Welchem politischen und wirtschaftlichen Einfluss des «kollektiven Westens» werden sich die BRICS-Länder und der Globale Süden stellen müssen?

von Dr. sc. Alexander Kouzminov, Neuseeland*

Die BRICS-Gruppe der wichtigsten Schwellenländer – Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – wurde 2009 als informeller Zusammenschluss gegründet, damit ihre Mitglieder eine Plattform haben, um die von den Vereinigten Staaten und ihren westlichen Verbündeten dominierte Weltordnung herauszufordern. Seine Gründung wurde von Russland initiiert.
  BRICS ist keine formelle multilaterale Organisation wie die Vereinten Nationen, die Weltbank oder die Organisation der Erdöl exportierenden Länder (OPEC).
  Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer kommen jährlich zusammen, wobei jedes Land turnusmässig für ein Jahr den Vorsitz in der Gruppe übernimmt. Ihre Gründungsmitglieder sind Brasilien, Russland, Indien und China.
  Die Länder machen zusammen mehr als 40 % der Weltbevölkerung und ein Viertel der Weltwirtschaft aus. Neben der Geopolitik konzentriert sich die Gruppe auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Förderung des multilateralen Handels und der Entwicklung.
  Der Block arbeitet nach dem Konsensprinzip. Alle BRICS-Länder sind Teil der Gruppe der 20 (G20) wichtigsten Volkswirtschaften.
  Über 40 Länder haben ihr Interesse an einer Teilnahme an diesem Forum bekundet.
  Sie betrachten die BRICS als eine Alternative zu globalen Gremien, die von den traditionellen westlichen Mächten dominiert werden, und erhoffen sich von der Mitgliedschaft Vorteile wie Entwicklungsfinanzierung, mehr Handel und Investitionen.

Zentrale objektive Aspekte
des globalen Einflusses
 des «kollektiven Westens»

In den letzten Jahren wurde viel über den «Niedergang» der westlichen Zivilisation und das Ende der seit Jahrhunderten andauernden politischen und wirtschaftlichen Dominanz des «kollektiven Westens» in der Welt gesprochen. Es gibt jedoch eine Reihe von Gründen, warum die westliche Zivilisation nach wie vor einen enormen globalen politischen und wirtschaftlichen Einfluss hat. Betrachten wir fünf zentrale objektive Aspekte des globalen Einflusses des «kollektiven Westens», mit denen sich die BRICS-Länder und der Globale Süden auseinandersetzen müssen.

Der erste Aspekt: Kapitalisierung
 der westlichen Wirtschaft

Das Volumen der westlichen Geldmenge1 ist immer noch grösser als in jedem anderen Teil der Welt (bis auf China). Die Kapitalisierung ermöglicht es dem «kollektiven Westen», eine echte Vormachtstellung in den globalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu behalten und die ganze Welt mit seinem Einfluss zu überziehen.

Geldmenge (M2) (Stand: Ende 2023):

  • Die M2 der G-7-Länder, der EU, Australiens und einer Reihe ihrer Verbündeten beläuft sich auf mehr als 50 Billionen Dollar, was den Westen zur grössten virtuellen Bank der Welt macht.
  • Die M2 aller BRICS-Länder beträgt etwa 45 Billionen Dollar.
  • China steht mit einem M2-Volumen von 41,8 Billionen Dollar an erster Stelle in der Welt.
  • M2 in den USA – 20,9 Billionen Dollar.
  • M2 in Russland – 1,1 Billionen Dollar.

 Gesamtes Bruttoinlandsprodukt (BIP) (Stand: Ende 2023):

  • Das BIP der BRICS-Länder übersteigt das Gesamt-BIP der G7, und der Trend zur Loslösung der BRICS von der G7 hält an.
  • Die BRICS-Staaten machten mehr als 32 % der Weltwirtschaft aus, die G-7-Staaten dagegen etwa 30 %.
  • Die mögliche Erweiterung der BRICS wird die globale Führungsrolle der BRICS unbestreitbar machen.

Der Unterschied zwischen den Volumina von M2 und dem BIP des «kollektiven Westens» und der BRICS-Länder mag nicht allzu gross erscheinen. Dieser Umstand sollte nicht missverstanden werden. Zählt man zu M2 der westlichen Länder die internationalen Reserven in Dollar, Euro, Pfund, Yen und anderen Währungen hinzu (die immer noch erheblich sind), dann ist die Überlegenheit der westlichen Finanzwelt immer noch beeindruckend.

Zweiter Aspekt:
Die militärische Macht des Westens
und seine ausserordentliche
militärisch-technische Entwicklung

Das Anzetteln von militärischen Konflikten ist nach wie vor die beliebteste Methode des Westens, um Konkurrenten zu schwächen und dadurch seinen politischen und wirtschaftlichen Status zu erhöhen. Die US-Streitkräfte gelten derzeit als eine der am stärksten kampfbereiten der Welt. Im Augenblick können nur Russland und China mit der militärisch-politischen und militärisch-technischen Macht der Vereinigten Staaten konkurrieren.

Dritter Aspekt: Wissenschaft,
 Innovation, Technologie und Bildung
 (basierend auf den Resultaten von 2023)

Der «kollektive Westen» hat in fast allen genannten Bereichen deutliche Vorteile. Verschiedene internationale Hochschulrankings zeigen eindeutig die Führungsrolle des Westens. Lassen Sie uns die Vorteile des Shanghai Academic Ranking der besten Universitäten der Welt betrachten, dessen Unparteilichkeit und Objektivität wir dabei voraussetzen.

Shanghai Ranking:

  • Zu den 20 besten Universitäten der Welt gehören 15 amerikanische Universitäten (angeführt von Harvard), drei britische und je eine französische und schweizerische.
  • Unter den ersten Hundert befinden sich 10 Universitäten aus China.
  • Weder in den Top 20 noch in den Top 100 des Jahres 2023 sind russische Hochschulen vertreten.
  • Unter den tausend führenden Universitäten weltweit befinden sich nur neun Universitäten aus Russland, angeführt von der Lomonossow-Universität Moskau, die in die Top 100 der Universitäten der Welt aufgestiegen ist.

Vierter Aspekt:
Internationale Institutionen und
internationale Organisationen

Der vierte Aspekt betrifft die organisatorische (und oft ideologische) Führungsrolle des Westens in internationalen Institutionen und internationalen Organisationen verschiedener Art, wie dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC), den «Universitätsrankings», dem Arktischen Rat, dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und anderen.
  Ein hervorragendes Mittel zur Bekämpfung der westlichen Vorherrschaft kann die Bildung unabhängiger internationaler Institutionen sein.

Beispiele:

  • BRICS-Erweiterung. Der BRICS-Verband besteht aus neun Ländern. 28 Länder haben einen Antrag auf Beitritt zu BRICS gestellt (Stand: Juli 2024).
  • Umstrukturierung des Arktischen Rates. Der Rat wird derzeit von der Mehrheit der Nato-Mitgliedsstaaten gebildet. Es ist notwendig, einen eigenen Arktischen Rat unter Beteiligung der BRICS-Mitgliedsstaaten zu schaffen, von denen viele eigene, spezifische Ambitionen in bezug auf die Arktis haben.

Es ist wichtig zu verstehen, dass man nicht gewinnen kann, wenn man nach den Regeln der westlichen Länder spielt. Wenn es um die Vorteile der westlichen Zivilisation bei der Manipulation internationaler Institutionen geht, gibt es zwei Umstände:
  Erstens tritt der «kollektive Westen» immer als «Einheitsfront» auf (Dissens oder abweichende Meinungen sind im «demokratischen» Westen inakzeptabel).
  Zweitens hat der «kollektive Westen» enorme Erfahrungen und Fähigkeiten bei der Organisation von Druck auf neutrale Länder und Länder des Globalen Südens gesammelt.
  Allerdings ist auch hier nicht alles so eindeutig. Ein einfaches Beispiel ist die Unterzeichnung der Abschlusserklärung des sogenannten «Friedensgipfels», der vom 15. bis 16. Juni dieses Jahres in der Schweiz stattfand. Von den 76 Ländern, die dieses «Dokument» letztendlich unterzeichnet haben, sind 50 Staaten Länder des «kollektiven Westens» und nur 26 Länder sind Staaten des Globalen Südens, die dem Druck aus Washington, London und Brüssel nachgegeben haben. Das heisst, der «kollektive Westen» hat begonnen, seine Einheit und Unterstützung in anderen Teilen der Welt (z.B. im Globalen Süden) zu verlieren.

Fünfter Aspekt: Anziehungskraft
 des westlichen Lebensstils

Der fünfte Aspekt ist die anhaltende Anziehungskraft des westlichen Lebensstils mit der viel beworbenen Illusion, dass in der westlichen Welt «jeder alles aus eigener Kraft erreichen kann».
  Dies wird durch Hollywood, die westliche Popkultur, den kommerziellen Sport und andere Methoden der Beeinflussung durch Medien und Unterhaltung begünstigt.
  Daher müssen alle Länder, die sich dem Einfluss des «kollektiven Westens» entziehen wollen, etwas nachdenken. Der Schlüssel dazu ist die Unterstützung und Förderung ihrer eigenen nationalen Kultur.
  Der BRICS-Verband basiert weltanschaulich auf der Achtung der Identität und Einzigartigkeit jeder Nation, ihrer Kultur, Traditionen und ihres historischen Weges. Hier spielt Russland eine besondere Rolle. Die nationale Kultur Russlands ist zutiefst humanistisch, sie hat die russische Zivilisation geprägt, und das macht sie weltweit attraktiv. Russland erkennt die Werte eines jeden Volkes an und respektiert sie und lässt keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates zu.
  «Entwickle dich selbst und gib anderen die Möglichkeit, sich zu entwickeln» – das ist der Grundsatz der souveränen Modernisierung.

  • Der «kollektive Westen» akzeptiert einen solchen Ansatz nicht.
  • Für den Westen gibt es «Freunde» und «Fremde», Menschen «erster Klasse» und Menschen «zweiter Klasse», «Herren» und «Sklaven».
  • Der «kollektive Westen» setzt Gewalt und Erpressung ein, um seine Vorherrschaft in der Welt zu erhalten.

Schlussfolgerungen

Erstens: Die Möglichkeiten des «kollektiven Westens», einen bedeutenden (und oft entscheidenden) Einfluss auf globale politische und wirtschaftliche Prozesse auszuüben, sind nach wie vor beträchtlich, was die BRICS und der Globale Süden berücksichtigen müssen.
  Zweitens: Der «kollektive Westen» hat immer noch bedeutende «Trümpfe», sowohl durch die Nutzung der oben genannten Aspekte als auch durch die Zusammenarbeit mit den Eliten der Länder des Globalen Südens, deren Vertreter sich immer noch als Teil der «goldenen Milliarde» sehen wollen.
  Drittens: Die oben genannten Aspekte machen den «kollektiven Westen» im globalen politischen und wirtschaftlichen Raum nicht unverwundbar. An seinem «Exzeptionalismus» ist nichts Aussergewöhnliches. Aber der «kollektive Westen» sollte nicht unterschätzt werden. Er ist in vielerlei Hinsicht immer noch stark. Aber die Stärke des anderen zu verstehen, ist der erste Schritt zu seiner Eindämmung.
  Viertens: Die moderne Weltordnung befindet sich im Wandel. Diese «Perestroika» sollte die tatsächlichen Machtverhältnisse in der Welt widerspiegeln.  •



1 Die Geldmenge ist der Bestand an Geld (Bargeld und Geld auf Bankkonten), das sich in den Händen von Nichtbanken (z.B. Privatpersonen, Unternehmen) befindet. Zur Geldmenge M0 werden alle Bargeldbestände gezählt, die sich nicht im Bankensystem befinden. Schnell verfügbares Geld wird der Gruppe M1 zugeordnet. Sie umfasst neben dem Bargeld aus der Gruppe M0 auch Geld, welches täglich von Konten abgehoben werden kann (Sichteinlagen wie etwa Tagesgeld). M2 beinhaltet die Geldmenge M1 plus Einlagen mit vereinbarter Laufzeit von bis zu zwei Jahren (Termineinlagen) sowie Einlagen mit einer vereinbarten Kündigungsfrist von bis zu drei Monaten (Spareinlagen). Die Geldmenge M3 umfasst die Geldmenge M2 plus Anteile an Geldmarktfonds und andere Geldmarktpapiere sowie Pensionsgeschäfte und Schuldverschreibungen mit einer Ursprungslaufzeit von bis zu zwei Jahren. [Anm. d. Red.]

* Dr. Alexander Kouzminov ist ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter des sowjetisch-russischen Auslandsgeheimdienstes (KGB-SVR). Er ist Autor von «Biological Espionage. Special Operations of the Soviet and Russian Foreign Intelligence Services in the West» (Biologische Spionage. Spezialoperationen der sowjetischen und russischen Auslandsnachrichtendienste im Westen), Greenhill Books, London, 2005. Hauptthema des Buches ist die heimliche Entwicklung biologischer Waffen im Westen. Kouzminov ist Doktor der Philosophie, PhD, und hat ein Studium in Biophysik absolviert, beides an der Lomonossow-Universität Moskau, Russland. Zudem hat er Postgraduierten-Abschlüsse in Umweltrecht und Umweltwissenschaften erworben an der Universität Auckland, Neuseeland. Er promoviert derzeit in internationalem und vergleichendem Umweltrecht an der Universität Auckland, Neuseeland.

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