Der UN-Gipfel 2024 und der Krieg in Nahost

von Karin Leukefeld

Die diesjährige UN-Generalversammlung in New York ist seit Sonntag, dem 22. September 2024, Bühne für Staatschefs aus aller Welt. Auf einem «Zukunftsgipfel» werden Sonntagsreden darüber gehalten, was die Vereinten Nationen tun müssen, um die Verpflichtungen einzuhalten, die sie im Hinblick auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und die Charta der Vereinten Nationen bis zum Jahr 2030 eingegangen sind.

Deutschland und Namibia haben einen Pakt für die Zukunft entwickelt, der vom Plenum bereits am Sonntag angenommen wurde. UN-Generalsekretär António Guterres rief dazu auf, eine «Zukunft für unsere Enkelkinder zu schaffen».
  Tatsächlich ist die «Weltgemeinschaft» weit davon entfernt, die 17 Nachhaltigkeitsziele auch nur annähernd realisieren zu können.
  «Keine Armut, kein Hunger, Gesundheit und Wohlergehen und hochwertige Bildung» lauten die Ziele, die ganz am Anfang der Wunschliste stehen. Für Kriegs- und Krisengebiete auf der Welt ist das Gegenteil der Fall. Das gilt für die Bewohner des Gaza-Streifens und im von Israel besetzten Westjordanland. Das gilt für die Bevölkerung in Libanon und für Millionen von Flüchtlingen in Lagern. Das gilt für die Menschen, die seit mehr als 20 Jahren versuchen, den endlosen, US-geführten «Kriegen gegen den Terror» und den «vielen Arten von Krieg Israels» im Nahen und Mittleren Osten zu widerstehen.
  Am vergangenen Sonntag, dem 22. September 2024, lag die Zahl der getöteten Palästinenser im Gaza-Streifen bei mehr als 41 421, teilte die palästinensische Gesundheitsbehörde (Gaza) mit. Mehr als 16 000 der Toten sind demnach Kinder. Mindestens 10 000 Menschen gelten als vermisst unter Trümmern. Die meisten der Toten seien Frauen und Kinder, sagte der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk im August. Seitdem ist die Zahl der Toten täglich gestiegen.

Beschlüsse ohne Konsequenzen

Am 10. Juni 2024 hatte der UN-Sicherheitsrat die Resolution 2735 verabschiedet, die einen Waffenstillstand in Gaza anordnete.
  Der Resolutionstext basierte auf einem von den USA eingereichten Textvorschlag, weswegen die USA zustimmten. Bis dahin hatten die USA jede Resolution für einen Waffenstillstand mit ihrem Veto verhindert. Vorgesehen war ein Drei-Phasen-Plan, wie die Hamas ihn über Vermittler bereits Anfang des Jahres vorgelegt hatte. Die Hamas stimmte also zu, doch der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gab den israelischen Unterhändlern immer neue Vorbedingungen mit. Schliesslich wurde auch dem letzten klar, dass er an einem Waffenstillstand und an dem Abzug der israelischen Armee aus dem palästinensischen Gaza-Streifen nicht interessiert war. Gegenüber den Angehörigen der Geiseln liess er erklären, dass er den Krieg gegen Gaza nicht beenden werde, um die Geiseln zu befreien.
  Am 18. Juli verabschiedete das israelische Parlament (Knesset) eine Resolution, mit der die Zwei-Staaten-Lösung abgelehnt wurde.
  Am 19. Juli gab der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Ergebnis seiner jahrelangen Begutachtung bekannt, wonach die Besetzung palästinensischer Gebiete unrechtmässig sei und gegen internationales Recht verstosse. Israel müsse die Besetzung «so schnell wie möglich beenden».
  Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte daraufhin, die «israelischen Siedlungen in allen Gebieten unseres Heimatlandes […] sind rechtmässig. Das jüdische Volk ist kein Eroberer in seinem eigenen Land.»
  Am 18. September 2024 befasste sich die UN-Vollversammlung mit einer Resolution, die den Gutachterspruch des Internationalen Gerichtshofes vom 19. Juli 2024 stärken sollte. Gefordert wurde, dass Israel innerhalb von zwölf Monaten und ohne Verzögerungen «seine unrechtmässige Anwesenheit in den Besetzten Palästinensischen Gebieten beenden» müsse. Israel müsse seine Armee zurückziehen, alle neuen Siedlungsaktivitäten einstellen, alle Siedler aus dem besetzten Land abtransportieren und Teile der Mauer, die innerhalb des Westjordanlandes errichtet worden war, abbauen. Land und anderes nicht bewegliches Eigentum müsse (an die Palästinenser) zurückgegeben werden, das Gleiche gelte für Kulturgut. Die vertriebenen Palästinenser müssten zurückkehren können oder entschädigt werden. Ausdrücklich bezog sich die Erklärung auf das Gutachten des Internationalen Gerichtshofes. Die Generalversammlung nahm die Resolution mit 124 Stimmen an. 14 Staaten votierten dagegen und 43 Staaten enthielten sich, darunter Deutschland.

Niemand ist mehr sicher

Fast zeitgleich explodierten in Libanon und in Syrien Tausende Personenrufgeräte, sogenannte «Pager», in den Händen oder Taschen ihrer Benutzer. In Syrien war die Zahl der Verletzten gering, doch in Libanon wurden zwölf Personen getötet und 2800 Menschen teilweise lebensgefährlich verletzt.
  Bei einer zweiten Explosionswelle am folgenden Tag explodierten zeitgleich Hunderte Walkie-Talkies und Funkgeräte. 20 Personen wurden getötet, mehr als 600 Menschen wurden teilweise lebensgefährlich verletzt. Die Geräte explodierten auf Balkonen, Küchentischen und in Autos und lösten Brände aus. Die Zahl der Toten beider Angriffe stieg auf 39, mehr als 3000 Menschen wurden teilweise lebensgefährlich verletzt.
  Da es sich um Gegenstände handelt, die im Alltag von Rettungsdiensten, in Hotels, an Flughäfen und in grossen Unternehmen, aber auch von der libanesischen Hizbullah genutzt werden, um das Abhören und Überwachen von Mobiltelefonen durch Israel zu vermeiden, hielten die Benutzer die Geräte in den Händen oder transportierten sie in Taschen. Verletzungen gab es im Gesicht, an den Augen, den Händen, Fingern und am Bauch. Ärzte berichteten, sie hätten noch nie so grauenhafte Verletzungen gesehen.
  In Libanon machte man den israelischen Geheimdienst Mossad verantwortlich. Die US-Administration erklärte, nichts gewusst zu haben. Die «New York Times» lieferte – hinter einer Bezahlwand – eine Geschichte, die um die Welt ging.
  Danach soll der Mossad eine komplette Produktionskette aufgebaut haben. Mit eigener Firma als Subunternehmen der taiwanesischen Firma Gold Apollo habe der Mossad den kompletten Auftrag abgewickelt. Bei Gold Apollo in Taiwan hatte die Hizbullah 5000 Personenrufgeräte (Pager) bestellt, daher ist naheliegend, dass der Mossad den Angriff geplant, vorbereitet und durchgeführt hat. Die «New York Times»-Geschichte kursiert inzwischen international und auch in deutschen Medien mit Varianten.
  Libanon forderte eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrates, die auf Antrag Algeriens, einem nichtständigen Mitglied im UNSR, für Freitag, den 20. September (New York, Ortszeit) einberufen wurde.
  Der UN-Menschenrechtskommissar Volker Türk nannte die Angriffe eine «neue Entwicklung der Kriegsführung. Kommunikationsgeräte werden Waffen». Zeitgleich Tausende von Menschen durch die manipulierten Geräte anzugreifen, ohne zu wissen, wer das jeweilige Gerät benutze, sei ein Verstoss gegen das internationale humanitäre Recht. Die «tragische Situation» dürfe nicht isoliert gesehen werden, denn sie hänge direkt mit dem Krieg in Gaza und der anhaltenden israelischen Besetzung von palästinensischem Territorium zusammen.

«Terrorangriff»

Der libanesische Aussenminister Abdallah Bou Habib sagte, nach «diesen abgründigen» elektronischen Angriffen sei «niemand mehr sicher in dieser Welt». Sollte der Sicherheitsrat diesen «Terrorangriff» nicht als solchen benennen und den Verursacher verurteilen, stehe die Glaubwürdigkeit des Gremiums auf dem Spiel. «Wenn man so ein Vorgehen akzeptiert, öffnet man die Büchse der Pandora», sagte Bou Habib. Staaten und extremistische Gruppen werden dem Beispiel folgen und Zivilisten in aller Welt mit tödlicher Technologie angreifen. Seit 1948 habe Israel keine UN-Sicherheitsratsresolution eingehalten, so sei aus dem Land ein «Schurkenstaat» geworden, der den ganzen Mittleren Osten mit Krieg überziehen werde. Er forderte den Sicherheitsrat auf, Israel zu verurteilen, das die Souveränität Libanons verletzt habe. Der syrische Botschafter bei den Vereinten Nationen betonte, dass die Staaten, die Israel unterstützten, volle Verantwortung für dessen Aggression trügen. Die brutalen israelischen Angriffe seien für die arabischen Länder nicht neu. Neu sei allerdings die Manipulation von modernen technischen Geräten, die den Menschen nutzen sollten, in tickende Zeitbomben.
  Der israelische UN-Botschafter forderte den UN-Sicherheitsrat auf, Hizbullah und die iranischen Revolutionsgarden zu «Terrororganisationen» zu erklären. Dem libanesischen Aussenminister warf er vor, einer «Terrororganisation erlaubt zu haben, einen Staat innerhalb Libanons» gegründet zu haben. Israel werde sich verteidigen und nicht zulassen, dass «die Hizbullah libanesisches Territorium als Abschussrampe für Gewalt» benutzt. Die US-Vertretung stellte sich hinter Israel, das sich gegen die täglichen Angriffe verteidigen müsse. Malta forderte eine Untersuchung. Die Schweiz erinnerte an Verhandlungen. Russland regte ein internationales Gesetz gegen die Nutzung von Alltagsgegenständen als Waffen an. China forderte wie auch der Iran eine Verurteilung Israels.
(Quelle: press.un.org
  Eine Entscheidung gab es nicht. Am Abend des gleichen Tages (20. September 2024, Beirut Ortszeit) bombardierte die israelische Luftwaffe ein Wohnhaus im dicht bewohnten Süden von Beirut mit vier Raketen und brachte das Haus zum Einsturz. Dutzende Menschen wurden verschüttet. 15 Angehörige der Hizbullah wurden tot geborgen, darunter zwei hochrangige Kommandeure. Die Zahl der Toten stieg im Laufe der Bergungsarbeiten auf 51, darunter waren Frauen und Kinder. Zehn Personen werden noch vermisst. Am Wochenende flogen israelische Kampfjets teilweise im Minutentakt Angriffe auf den Süden Libanons und feuerten nach eigenen Angaben auf Hunderte angebliche Raketenabschussrampen der Hizbullah.
  Die Hizbullah reagierte am Samstag mit elf Angriffen, bei denen militärische Stellungen im Norden Israels und auf den besetzten und annektierten Golanhöhen getroffen wurden. Am frühen Sonntagmorgen wurden erstmals schwere Raketen von der Hizbullah eingesetzt. Deren Ziel war bei zwei Angriffen die israelische Luftwaffenbasis Ramat David bei Haifa.
  Ein dritter Angriff galt dem militärischen Rüstungskomplex der Firma Rafael, die auf die Produktion elektronischer Geräte und Ausrüstung spezialisiert ist. Die Firma liegt im Norden von Haifa (Zevulun) und sei mit Dutzenden Fadi 1-, Fadi 2- und Katjusha-Raketen getroffen worden, hiess es in der dazugehörigen Hizbullah-Erklärung. Es handele sich um eine «vorläufige Antwort auf das brutale Massaker, das der Feind Israel in verschiedenen Gebieten Libanons am Dienstag und Mittwoch (Massaker mit Pager und Funkgeräten) verübt» habe.

Warnungen und Drohungen

Mitte der Woche hatte Hassan Nasrallah, Generalsekretär der Hizbullah1, nach den israelischen Massenangriffen auf Libanesen über manipulierte Kommunikationsgeräte Israel mit Vergeltung gedroht. Die feigen Angriffe hätten die Hizbullah und Unterstützer in ihrem Alltag getroffen, nicht mit der Waffe in der Hand an der Front. Die Hizbullah sei geschwächt, werde aber gestärkt aus dem Angriff hervorgehen. Israel werde mit schärferen Reaktionen rechnen müssen. Nasrallah wandte sich direkt an Benjamin Netanjahu und an Yoav Gallant, den israelischen Verteidigungsminister, und sagte: «Die Front in Libanon wird nicht ruhig werden, bis die Aggression gegen Gaza stoppt.»
  Israels Militärsprecher Daniel Hagari erklärte nun vor Journalisten, dass neben den massiven Luftangriffen auf Südlibanon auch ein Truppeneinmarsch nicht ausgeschlossen sei. Die israelische Armee kündigte Luftangriffe auf Gebäude an, in denen die Hizbullah angeblich Waffen versteckt haben soll. Die libanesische Zivilbevölkerung wurde aufgerufen, die Gebiete umgehend zu verlassen. Beobachter bewerteten die Aussagen Hagaris als «klassisches Beispiel für psychologische Kriegsführung». Israel wende das gleiche Vorgehen im Gaza-Streifen und im besetzten Westjordanland an, schrieb der Journalist Zein Basravi (Amman). Die Bevölkerung solle verunsichert und das Ausland darauf hingewiesen werden, dass die politischen und militärischen Führer (Hizbullah) die Bevölkerung als «menschliche Schutzschilde» benutzten. Damit «verschleiere die israelische Armee ihre eigene Aggression» gegenüber der Bevölkerung, so Basravi.
  Zu Beginn des offiziellen UN-Gipfels am Montag (23. September 2024) warnten zahlreiche Politiker erneut vor einem regionalen Krieg, der durch einen israelischen Krieg gegen Libanon ausgelöst werden könne. Der ägyptische Aussenminister Badr Abdelatty forderte einen Waffenstillstand in Gaza, der alle Fronten beruhigen werde.

Internationales Recht
 muss aktiviert werden

Der libanesische amtierende Ministerpräsident Najib Mikati sagte seine Reise zum UN-Gipfel in New York ab und erklärte bei einer Dringlichkeitssitzung der Regierung in Beirut, die internationale Gemeinschaft und das menschliche Gewissen müssten «eine klare Position zu den grauenhaften Massakern einnehmen», die in Libanon verübt worden seien. Internationales Recht müsse aktiviert werden, um zivile Technologie davor zu schützen, dass sie als Waffe genutzt werden könne. Alles müsse getan werden, «um die vielen Arten von Kriegen, die der Feind Israel verübe, zu stoppen», so Mikati.
  Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat derweil seine Reise zum UN- Gipfel verschoben. Aktuell soll er statt Dienstag nun am Mittwoch nach New York reisen. Medien berichten allerdings unter Berufung auf seine Mitarbeiter, dass er vermutlich erst am Freitag in New York vor der UN-Versammlung sprechen wird. Beobachter erwarten, dass viele Staatenvertreter den Plenarsaal dann aus Protest gegen Israels Kriege verlassen werden.  •

Erstveröffentlichung: www.nachdenkseiten.de vom 25.9.2024;
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von Karin Leukefeld und NachDenkSeiten



1 Hassan Nasrallah wurde wenige Tage später, am 28. September, durch einen gezielten schweren israelischen Bombenangriff auf Beirut ermordet. (Anm. d. Red.)

«Was Israel gerade getan hat, ist in jeder Hinsicht skrupellos. Die haben unzählige Menschen in die Luft gesprengt, die Auto gefahren sind (d.h. Autos, die ausser Kontrolle geraten sind), einkaufen waren (deine Kinder stehen im Kinderwagen dahinter in der Kassenschlange) usw. Das ist nicht von Terrorismus zu unterscheiden.»

Quelle: https://x.com/Snowden/status/1836066911722799338?ref_src=twsrc%5Etfw
 vom 17. September 2024 (Übersetzung Zeit-Fragen)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK