Da muss sich etwas ändern!

von Dr. h.c. Hans-Christof von Sponeck, ehemaliger Beigeordneter Generalsekretär der Vereinten Nationen, Deutschland *

Das geopolitische Weltbild der Gegenwart deutet, meteorologisch ausgedrückt, auf Orkanstärken hin, die wir in ihren Ausmassen bisher nicht kannten.
    Da ist der bewusst falsch dargestellte Krieg in der Ukraine, das brutale Abmetzeln in Palästina und die Bürgerkriege in Myanmar, in der Republik Kongo, Syrien und in Venezuela. Klimawandel-bedingte Katastrophen existieren in Afrika und der Karibik, mafiöse Gewalt beherrscht das Leben in Haiti.
    Hinzu kommen die Massenpsychose und der furchterregende und dümmliche Populismus in den Vereinigten Staaten und ein verwirrtes Europa, das vergessen hat, was es sich 1990 in Paris für die Freiheit versprochen hatte.
    Bewusste Desinformation und «Falsche Flagge»-Unternehmungen wie Nordstream 2, Butscha, Gaza und, nicht zu vergessen, die gefälschten nationalen Wahlen, sind ständige geopolitische und kriminelle Versuche, die Unterstützung der Bürger zu gewinnen.
    Zu diesem Weltbild gehört auch die ungeheure omnipräsente Korruption, die sich weiter ausbreitet und zu den Ursachen der «Armut der vielen» gehört bei gleichzeitigem unglaublichen «Reichtum der wenigen».
    Die kranke Umwelt und die nukleare Aufrüstung sind die grossen Gefahren für alle(!) 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen!
    «So wie es ist, darf es nicht bleiben» – wer von uns könnte dieser wichtigen Aussage von Günter Verheugen und Petra Erler widersprechen?
    Da muss sich in der Tat etwas ändern!
    Die «Hoffnung der vielen», dass die Verantwortung auf breitere Schultern verteilt wird, um damit eine gerechtere Weltordnung für alle zu erreichen, darf nicht enttäuscht werden. Diese Hoffnung, mit dem Blick nach den Sternen, bedeutet in keiner Weise, dass die Füsse nicht auf dem Boden bleiben!
    Die Mauer des «Widerstands der wenigen» gegen die «Hoffnung der vielen» ist hoch, aber mit der «Leiter der Überzeugung» überwindbar. «Berge trennten die Menschen, aber die Menschen bestiegen die Berge», besagt ein grossartiges afghanisches Sprichwort.

Der westliche
Unilateralismus hat ausgedient

Es ist ermutigend, dass neue Führungskräfte aus der nicht-westlichen Welt, nicht nur aus China, sich unaufhaltsam und mit Erfolg immer intensiver für eine «andere», eine bessere Welt einsetzen. Neue Allianzen haben sich gebildet wie BRICS, die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), das chinesische Seidenstrassenprogramm und die Klimawandel-Konferenzen. Sie bestimmen immer eindrücklicher unsere Weltordnung. Westlicher Unilateralismus hat fraglos ausgedient.
    Vielleicht werden manche von Ihnen meinen, dass ich hier ein zu einseitiges Schwarz-Weiss-Bild male. Ich versichere Ihnen, dass dies in keiner Weise meine Absicht ist. Meine Aussagen reflektieren einen tatsächlich entstandenen Prozess des Wandels und nicht einen Endzustand.
    In diesem Sinn möchte ich kurz auf zwei Themen eingehen, die, so meine ich, für die sich entwickelnde Weltordnung von mitentscheidender Bedeutung sind:

  1. die notwendige Reform der Vereinten Nationen, der für das Wohlergehen der Menschheit wohl wichtigsten globalen Einrichtung, und:
  2. die erforderliche Akzeptanz der Allgemeingültigkeit, nicht nur der Menschenrechte, sondern auch der Menschenpflichten.

Thema 1:

Mit 79jähriger Verspätung (siehe Artikel 109 der Uno-Charta) wird es nun am 22./23. September eine Gipfelkonferenz der Uno-Generalversammlung in New York geben, auf der die Zukunft der Uno diskutiert werden soll1 – ein wichtiger Anfang für eine neue und dringlich benötigte Uno, die ihren Friedens- und Sicherheitsverpflichtungen im 21. Jahrhundert gerecht werden soll.
    Es wird ein langer Weg werden, mit tiefen Schlaglöchern. Westliche Regierungen werden sich zunächst weigern, einer geopolitischen, geographischen und strukturellen Neuordnung im Sinne der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit zuzustimmen.

USA: militärisch-wirtschaftliche
Macht und Missachtung des Völkerrechts

Auf die Gefahr, missverstanden zu werden, möchte ich hinzufügen: Fünf Jahre der Forschung haben Professor Richard Falk und mich zu dem empirisch belegten Schluss geführt, dass die Regierungen der USA, im Interesse ihrer weltweiten geopolitischen Ambitionen, sich in all den Jahren immer auf ihre militärische und wirtschaftliche Macht verlassen haben, ohne Anerkennung des existierenden und verpflichtenden internationalen Rechts. Wir meinen daher, dass dies die Hauptursache ist für die Turbulenzen in den internationalen Beziehungen und die enttäuschende Leistung der politischen Uno seit der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts (siehe Richard Falk und Hans von Sponeck. Liberating the United Nations – Realism with Hope, Stanford, 2024, S. 292, Para 2).
    Wir sind überzeugt, dass über die Zeit die USA und andere westliche Länder (etwa 8% der Weltbevölkerung!) einsehen werden, dass ihre Lokomotive, ohne Kompromiss- und Konvergenzbereitschaft, auf dem Nebengleis stehen bleiben wird.

Uno-Reform muss den neuen
globalen Realitäten Rechnung tragen

Der Katalog der anstehenden Uno-Reformen ist in 79 Jahren ein langer geworden. Zu den wichtigsten anstehenden Reformen gehören:

  • die Anpassung des Sicherheitsrats an die heutigen geopolitischen und geographischen Gegebenheiten; neue Grossmächte und permanente Sitze Afrikas und Lateinamerikas; mehr Sitze für Asien;
  • eine Neuauslegung des Vetorechts im Sicherheitsrat;
  • eine Erweiterung der Entscheidungsrechte der Generalversammlung;
  • internationale Gerichtshöfe, die nicht nur Beraterfunktionen haben, sondern auch mit dem Recht der Entscheidung ausgestattet sind;
  • eine grössere Unabhängigkeit und Entscheidungsfreiheit des UN-Generalsekretärs (Charta-Artikel 100 und 101);
  • eine erhöhte und gesicherte Finanzierung der Arbeit der Uno;
  • die integrierte Zusammenarbeit der legislativen, juristischen und exekutiven Einheiten der Vereinten Nationen untereinander und mit der Zivilgesellschaft.

Die schwierigste Reform wird zweifellos sein, die Uno zu «demokratisieren»! Dazu wird gehören, das Vertrauen unter den Nationalstaaten, besonders den Grossmächten, aufzubauen, um einen selbstlosen multilateralen Geist herzustellen.
    Das wird harte Arbeit sein, an der die Zivilgesellschaft entscheidend mitwirken muss. Der unvergessliche Kofi Annan meinte hierzu: «Menschen sollten mit dem Kopf fühlen und mit dem Herz denken.» Welch grossartiges Leitmotiv für ein menschliches Leben!

Es braucht eine Allgemeine
Erklärung der Menschenpflichten

Thema 2:

Seit der Gründung der Vereinten Nationen 1945 ist sehr viel wichtiges internationales Menschenrecht geschaffen worden, u.a. die zwei Pakte für bürgerliche, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte – ein wertvoller Fortschritt für das Zusammenleben aller Menschen. Seit vielen Jahren gibt es allerdings auch die Forderung, dass zu «Menschenrechten» auch «Menschenpflichten» gehören.
    In der von der Uno-Generalversammlung 1948 verabschiedeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gibt es nur einen eher schüchternen Hinweis auf «Menschenpflichten», dass «jeder Mensch in seiner Umgebung auch Pflichten hat» (Artikel 29).
    47 ehemaligen Regierungschefs und Staatsoberhäuptern genügte dieser Hinweis nicht, und sie entschieden sich daher, einen Entwurf für eine Allgemeine Erklärung der Menschenpflichten zu unterschreiben. Zu den Unterzeichnern gehörte auch der Schweizer Bundesrat und mehrmalige Bundespräsident Kurt Furgler.
    Wenig später diskutierte die Human Rights Commission in Genf das Thema Recht und Verantwortung, und die Uno-Generalversammlung verabschiedete in New York eine unterstützende Resolution. Dabei ist es seither leider geblieben.
    Weder die Uno noch Regierungen haben sich seither mit dem Thema befasst.
    Die Zeit ist gekommen, die Verknüpfung von Menschenrechten und Menschenpflichten erneut und mit Nachdruck zu bedenken. Das Ziel: eine rechtliche Grundlage für die Einführung eines Paktes für Menschenpflichten zu schaffen. Dies sollte in der Uno-Generalversammlung auf dem vorgesehenen Gipfel über die Zukunft der Uno und auch in den beiden Internationalen Gerichtshöfen entschieden werden.
    Viel, sehr viel muss sich also ändern, um die Welt der Menschen menschlicher zu gestalten. Nicht nur die «anderen», wir alle können hierzu einen Beitrag leisten.
    In jedem von uns steckt viel mehr, als wir meinen!

1Hans-Christof von Sponeck hat diesen Vortrag am 31. August 2024 gehalten, drei Wochen vor der Verabschiedung des Uno-«Zukunftspaktes» (vgl. Seite 7 in dieser Zeitung). [Anm. d. Red.]


* Hans-Christof von Sponeck, geboren 1939 in Bremen, studierte Demographie und Physische Anthropologie an den Universitäten Bonn, Tübingen und Washington und erhielt 2010 einen Ehrendoktortitel der Universität Marburg. Von 1968 bis 2000 war er für die Vereinten Nationen tätig. In dieser Zeit arbeitete er u.a. in New York, Ghana, Pakistan, Botswana, Indien und war Direktor des Europa Büros von UNDP in Genf. Von 1998 bis 2000 war er als UN-Koordinator und beigeordneter UN-Generalsekretär verantwortlich für das Programm «Öl für Lebensmittel» im Irak. Im Februar 2000 trat er aus Protest gegen die Sanktionspolitik gegen den Irak zurück. Diverse Auszeichnungen und Veröffentlichungen. Im Juli 2024 erschien bei Stanford University Press sein neues Buch, Liberating the United Nations. Realism with Hope, das er gemeinsam mit Richard Falk geschrieben hat.

«‹Liberating The United Nations› ist eine gründliche Überprüfung der Gründung und Geschichte der Vereinten Nationen (UN), die jene kritischen Wendepunkte nachzeichnet, welche den Weg zu einer starken und gerechten UN, die sich an das Völkerrecht hält, verschleiert oder von ihm abgebracht haben. Das Buch basiert auf dem umfassenden Fachwissen zweier ehemaliger UN-Insider, Richard Falk und Hans von Sponeck, und geht über Kritik und Diagnose hinaus, indem es Wege zu einer effektiveren und handlungsfähigeren UN aufzeigt. Der historische Überblick des Buches bietet eine einzigartig breite Perspektive auf die Entwicklung der UN seit ihrer Gründung und wie diese Entwicklung die Weltpolitik widerspiegelt und von ihr definiert wurde.» (Buchrückseite)

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