatz in der Verfassung. Die Mongolei versucht mehr oder weniger eine neutrale Aussenpolitik zu haben, aber die Schweiz und Österreich haben eine lange Tradition, und sie verstehen sich selbst als tief neutral. Und wenn diese Neutralität wieder gestärkt wird, dann bin ich der Überzeugung, dass beide Staaten viel dazu beitragen könnten, um ihr Know-how, ihre lange Erfahrung und ihre ganzen diplomatischen Prozesse, die sie entwickelt haben, die Guten Dienste und so weiter, die wir ja betreiben, um das auch weiterzutragen und anderen Staaten mitzuteilen, wie man das tun könnte. Ich hatte vor kurzem eine Unterhaltung mit einer Schweiz-Kongolesin, Natalie Yamb, die mir gesagt hat, die meisten afrikanischen Staaten wünschen sich eine Neutralität wie die der Schweiz. Sie wünschen sich, institutionell so gut aufgestellt zu sein wie die Schweiz oder Österreich, wenn es um ihre Neutralität geht.
    Aber daran arbeiten sie noch. Und mit solchen Partnern könnten die Schweiz und Österreich zusammenarbeiten, um die Neutralität auch in die Welt zu tragen und mitzuhelfen, dass sich andere Staaten auch aus Kriegen Dritter heraushalten können. Denn Weltkriege kann man auf zwei Arten bekämpfen. Entweder, indem man Krieg für illegal erklärt – aber so, dass es funktioniert –, oder indem man einfach genügend Staaten findet, die nicht mitmachen.
    «Wir machen da nicht mit.» So hält man einen Krieg auch davon ab, zum Weltkrieg zu werden. Und Neutralität ist dieser zweite Ansatz: Ich mach da einfach nicht mit. Lasst mich in Ruhe.

1Kautilya (Chanakya) (* um 350 v. Chr.; † um 283 v. Chr.) war Minister und engster Berater des ersten Kaisers des indischen Maurya-Reiches Chandragupta Maurya (* um 340 v. Chr.; † um 293 v. Chr.).
2 «Consolato del Mare»: ein im Mittelalter verfasster Kodex des Seerechts, der sich auf das antike Recht stützt und das moderne Recht beeinflusst hat.


* Pascal Lottaz ist Associate Professor für Neutralitätsstudien an der Rechtsfakultät der Universität Kyoto (Japan). Er stammt aus dem Kanton Freiburg und ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.

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