Tektonische Verschiebungen in den internationalen Beziehungen

von Jochen Scholz, Deutschland*

Das Thema, zu dem ich gebeten wurde zu sprechen, ist insofern interessant und wichtig, als wir heute in einer Situation leben, die von ihrer Grössenordnung her – was die Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in der Welt angeht – nicht einmal mit dem Wechsel vom britischen Empire zum American Empire zu vergleichen wäre. Das ist heute eine ganz, ganz gravierende Situation, die im Westen allerdings offensichtlich noch nicht so ganz angekommen ist, besonders nicht in Europa oder in der Europäischen Union.
  1998 erschien ein Buch mit dem Titel «ReORIENT. Global Economy in the Asian Age». Der Autor war André Gunder Frank, und das Buch ist bei University of California Press erschienen. André Gunder Frank, Sohn des Schriftstellers Leonhard Frank, war Ökonom, hat sich aber auch mit dem Weltsystem – ähnlich wie Immanuel Wallerstein1 – auseinandergesetzt. Und in diesem Buch kommt er genau zu diesem Schluss, dass der Schwerpunkt, der ökonomische Schwerpunkt, dorthin zurückgeht, wo er Jahrhunderte lag, nämlich nach China.

China – Mittelpunkt der Entwicklung

Ich kann das hier nicht näher ausführen, aber ich empfehle das Buch, weil es mittlerweile auch auf Deutsch im Promedia Verlag2 erschienen ist. Die Kernaussage des Buches: China steht quasi im Mittelpunkt der Entwicklung als Herz und Hirn – zusammen mit Russland. Diese Entwicklung ist weiter fortgeschritten: mit BRICS und der Seidenstrasse und der Shanghai Corporation Organization. China steht besonders als wirtschaftlicher Schwerpunkt im Mittelpunkt.
  An diesem Aufstieg Chinas waren die USA nicht ganz unbeteiligt. Im Gegenteil, sie waren ein Katalysator für diesen Aufstieg, jedenfalls was die Geschwindigkeit betrifft. Warum? Am Anfang vom Ende stand Paul Volcker, Chef der Federal Reserve. Weil der Dollar unter Druck stand, hat er sich überlegt, wie die USA den Dollar als Anlagewährung retten könnten. Da kam er auf die glorreiche Idee, den Zinssatz der Federal Reserve innerhalb kurzer Zeit, innerhalb von wenigen Wochen, auf 20 %, also um das Dreifache, zu erhöhen. Der Erfolg war, dass der Dollar wieder als Anlagewährung akzeptiert wurde.

Deindustrialisierung der USA

Was war jedoch die Folge für die Realwirtschaft? Sie konnte mit diesem Zinssatz nicht mehr umgehen. Und so verstärkte er die ohnehin vorhandene Tendenz der amerikanischen Unternehmen, in preiswerteren Ländern zu produzieren, und beschleunigte diesen Prozess noch. So gingen die Unternehmen nach China und in andere Staaten der Welt. Und das hat natürlich den chinesischen wirtschaftlichen Aufschwung massiv befördert. Die Idee war: Chimerika. Das heisst, in China wird preiswert für den Markt produziert, für den amerikanischen Markt, und wir, die USA, brauchen – etwas überspitzt formuliert – im Grunde genommen keine eigene industrielle Basis mehr.
  Das hat sich allerdings als fataler Fehler erwiesen, weil man nicht bedacht hat, dass in diesem riesigen Land China mit seiner riesigen Bevölkerung enorm viele Universitätsabsolventen jedes Jahr die Universitäten verlassen und dass sich auch die Qualität der Produkte und die Qualität der Unternehmen massiv verbessert hat.
  Heute sehen wir ja, wo China überall konkurrenzfähig ist. Ich will das an einer Zahl verdeutlichen, wie sich diese ursprünglich dominante Rolle der Vereinigten Staaten in der Weltwirtschaft verändert hat. Seit Jahren ist die Handelsbilanz der Amerikaner negativ. Und die Handelsbilanz befasst sich ja genau mit Wirtschaftsgütern, die gehandelt werden. Das Defizit beträgt global, also mit allen Ländern der Welt zusammen, riesige 900 Milliarden US-Dollar. Solche negativen Zahlen hat kein anderes Land der Welt. Und warum können sich die Amerikaner das noch leisten? Das will ich später noch einmal erläutern, wenn wir auf die Rolle des Dollars zu sprechen kommen.
  Die reine Zahl drückt aus, dass die Vereinigten Staaten, abgesehen von einigen Highlights und Türmen, wie in Silicon Valley oder in anderen Bereichen, nicht mehr genügend Güter produzieren, die sie exportieren können und die von der Welt angenommen werden. Das ist die Lage. Und deswegen wird China in kurzer Zeit die Vereinigten Staaten als Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 ablösen.

BRICS plus

China ist der zentrale Faktor im Staatenbund BRICS, der ja mittlerweile BRICS plus heisst, weil immer mehr Staaten dazukommen. Die Vereinigten Staaten sind auch für diese BRICS-Organisation im Grunde genommen eine Art Brandbeschleuniger gewesen und sind das immer noch. Warum? Weil diese Länder nicht mehr bereit sind, sich den Sanktionen, den exterritorialen Sanktionen der Vereinigten Staaten zu unterwerfen. Sie wollen sich auch nicht mehr der Dominanz der internationalen Gremien, die vom Westen beherrscht werden – Weltbank, IWF, WTO –, und nicht mehr mit dem Dollar als führender Anlage und Handelswährung abfinden. Das heisst, um es mal holzschnittartig auszudrücken: Das, was der Westen als regelbasierte Ordnung bezeichnet, ist ja nichts anderes als die Dominanz in diesen genannten Gremien. Die BRICS-Staaten und der sich entwickelnde Globale Süden hingegen – das zeigen auch die Dokumente, die von den BRICS-Staaten bei den Versammlungen und den Zusammenkünften verabschiedet werden – setzen ganz stark auf die Durchsetzung des Völkerrechts. Und das ist etwas ganz anderes als eine regelbasierte Ordnung, mit der man lediglich die Instrumente, die man selbst geschaffen hat, zur – mehr oder weniger – Ausbeutung des Restes der Welt benutzt.

Infragestellung des
US-Hegemonialanspruchs

All dies ist dem globalen Hegemonieanspruch der Vereinigten Staaten entgegengesetzt, der ja nach wie vor besteht. Das drücken die US-Amerikaner ja auch mit den Worten vom «exceptional» und «indispensable country» oder von der «indispensable nation» der Vereinigten Staaten aus. Das ist eine grandiose Anmassung. Und diesem Anspruch wollen sich die Länder im Globalen Süden, wenn man ihn so nennen will, immer weniger beugen.
  Einige Daten: Derzeit hat BRICS plus neun Mitglieder. Demnächst steht in Aussicht, dass Saudi-Arabien der nächste Beitrittsstaat ist, er steht zumindest auf der Liste. Noch sind sie nicht beigetreten, aber es scheint so, dass sie das wollen. Und weitere dreissig Staaten stehen auf der Beitrittsliste. Das heisst, sie haben ihren Wunsch geäussert, diesem Staatenbund beizutreten. Zu Beginn dieses Jahres sind Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate, der Iran und Äthiopien beigetreten. Also haben wir jetzt neun Mitglieder der BRICS plus. Sie repräsentieren 45 % der Weltbevölkerung – die G7, als Gegenbeispiel, 10 %. Der Anteil an der Weltwirtschaft von BRICS plus beträgt derzeit 32 %. Die G7, die 1990 noch über 47 % verfügten, verfügen nur noch über 30%. Das nominelle Bruttoinlandsprodukt der BRICS-Staaten liegt bei 29 %, bei den G7 sind es 44 %. Wenn man allerdings das BIP nach Kaufkraftparität misst, dann haben die BRICS-Staaten 36 % und die G7 nur 30 %.

Langfristziel: Entdollarisierung

Das langfristige Ziel der BRICS-Staaten – was aber sehr, sehr sachte und langsam in Angriff genommen wird – ist die Entdollarisierung. Das heisst, den Dollar als tragende Welthandels- und Anlagewährung durch etwas anderes zu ersetzen.
  Der US-Dollar ist die tragende Machtsäule der USA. Wir schauen auf das Militär, aber das ist nicht die entscheidende Machtsäule, das ist der Dollar. In der Bretton-Woods-Konferenz im Jahr 1944 haben sich die US-Amerikaner gegen britische Vorstellungen durchgesetzt, so dass der Dollar die Weltleit- und Welthandelswährung wurde. 1971 hat Richard Nixon diese Rolle gekündigt. Worin bestand sie? In der Garantie, dass jeder Dollar in der Welt von den US-Amerikanern auf Verlangen in Gold umgetauscht wird. 1971 hatten die Amerikaner aber nicht mehr genügend Gold, um ihre riesigen Schuldenberge im Ausland durch Gold zu ersetzen, oder besser: die Guthaben des Auslandes in Gold zu ersetzen. Frankreich hat damals den Vorstoss gemacht und die Dinge angeregt. Daraufhin wurde diese Bestimmung des Bretton-Woods-Vertrages einseitig gekündigt.

Petrodollar

Jetzt war der Dollar in einer Situation, in der er keinen entsprechenden Hintergrund mehr hatte, dass seine Rolle weltweit weiterhin akzeptiert wurde. Daraufhin setzen die ganzen Entwicklungen ein, die wir als Petrodollar kennen. Man verpflichtete andere Staaten, das Öl nur in Dollar zu fakturieren, so dass alle Staaten der Welt Dollar erwerben mussten für ihren Handel, um ihre Energieströme zu bezahlen. Andere Bereiche wurden auch davon betroffen. Eine sehr raffinierte Strategie also. Im Mittelpunkt stand Saudi-Arabien. Saudi-Arabien war als grösster Ölproduzent damals das Land, mit dem diese Kooperation über den Petrodollar als erstes abgeschlossen wurde. Und wir haben ja in der Vergangenheit einige US-Kriege gegen Staaten erlebt, die das nicht mehr akzeptieren wollten, nämlich ihre Rohstoffe und insbesondere Öl und Gas in Dollar zu fakturieren. Die dann auch mit Krieg überzogen wurden. 2003 Irak, 2011 Libyen. Das zeigt, wie wichtig diese Dollarfunktion für die US-amerikanische Machtprojektion ist. Es gibt einen schönen Begriff, der von Michael Hudson, einem US-amerikanischen Ökonomen, geprägt worden ist, der in einem Buch geschrieben hat, der Bretton-Woods-Gold-Standard des Dollars wurde ersetzt durch den United-States-Treasury-Standard. Was heisst das? Die Vereinigten Staaten sind masslos verschuldet. Warum können sie sich so verschulden? Sie können sich deswegen so verschulden, weil alle Welt, die im Handel Dollar verdient, diese Dollar in den Vereinigten Staaten in amerikanische Schatzpapiere anlegt und dann von den Zinsen lebt. Investieren in amerikanische Unternehmen oder andere Dinge dürfen sie nicht.

Neue Zahlungssysteme

Und dieser Dollar-Treasury-Standard, den greift BRICS jetzt an. Die ersten Schritte: Man hat beschlossen, den Handel untereinander in nationalen Währungen abzuwickeln. Man schafft neue Zahlungssysteme, neue clearing institutions, die dann in diesen Staaten gelten. Aber das macht man alles sehr vorsichtig und langsam, weil man nicht mit einer plötzlichen Bewegung die gesamte Weltwirtschaft in Unordnung bringen möchte. Das wird ein komplizierter Prozess, aber er wird nach wie vor verfolgt.
  Wer sich mit diesem Thema intensiv auseinandersetzen möchte, dem empfehle ich einen britischen Finanzspezialisten, Alastair McLeod, oder den russischen Finanzwissenschaftler und Ökonomen Sergej Glasjew. Ich kann das hier, wie gesagt, nur andeuten und auch keine weiteren Hinweise geben.

Was ist mit Europa los?

Aber ich will vielleicht zum Schluss noch einmal etwas zu dem sagen, was ich am Anfang sagte: dass insbesondere die Europäer diese Entwicklung, die gravierend sein wird in den nächsten Jahren, was die Entwicklung des gesamten internationalen Systems angeht, noch nicht zur Kenntnis nehmen wollen. Die Europäische Union, die für sich ja eigentlich vor diesem Hintergrund eine eigene Rolle definieren müsste, hat sich nun voll darauf kapriziert, auf die Titanic zu setzen, auf die USA. Das heisst nicht, dass US-Amerika untergeht, aber die Rolle, die sie bisher hatten, die werden sie nicht mehr spielen können, nicht mehr lange. Das haben im Westen aber erst sehr wenige begriffen, und vor allen Dingen haben zu wenige daraus Konsequenzen gezogen.

Fragwürdige Medienwelt

Ich will noch einen kleinen Kommentar aus der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zitieren: über Ralf Mützenich, den Fraktionsvorsitzenden der SPD im Deutschen Bundestag, während seiner Reise nach China. Die Zeitung kommentierte, es sei ziemlich viel Ehre für einen Fraktionsvorsitzenden aus Deutschland, von Wang Yi, dem chinesischen Aussenminister, persönlich empfangen zu werden. Und dann geht es im Kommentar wie folgt weiter: «Wer Russland vor amerikanischen Raketen schützen will, dem öffnen sich bei Putins wichtigsten Verbündeten die Türen. Dass Deutschland souverän handle und nicht etwa einem US-Narrativ folge, das habe Mützenich in China gesagt, und das wird Wang Yi auch gerne vernommen haben. Es ist genau das, was er den Europäern selbst immer rät, denn Chinas Position wird stärker, wenn der Westen gespalten ist.»
  Wer so einen Kommentar schreibt, da kann ich nur sagen, hat nichts begriffen oder ist ein gnadenloser Opportunist.

China hat vom ehemals
 erfolgreichen Europa viel gelernt

Zum Schluss vielleicht ein kleines Schlaglicht auf den chinesischen Kommunismus, den viele ja auch immer völlig falsch einschätzen und immer vergleichen mit dem, was wir von 1945 bis 1990 im Kommunismus hatten. Der Reformer Deng Xiaoping, auf den diese ganze Entwicklung zurückzuführen ist, hat sich an Konzepten orientiert, die im 19. Jahrhundert mit zum wirtschaftlichen Aufstieg des Deutschen Reiches geführt haben. Und zwar hat er in China Hunderte von kleinen Banken gegründet, die die örtliche Wirtschaft finanziert und so allmählich ein Gerüst für die ökonomische Entwicklung weiter Teile dieses Landes geschaffen haben. Das ist original Friedrich List.

Europa war früher einmal weiter

Zum Abschluss will ich noch auf etwas hinweisen: Man muss sich noch einmal vor Augen führen, welch klägliche Rolle die, wie Glenn Diesen3 sie nennt, westliche Halbinsel des eurasischen Kontinents, nämlich die Europäische Union, spielt, und das mit dem vergleichen, was sich vor Jahrhunderten ein gewisser Gottfried Wilhelm Leibniz4 vorgestellt hat, nämlich Russland als Brücke, als kulturelle Brücke von Europa nach China zu benutzen – den Text gibt es leider nur auf Lateinisch, Novissima Sinica, aber vor Jahrhunderten sind das Ideen gewesen, die man heute ja auch verfolgen könnte. Statt dessen haben wir seit 2014 alles in die Tonne getreten, was nach 1990 mit der Charta von Paris und auch übrigens mit dem Nato-Gipfel von 1990, mit der Überschrift der Abschlusserklärung «Transformation of Nato», formuliert worden war. Seit 2014 ist die Bereitschaft, insbesondere auch der deutschen Politik, in irgendeiner Weise Russland zu verstehen, und zwar in dem Sinne von audiatur et altera pars, dem alten römischen Grundsatz, gegen null gegangen. Unser Bundespräsident, der selbst verantwortlich dafür war, dass Minsk 2 nicht umgesetzt worden ist, weil er die Ukraine nicht dazu gebracht hat, das zu tun, stellt sich heute hin und sagt: Wir haben uns ja so getäuscht in Russland. Ja, was sagt man noch dazu?  •



1 Immanuel Wallerstein (* 28. September 1930 in New York City; † 31. August 2019 in Branford (Connecticut)) war ein US-amerikanischer Soziologe und Sozialhistoriker. Er war der Begründer einer Weltsystemanalyse, die Aspekte von Geschichte, Wirtschaftswissenschaft, Politikwissenschaft und Soziologie zusammenfasst.
2 ReOrient. Globalwirtschaft im Asiatischen Zeitalter, Promedia-Verlag 2016. 496 S, ISBN 978-3-85371-404-1
3 Glenn Eric Andre Diesen (geboren 1979) ist ein norwegischer Politikwissenschaftler und Professor an der Universität von Südostnorwegen.
4 Gottfried Wilhelm Leibniz (*1646 in Leipzig, † 1716 in Hannover) war ein deutscher Philosoph, Mathematiker, Jurist, Historiker und politischer Berater der frühen Aufklärung. Er gilt als der universale Geist seiner Zeit und war einer der bedeutendsten Philosophen des ausgehenden 17. und  beginnenden 18. Jahrhunderts sowie einer der wichtigsten Vordenker der Aufklärung.

Jochen Scholz war Oberstleutnant der Bundeswehr. Als solcher diente er einige Jahre bei der Nato in Brüssel und danach – während des Nato-Krieges gegen Jugoslawien – im deutschen Bundesvertei-digungsministerium. Dort bekam er mit, dass die offiziellen Reden der verantwortlichen Politiker über krasse Menschenrechtsverletzungen durch Serbien nicht mit dem übereinstimmten, was er den Berichten der Fachleute vor Ort entnehmen konnte. Wegen dieser Lügen der Politiker verliess er 1999 die SPD. Er ist Mitglied im Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin.

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