«Wenn ich meine Augen schliesse, träume ich vom Frieden»

von Eliane Perret

Wären solche Träume nicht allen Kindern der Welt zu wünschen? Am Abend einzuschlafen in der Gewissheit, dass es eine ruhige Nacht wird unter einer kuscheligen, warmen Bettdecke? Vielleicht nach einer Gute-Nacht-Geschichte des Vaters? Nach ein paar Seiten in einem spannenden Buch? Ohne Sirenen, Schüsse, Schreie und Flucht in einen (eventuell vorhandenen) Luftschutzkeller? Einfach in Frieden zu leben und zu wissen, dass am Morgen der Teddybär noch auf der Bettumrandung sitzt und die Mutter das Frühstück bereitet? Sich keine Sorgen machen zu müssen um Eltern und Geschwister? Verlässliche Beziehungen zu haben und zu wissen, dass die Familie und das heimische Umfeld ein sicherer Hort sind? Wie viele Kinder in kriegsgeschüttelten Ländern dieser Welt würden sich das wünschen!

Ein inneres Immunsystem

Wir leben heute in einer Zeit der Ungewissheit, wie die Zukunft aussehen wird. Auch in schwierigen Zeiten Zuversicht zu behalten, ein Mitspieler zu werden, geschützt davor, Opfer oder Akteur fehlgeleiteter Machtinteressen zu werden, ist für Kinder (und Erwachsene) wesentlich. Es bedeutet, Vertrauen in die eigenen Kräfte und die Mitmenschen aufzubauen, verbunden mit echtem Mitgefühl, Kooperationsbereitschaft und Verantwortungsgefühl. «Soziale Verbundenheit mit der näheren und weiteren menschlichen Umgebung ist eine […] Grundvoraussetzung für seelische Gesundheit und eine volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit»1, schrieb die Psychologin und Historikerin Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser. Diese Verbundenheit ermöglicht uns, später soziale Verantwortung zu übernehmen und den Mitmenschen und allen Völkern mit Respekt und Würde zu begegnen.
  Der Grundstein dafür wird in den ersten zwischenmenschlichen Beziehungen gelegt. «Ein inneres Immunsystem kann so im Menschen entwickelt und aufrechterhalten werden, dass er nicht oder nur schwer durch machthungrige, zweifelhafte Führer verführbar wird. Werden beim Kind Werthaltungen emotional verankert, kann es später daran anknüpfen und auch den nötigen Widerstand, die Abwehr und Hemmung gegenüber Angriffen auf seine Würde und Hemmung vor Angriffen auf die Würde anderer Menschen entwickeln», hält wiederum Annemarie Buchholz-Kaiser fest.2 Hätten nicht alle Kinder der Welt darauf Anspruch, damit sie später einen Beitrag zum Frieden auf der Welt leisten können?

«Ein Traum, den ich bis heute träume»

Ein Blick zurück! Nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs waren bittere und schmerzliche Erfahrungen im Bewusstsein vieler Menschen verankert. Nie mehr durfte es eine derartige Tragödie geben. Man wollte alles daransetzen, einen weltweiten Frieden zu schaffen. Grundlage dazu war die in zweijähriger Arbeit von verantwortungsbewussten Persönlichkeiten ausgearbeitete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Sie wurde im Dezember 1948 durch die Generalversammlung der Uno von 58 Mitgliedsstaaten ohne Gegenstimmen und mit acht Enthaltungen verabschiedet. Seither wurde sie in mehr als 200 Sprachen übersetzt. In der Präambel steht: «Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen unveräusserlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden bildet […].»3 
  Nicht alle Unterzeichnerstaaten meinten es damals ehrlich, wie man heute weiss. Anders die elfjährige Vanessa Redgrave, die diese Botschaft in einer Radiosendung der BBC hörte: «Ich war elf Jahre alt, als diese Worte mich ergriffen und mir einen Traum eingaben, den ich bis heute träume.»4 Dieses Erlebnis und die damit verbundene Hoffnung auf ein weltweit friedliches Zusammenleben wurden für sie (wie für viele andere Menschen dieser Generation) zur inneren Leitlinie im Leben und begleiteten sie auf ihrer Laufbahn zur weltbekannten Schauspielerin. Sie hatte während des Krieges erlebt, was Angst und das Gefühl, in Lebensgefahr zu sein, für Kinder bedeuten, und wusste, was es braucht, sich in einem bedrohlichen Umfeld dennoch zurechtzufinden und auch in schwierigsten Situationen nicht zu resignieren. In einem Interview meinte sie später dazu: «Selbst wenn man nicht lesen kann, kann man Theater spielen und singen. Das war es, was wir in den Kellern taten, als über uns die Bomben fielen. Wir hatten keine Schule. Aber es gab glücklicherweise im Haus eines entfernten Verwandten, weit ausserhalb von London, ein Kindermädchen, das sich um uns kümmerte. Sie brachte mir Lesen und Schreiben bei. Das eröffnete mir buchstäblich die Welt.»5
  In dieser Erfahrung existentiellen Bedroht-seins wurzelte Vanessa Redgraves späteres politisches Engagement und ihr Leben als Schauspielerin.6 Das Ziel der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit aller Menschen und Völker als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden floss auf ihrem weiteren Lebensweg in ihr Handeln ein, wobei sie selbst eine Entwicklung zu parteiunabhängigem Denken vollzog. «Ich möchte mich nicht als Linke oder Rechte sehen. Diese Unterscheidung gehört zu einem gewissen Denken in meinem Leben, wo das dominierte», sagte sie im Sommer 2006, «die wirklich schöpferische Leistung des Lebens liegt doch darin, sich gegenseitig zu helfen, Dinge zu verstehen, die man vorher nicht verstanden hat.»7

Ungehörte Schreie nach Frieden

Ungerechtigkeit, Gewalt, Krieg, Armut und Hoffnungslosigkeit, die das Schicksal von Kindern in kriegsgebeutelten Ländern prägen, liessen Vanessa Redgrave nicht los.

Ob im Sudan, in Gaza, in Afghanistan, im Irak oder in den vielen anderen Kriegsgebieten – überall musste die heranwachsende Generation ähnliche Erfahrungen machen wie sie. Nach einem Besuch in der durch die Balkan-Kriege kriegszerstörten Stadt Sarajewo übernahm sie die Aufgabe einer Unicef-Botschafterin. Diese Uno-Organisation veröffentlichte 1994 das Buch «I dream of peace».8 Es gab Kindern aus dem ehemaligen Jugoslawien, nun ein zerstörter Teil Europas, eine Stimme. Im Vorwort schrieb Vanessa Redgrave: «Dieses Buch ist daher ein starker Protest gegen die Verletzung des Geistes, des Körpers und des Lebens dieser Kinder – eine Verletzung ihres Rechts, in einer Welt ohne Krieg aufzuwachsen, unabhängig davon, wo sie leben oder wer ihre Eltern sind. Wir müssen auf die Botschaften der einzigen Friedensstifter hören, der einzigen Zukunft, die wir haben – der Kinder – und wir müssen entsprechend handeln.» Mit erschütternden Bildern und bewegenden Texten richteten die Kinder einen dringenden Appell an die Welt, mit den Kriegen endlich aufzuhören. «Es ist ein leidenschaftlicher Appell von Kindern, denen das Recht auf ein normales Leben genommen wurde und deren Schreie nach Frieden bisher ungehört geblieben sind. Ihre Zeichnungen und Schriften sind stumme Erinnerungen an die unsäglichen Grausamkeiten, die ihr tägliches Leben bestimmen», hielt James P. Grant, Executive Director der Unicef, in seinem einleitenden Text fest. In Dutzenden von Schulen und Auffanglagern in der gesamten Region waren die Kinder ermutigt worden, zu zeichnen und zu schreiben, was sie bewegte und ihr Leben belastete. Entstanden sind nicht nur Bilder von traumatischen Ereignissen, sondern auch Gegenbilder – von glücklichen Erinnerungen an die Vergangenheit und Träumen für die Zukunft.

Ungehörte Stimmen

Die Kinder und Jugendlichen berichten von ihren Erlebnissen in einem Land, in dem die Menschen zuvor trotz unterschiedlicher Religionen, Sprachen und Kulturen in Frieden zusammengelebt hatten. Nicht nur für sie unfassbar, wurde dem Land von aussen ein Krieg aufgezwungen, verbunden mit Schrecken, Elend und Grausamkeit. Freunde wurden zu Feinden, und Grenzen gingen durch Familien. «Mein Vater ist Kroate, meine Mutter ist Serbin, aber ich weiss nicht, wer ich bin», schreibt Lepa (elfjährig) aus Belgrad. Sie vermissen ihre Väter, die im Krieg sind. «Wenn du nur wüsstest, wie es ist, wenn dein Vater im Krieg ist. Du fliehst vor dem Elend, aber das Elend folgt dir. Du hörst kein Wort über deinen Vater, und eines Tages wird alles schwarz und Papa steht vor der Tür. Er bleibt ein paar Tage bei dir, und dann ist das Glück wieder weg», trauert die elfjährige Žana aus Bosnien.
  Viele Kinder vermissten geliebte Menschen und erlebten, wie ihre vertraute Umgebung zerstört wurde. Verständlich, dass sie – wie die elfjährige Jelena aus Kroatien – ihre Hoffnung verloren, dass es einmal wieder anders werden könnte, und sich einfach sehnlichst ein Ende des Krieges wünschten: «Ich kann nicht glauben, dass es in unserer Stadt wieder Leben geben könnte. Jeder, der die Zerstörung gesehen hat, würde das Gleiche fühlen. Deshalb muss dieser schmutzige Krieg aufhören.» Ein Aufruf, dem man sich nur anschliessen kann, genauso wie an Maida aus Skopje (zwölfjährig): «Krieg ist das traurigste Wort, das mir über die bebenden Lippen kommt. Er ist ein böser Vogel, der niemals zur Ruhe kommt. Er ist ein tödlicher Vogel, der unsere Häuser zerstört und uns unsere Kindheit raubt. Der Krieg ist der böseste aller Vögel, er färbt die Strassen rot vor Blut und verwandelt die Welt in ein Inferno». Jelena und Maida stehen stellvertretend für die Millionen anderer Kinder in Gaza, im Kongo und in vielen anderen Ländern der Welt, die man nicht in Ruhe lässt und wo die Charta der Vereinten Nationen mit Füssen getreten wird. Sie sind wie Sandra (zehnjährig) belastet durch das Schwere, was sie erlebt haben: «Es gibt so viele Menschen, die nicht um diesen Krieg gebeten haben oder um die schwarze Erde, die jetzt über ihnen liegt. Unter ihnen sind meine Freunde. Ich habe euch diese Nachricht geschickt: Tut den Kindern niemals weh. Sie sind an nichts schuldig.» Sie hoffen auf Frieden und dass man sie nicht vergisst: «Der Krieg ist da, aber wir warten auf den Frieden. Wir befinden uns in einer Ecke der Welt, in der uns niemand zu hören scheint. Aber wir haben keine Angst, und wir werden nicht aufgeben.» (Schüler der fünften Klasse aus Zenica in Bosnien).
  Ein Appell, den der zehnjährige Roberto aus Pula in Kroatien mit seiner Vision von Frieden unterstützt: «Wenn ich Präsident wäre, würden die Panzer zu Spielhäusern für die Kinder werden. Schachteln mit Süssigkeiten würden vom Himmel fallen. Die Mörser würden Luftballons abschiessen. Und die Kanonen würden mit Blumen blühen. Alle Kinder der Welt würden in einem Frieden schlafen, der weder von Alarmen noch von Schüssen gestört würde. Die Flüchtlinge würden in ihre Dörfer zurückkehren. Und wir würden neu beginnen.»

Frieden braucht …

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diesen Wunsch nach einem weltweiten Frieden zu erfüllen, den uns diese Kinder entgegenbringen. Das ist heute um so dringender, als unsere Welt einmal mehr an einem kritischen und gefährlichen Wendepunkt steht. Frieden braucht die gleichwertige Achtung der anderen Länder, er verlangt den Respekt vor allen Kulturen und Ehrlichkeit im Handeln. Wahnhafte Alleinherrschaftsziele, die mit Arroganz und dem Gefühl der Auserwähltheit das Entstehen einer neuen, multipolaren Weltordnung hintertreiben wollen, verhindern es heute. Unser Weltgeschehen hängt deshalb auch davon ab, ob endlich wieder seelisch gereifte Persönlichkeiten die verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen können, im Rahmen der Weltgemeinschaft auf ein friedliches Zusammenleben hinzuarbeiten.  •



1 Buchholz-Kaiser, Annemarie. «Die Menschen stärken». Unveröffentlichtes Manuskript. Zürich 2000. S. 9
2 a.a.O. S. 12
3 https://www.ohchr.org/en/human-rights/universal-declaration/translations/german-deutsch
4 Geisenhanslüke, Ralph. «Ich habe einen Traum: Vanessa Redgrave.» In: Die Zeit Nr. 9 vom 23.2.2006; https://www.zeit.de/2006/09/Traum_2fRedgrave
5 a.a.O.
6 Sie protestierte gegen Atomwaffen und später gegen den Vietnam-Krieg. Die damit verbundenen Erschwernisse für ihre Karriere als Schauspielerin nahm sie in Kauf, auch als sie wegen ihrer Unterstützung der PLO und der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) bekannt wurde. So produzierte sie eine Reihe von Dokumentarfilmen, die ihre Überzeugungen widerspiegelten, übernahm aber auch die Rolle einer Holocaust-Überlebenden und spielte später im Film «Julia» die Tochter aus einer jüdischen Familie, die im Untergrund Widerstand gegen den aufkommenden Nationalsozialismus leistete. Für diese filmische Leistung bekam sie 1978 einen Oscar. Im Vorfeld der Preisverleihung erhielt sie Drohungen einer jüdischen Gruppierung, die gegen ihr Engagement für die Palästinenser protestierte. In ihrer Rede an der Preisverleihung verwahrte sie sich (unterbrochen von Buhrufen) dagegen und unterstrich ihr Engagement gegen Faschismus und Antisemitismus. Am 10. Dezember 2023, anlässlich des 75. Jahrestags der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, wurde Vanessa Redgrave für ihr Lebenswerk mit dem Europäischen Filmpreis geehrt.
7 Geisenhanslüke, Ralph. «Ich habe einen Traum: Vanessa Redgrave.» In: Die Zeit Nr. 9 vom 23.2.2006; https://www.zeit.de/2006/09/Traum_2fRedgrave
8 Unicef. I dream of peace. Images of war by children of former Yugoslavia. New York: Harper Collins 1994. Alle folgenden Zitate sind dieser Publikation (ISBN 978-0-06-251128-7) entnommen. 

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