Am 24. Februar 2022 geschah für lange Zeit Undenkbares: In Europa brach mit Russlands «Sonderoperation» gegen die Ukraine Krieg aus. Ex-Nato-General Harald Kujat kommentierte dazu am 21. August des selben Jahres: «Die Massnahmen des Westens, die die Einstellung des russischen Angriffs auf die Ukraine zum Ziel haben – finanzielle Unterstützung, Sanktionen sowie die Lieferung von Waffen – müssen als Gesamtstrategie gesehen werden.» Und: «Es ist bereits seit einiger Zeit absehbar, dass es Russland besser als erwartet gelingt, die Auswirkungen der vom Westen verhängten Sanktionen zu überstehen.»2
Zutreffen dürfte letzteres ganz sicher hinsichtlich westlicher Sanktionen gegen russische Oligarchen. Letzteres begründete auch Berlin als schweren Schlag «gegen die engen Vertrauten des Putin-Regimes, von dem die, die jahrzehntelang von der Korruption im Land profitiert haben, getroffen werden.»3
Eine Oligarchie, so heisst es, ist eine «Herrschaft von wenigen». Als deren Anhänger werden «jene bezeichnet, die mit wenigen anderen eine Herrschaft ausüben, im speziellen auch Grossunternehmer, die durch Korruption auch politische Macht über ein Land oder eine Region erlangt haben. Mit der Verflechtung von Politik und Wirtschaft werden politische Entscheidungsprozesse intransparent und gehen häufig mit autokratischer Herrschaft und Schattenwirtschaft einher.»4
Die Gesellschaftskategorie «Oligarch» – woher kam sie ins post-sowjetische Russland? Schlagartig und jählings? Jener taufrische «Oligarch» war bis zur Demontage der UdSSR Anfang der 1990er Jahre Sowjetbürger, Funktionsträger in einem sozialistischen Staat, KPdSU- oder Komsomolmitglied, von Finanzwesen, Industrie, Verkehr, kollektiver Landwirtschaft, Rohstoffen usw. Folglich war er keinesfalls Kapitalist und auch nicht vom Himmel gefallen. Die Türen zum Oligarchen öffneten ihm die «Schocktherapie» des «Washington Consensus».
«Washington Consensus»
Diesen beschlossen im Januar 1993 «15th Street und 19th Street in Washington, US-Finanzministerium, IWF und Weltbank, einflussreiche Think tanks, eine prominente Mehrheit von Akademikern, Medienvertretern und Kapitalinteressen.»5 Viele der mächtigen Drahtzieher in Washington, so die kanadische Autorin Naomi Klein in ihrem fundamentalen Werk «Die Schockstrategie», betrachteten Russlands wirtschaftlichen Zusammenbruch als geopolitischen Sieg – den entscheidenden, der den Vereinigten Staaten die Vormachtstellung sicherte. Sie verdeutlichte die neuen weltwirtschaftlichen Dimensionen, die daraus erwuchsen, dass «mit dem Ende des Sowjetreichs der Markt jetzt das globale Monopol hatte». Naomi Klein enthüllte weiter, dass beim «‹Washington Consensus› ‹frank und frei› darüber gesprochen wurde, in den Transformationsländern aktiv eine ernste Krise herbeizuführen, um die Schocktherapie durchdrücken zu können». Eines der Argumente lautete, «nur Länder, die wirklich leiden, die geschockt sind, unterwerfen sich der Schocktherapie».
«Revolutionäre Installierung
einer Unternehmerklasse»
Im Kontext des «Washington Consensus» ist zu vermerken, dass dessen «Schocktherapie» ihre Unterstützer auch in der Bundesrepublik fand. Die Position, der Westen habe die Transformationsprozesse im post-sowjetischen Raum von aussen zu steuern, äusserte sich beispielsweise im Postulat, «die einzige Bedingung, unter der Marktwirtschaft und Demokratie nur gleichzeitig implantiert werden und gedeihen können, ist die, dass beide einer Gesellschaft von aussen aufgezwungen und durch internationale Abhängigkeitsverhältnisse für längere Fristen garantiert werden».6 (Hervorhebung A.S.)
Auch der Osten Deutschlands wurde sowohl theoretisch als auch praktisch Objekt jener neoliberalen Strategie der Gleichzeitigkeit von Transformation aller politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Systeme in einem «Frontalangriff: Der ‹revolutionären Installierung einer Unternehmerklasse›» (Claus Offe) durch zielstrebige und umfassende Privatisierung staatlichen und genossenschaftlichen Eigentums, Einführung marktwirtschaftlicher Instrumente, Rückzug des Staats aus der sozialen Sphäre, möglichst das Auswechseln der Eliten sowie die Neugestaltung des politischen Systems auf der Grundlage des Modells westlicher Demokratie.
Jener «Frontalangriff» traf mit seinem Primat von Eigentumsprivatisierung auch den Osten Deutschlands schwer, zeitigte dort negative wirtschaftliche Langzeitwirkungen. Nicht so für die Kategorie Oligarchen. Im deutschen Westen historisch sicher etabliert, wussten sie dem Entstehen konkurrierender «Ost-Oligarchen» vermittels «transformatorischer» Eigentumssteuerung durch eine «Treuhand» von vornherein vorzubeugen und es zu unterbinden.
Internationaler Währungsfond und Weltbank
– Eigentumszuträger russischer Oligarchen
Internationaler Währungsfond(IWF) und Weltbank kurbelten die «revolutionäre Installierung einer Unternehmerklasse» auf ihre Weise an, indem sie während Russlands «Wendeperiode» seit etwa 1992/93 «die Zahl der Firmen in die Höhe trieb, die, ganz gleich auf welche Weise, in den privaten Sektor überführt wurden».7
Joseph Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaft, seit 1993 Mitglied des Sachverständigenrats bei US-Präsident Clinton, Chefvolkswirt und Senior Vizepräsident der Weltbank, schilderte diese Strategie schonungslos kritisch: «Fast alles andere war sekundär.»8 Die vom Westen angeordnete Hast erlaubte es, «einer Elite unter Führung internationaler Bürokraten […] einer widersprechenden Bevölkerung rasche Veränderungen aufzuzwingen».
Die erste Phase der Schocktherapie sah die rasche Privatisierung von annähernd 225 000 Unternehmen im Staatsbesitz vor.
Stiglitz resümierte: Die «Schocktherapie» war als «Stabilisierungs-, Liberalisierungs- und Privatisierungsprogramm natürlich kein Wachstumsprogramm. […] Es schuf die Voraussetzungen für den Niedergang».9 Seine Frage «Wer hat Russland zugrunde gerichtet?» beantwortete Stiglitz mit eindeutiger Verantwortungszuweisung: «Die wirtschaftspolitischen Leitlinien des ‹Washington Consensus› bewirkten eine falsch umgesetzte Privatisierung, die nicht zu Effizienz- und Wachstumsschüben, sondern zu zerschlagenen Betrieben und einem Produktionsrückgang führte.»10
Auf die machtpolitische Dimension von IWF und Weltbank verweisend, resümierte Stiglitz: «Der Eile des IWF lagen nicht weniger politische Motive zugrunde.» Die «mächtige Klasse an Oligarchen», welche die Regierung schuf, sollte «Jelzins Wiederwahl sichern». «Das ‹Loans for share›-Programm (des IWF) stellte die letzte Phase der Bereicherung der Oligarchen dar, […] die schliesslich auch das politische Leben beherrschten.» Die hochrangigen amerikanischen und IWF-Bediensteten […] konzentrierten sich darauf, ihre Freunde Boris Jelzin und die sogenannten ‹Reformer› an der Macht zu halten.»11
Die hochrangigen amerikanischen Bediensteten fanden zu Jelzins Gunsten Unterstützung im deutschen Aussenmister Hans-Dietrich Genscher. Genscher gelang es, auf der Moskauer KSZE-Konferenz im September 1991 für Jelzins Verbleib an der (noch) UdSSR-Staatsspitze Axiome durchzusetzen, welche in der westlichen internationalen Politik auch gegenüber Russland normativen Rang erreichten. Nämlich, «dass die Forderung nach Achtung der Menschenrechte nicht dem Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten unterliegt». Und: «Auch schloss sich [der damalige Präsident Jelzin] meiner Initiative an, im KSZE-Rahmen die Nichtanerkennung von verfassungswidrigem Machtwechsel festzuschreiben.»12
Der Kreis schliesst sich
Dass Russlands Oligarchen jener «revolutionären Installierung einer Unternehmerklasse», dem «Washington Consensus» von Washington 15th Street und 19th Street, IWF und Weltbank entsprossen, dürfte hinlänglich beleuchtet sein. Dass aber die «Washington Consensler» als einstige neoliberale Geburtshelfer russischen Oligarchentums ausgerechnet dieses als Feind in ihren antirussischen Rundumschlag einreihen, erscheint eher schizophren: Sie machen eigentlich die ersten «Pioniere» und Verfechter nieder, welche des Westens welthistorisch grössten geostrategischen Traum erfüllten: auf einem Sechstel der Erde – Russland – dem Kapitalismus die Türen zu öffnen. •
1 Offe, Claus. Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, New York, 1994, S. 60
2 https://paz.de/artikel/kriegsfuehrung-ohne-ziel-a7329.html
3 Forbes 2024, «Die Oligarchenliste», https://www.forbes.at/artikel/DIE-OLIGARCHENLISTE.html
4 https://de.wikipedia.org/wiki/Oligarch
5 Marangos, John. «Was Shock Therapy Consistent with the Washington Consensus?», Department of Economics, Colorado State University, Comparative Economic Studies, 2007, 49, (32–58), https://www.researchgate.net/publication/5219030_Was_Shock_Therapy_Consistent_with_the_Washington
6 Offe, Claus. Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im Neuen Osten, New York, 1994, S. 65
7 Stiglitz, Joseph. Die Schatten der Globalisierung, Goldmann, 2004
8 ebenda, S 209
9 ebenda, S 193
10 ebenda, S 106
11 ebenda, S 222; «loans for share» Programm: Ab 1995 begann die Regierung von Boris Jelzin mit der Privatisierung staatlicher Unternehmensanteile durch ein Aktiendarlehensprogramm bei der Umstrukturierung frisch verkaufter Unternehmen (um kommunistische Sympathisanten zu überwiegen, wie eine Quelle spekuliert). https://en.wikipedia.org/wiki/Loans_for_shares_scheme
12 Genscher, Hans-Dietrich. Erinnerungen, Siedler Verlag, Berlin, 1995, S. 319
* Dr. Dr. h.c. Arne Clemens Seifert, (geboren 1937 in Berlin), Botschafter a.D., Senior Research Fellow, WeltTrends-Institut für Internationale Politik, Potsdam. Studium am Institut für Internationale Beziehungen, Moskau, Spezialisierung für Türkei, Iran, Afghanistan, Diplom 1963. Promotion am Institut für Internationale Arbeiterbewegung, Berlin, 1977. Dr. h.c. am Orient-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften 2017. Funktionen im Aussenministerium der DDR 1964–1990: Bereich arabische Staaten, vor Ort tätig in Ägypten, Jordanien; Sektorleiter Irak, Iran, Afghanistan; Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Stellvertretenden Ministers für Asien, Afrika; Botschafter in Staat Kuwait 1982–1987; Abteilungsleiter 1987–1990. Nach 1990: OSZE-Mission in Tadschikistan; Zentralasienberater am Zentrum für OSZE-Forschung (CORE), Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg mit Schwerpunkt OSZE- und Zentralasienforschung – zivile Konfliktprävention, Transformation, politischer Islam, säkular-islamisches Verhältnis, politische Prozesse. Zahlreiche Publikationen zu geopolitischen Themen.
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