Gaza nach einem Jahr Krieg

Ein neuer Dokumentarfilm berichtet über Zerstörung und Missbrauch

von Seymour Hersh

Letzte Woche veröffentlichte al-Jazira «Investigating War Crimes in Gaza».1 Der 81minütige Dokumentarfilm ist eine vernichtende Anklage gegen die Behandlung derjenigen, die im Krieg immer am meisten leiden: Frauen und Kinder – während der israelischen Vergeltungsmassnahmen für die schrecklichen Morde, die die Hamas vor einem Jahr innerhalb Israels verübte.
    Beim ersten israelischen Bodenangriff gelang es nicht, alle israelischen Geiseln zu retten oder das mehrere hundert Kilometer lange Tunnelsystem der Hamas zu zerstören. Die anhaltenden Luftangriffe haben dazu geführt, dass Männer, Frauen und Kinder wahllos getötet wurden, Tag und Nacht, in Häusern, Wohnungen und Bürogebäuden. Gaza, die Heimat von mehr als zwei Millionen Palästinensern, wurde durch die Bombenangriffe, die letztlich nur wenige Spuren der Zivilisation hinterlassen haben, in Stücke gerissen und kostete unzählige Menschenleben: Es gibt keine Krankenhäuser mehr, keine Universitäten, Märkte, Restaurants oder ein bürgerliches Leben.
    Der Krieg in Gaza hat sich auf das Westjordanland und nun auch auf  Libanon ausgeweitet. Die israelische Führung unter Premierminister Benjamin Netanjahu, in der religiöse Fanatiker Schlüsselministerien leiten, hat das Land in die wirtschaftliche Misere getrieben und setzt ihre Kampagne von Attentaten und Bombenanschlägen fort. Gestern Morgen, am tragischen Jahrestag, ertönten in ganz Israel Sirenen, als ein Rest der Hamas einige leicht abfangbare Raketen aus einem noch in Betrieb befindlichen Tunnel abfeuerte.
    Das weitaus grössere Raketenarsenal der Hizbullah ist nach wie vor einsatzbereit und in der Lage, Ziele tief in Israel zu treffen. Die israelische Luftwaffe griff am vergangenen Wochenende im Gaza-Streifen Ziele an, die als Hamas-Ziele bezeichnet wurden, und die israelischen Streitkräfte setzen den Luft- und Bodenkrieg gegen die Hizbullah in Libanon fort.
    Es wird befürchtet, dass Israel als Vergeltung für den iranischen Raketenangriff auf Israel einen Angriff auf den Iran starten könnte, nachdem Israel im vergangenen Monat den Hizbullah-Führer Hassan Nasrallah in Libanon und im vergangenen Sommer einen hochrangigen Hamas-Beamten in Teheran ermordet hatte.
    Im Nahen Osten liegt Mord in der Luft, und es gibt keinen internationalen politischen Führer – und schon gar nicht in der Biden-Regierung –, der das Format und den Willen hat, dies zu verhindern. Bei all dem wird die Regierung Netanjahu ständig von der Regierung Biden unterstützt, die Israel seit dem 7. Oktober letzten Jahres, wie berichtet wurde, 18 Milliarden Dollar an Militärhilfe zur Verfügung gestellt hat. Biden unterstützt Israel nach wie vor entschlossen, ebenso wie Vizepräsidentin Kamala Harris. Seine aussenpolitischen Berater, allen voran Aussenminister Antony Blinken, schweigen jetzt. Blinken und seine Kollegen haben die letzten Monate damit verbracht, den Amerikanern zu erzählen, dass es zu einem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hamas kommen würde und dass einige oder alle der verbleibenden Geiseln befreit würden. Die ganze Zeit über hatte Netanjahu andere Pläne.

Die Zerstörung des Gaza-Streifens

Die Zerstörung des Gaza-Streifens, die die Welt täglich im Internet und im Fernsehen verfolgt, bildet den Hintergrund für eines der Hauptthemen des Dokumentarfilms: die gefühllose Teilnahmslosigkeit israelischer Soldaten, die inmitten der Verwüstung operieren. Es gibt kaum Kontakt zur Hamas, die durch israelische Bombenangriffe stark in Mitleidenschaft gezogen wurde und keine nennenswerte offene Bedrohung mehr ist. Auch gibt es heute keine Anzeichen für eine anhaltende intensive israelische Suche nach den restlichen der mehr als 250 Geiseln, die ursprünglich von der Hamas und anderen gefangengenommen wurden. Die üblichen Anzeichen für einen intensiven Krieg in den Städten des Nahen Ostens – Überfälle, Kämpfe von Tür zu Tür und von Haus zu Haus – sind in der al-Jazira-Dokumentation nicht zu sehen, weil der erwartete intensive Bodenkrieg mit der Hamas ausblieb.

Videos israelischer Soldaten
voller Verachtung für die Palästinenser

Statt dessen gibt es ein Video nach dem anderen, das von israelischen Soldaten aufgenommen und an Familienangehörige und Freunde weitergeleitet wurde. Es zeigt, wie gelangweilt wirkende israelische Soldaten die Wohnungen und Häuser von Familien aus dem Gaza-Streifen durchwühlen, die in Panik geflohen sind, vielleicht auf Grund einer israelischen Warnung, dass ihr Wohnviertel angegriffen werden sollte. Solche Warnungen gab es zwar, aber sie wurden von den Menschen im Gaza-Streifen, die auf die Strasse flüchteten, obwohl sie Angst hatten, sich nach draussen zu wagen, sicherlich nicht als humanitäre Geste angesehen.
    Der Dokumentarfilm zeigt, dass einige Wohnungen, nachdem sie geräumt worden waren, von israelischen Kämpfern ohne Schutzwesten und mit gezückten Waffen durchwühlt wurden, während sie mit ihren Handys filmten. Unter den Augen ihrer befehlshabenden Offiziere filmten sich die israelischen Soldaten dabei, wie sie die Wohnungen durchwühlten, Geräte zerstörten, Möbel zerschlugen und sich über arabisches Essen lustig machten. Es wird nach Geld gesucht, und wie es junge Männer in Kriegszeiten tun, wird die Kleidung von Frauen durchwühlt und die übliche Faszination für weibliche Unterwäsche gezeigt, die oft von einem stolzierenden IDF-Soldaten getragen wird, während seine Kameraden alles filmen.
    Die Videos, die über die Sozialen Medien an Freunde und Familien in der Heimat weitergeleitet wurden, strotzen nur so vor Verachtung für die Palästinenser, als ob alle Männer in Gaza und ihre Frauen und Kinder Hardcore-Mitglieder der Hamas wären. Der Dokumentarfilm zeigt uns, dass sie sich auf den vielen frühen Pro-Kriegs-Tanzpartys in der Heimat als grosse Hits erwiesen. Heute wird im finanziell angeschlagenen Israel nicht mehr viel getanzt. Andere Szenen im Video zeigen Gruppen israelischer Soldaten in Uniform, die im Gaza-Streifen Dienst tun und dicht gedrängt auf den Dächern leerstehender Gebäude stehen – es flogen keine Bomben auf sie zu – und jubeln, als eine Gruppe von Wohngebäuden, die etwa zehn Stockwerke hoch sind und einige hundert Meter entfernt stehen, zu schwanken beginnen, offensichtlich auf Grund von Bomben, die unter der Erde gezündet wurden. Kurz darauf fielen die Häuser langsam in sich zusammen.
    Als Journalist, der über das Massaker von My Lai in Südvietnam und die Fotos des sexuellen Missbrauchs von Gefangenen im berüchtigten irakischen Abu-Ghraib-Gefängnis durch unausgebildete Gefängniswärter der amerikanischen Armee-Reserve berichtet hat, weiss ich, dass Soldaten im Kampf Nichtkombattanten schreckliche Dinge antun, einschliesslich Vergewaltigung und Mord. Aber die Abu-Ghraib-Fotos wurden nur unter den Mitgliedern der diensthabenden Einheit verbreitet; sie waren nicht für Aussenstehende bestimmt, auch nicht für die Befehlskette der Armee. Man war sich darüber im klaren, dass ihre Handlungen, wenn sie höheren Stellen im Hauptquartier bekannt würden, zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen würden.
    Das war bei den Fotos, die in Gaza aufgenommen und weit verbreitet wurden, nicht der Fall, auch nicht bei den kommandierenden Offizieren der Soldaten. Angesichts der heutigen Zerrüttung der politischen und militärischen Führung Israels ist es wohl unmöglich, solche Erscheinungen anhaltender Korruption in der Offiziersklasse kurzfristig zu beseitigen.

Permanente
Demütigung und Entrechtung …

Es gab noch andere Fotos in der Dokumentation, die ich viel beunruhigender fand, insbesondere die Szenen eines von israelischen Soldaten überwachten Zwangsmarsches von Familien, die in einem Krankenhaus in Gaza-Stadt Zuflucht gefunden hatten, in den Süden. Über diesen Marsch wurde seinerzeit ausführlich berichtet, doch die Dokumentation fügte Fakten hinzu, die nicht bekannt waren. Die Marschierenden – darunter kleine Kinder und ältere Menschen, von denen einige in der Tageshitze auf Krücken humpelten – wurden aufgefordert, eine weisse Fahne in einer Hand zu schwenken und ihre Ausweise in der anderen Hand zu halten, während sie liefen. Diejenigen, die einen der beiden Ausweise fallen liessen, durften nicht stehen bleiben, um die fallen gelassenen Gegenstände zu holen. Dies war eine Form der grundlosen kollektiven Bestrafung, wie man sie seit dem Zweiten Weltkrieg selten gesehen hat. Es war eine Schande, das mitanzusehen.
    Netanjahu und die religiösen Eiferer, die heute in Israel das Sagen haben, haben offensichtlich den Gaza-Streifen und das Westjordanland als Grundstücke im Auge, die bald für eine künftige Siedlerherrschaft zur Verfügung stehen werden. Wer die etwa zwei Millionen überlebenden Bewohner des Gaza-Streifens regieren wird, ist nicht bekannt, aber eine solche Führung wird von Israel abgesegnet sein. Für die verzweifelten überlebenden Palästinenser wird es keine Selbstverwaltung geben – falls sie in Gaza bleiben dürfen. Eine genaue Zahl der Todesopfer im letzten Kriegsjahr ist noch nicht möglich. Die Schätzungen variieren heute zwischen der offiziellen Zahl des Gesundheitsministeriums von Gaza von mehr als 41000 und wissenschaftlichen Hochrechnungen, die viermal so hoch sind.

… und religiöser Wahn

Netanjahu hat sich klar zur Zukunft der Palästinenser geäussert. Am 28. Oktober letzten Jahres sagte er zu den israelischen Truppen, die in die Schlacht ziehen wollten: «Ihr müsst euch daran erinnern, was Amalek euch angetan hat, sagt unsere Heilige Bibel.» Es war ein Verweis auf ein biblisches Gebot, in dem Gott den Israe-liten die Erlaubnis gab, einen Feind, bekannt als die Amalekiter, vollständig zu vernichten. «Und wir erinnern uns», sagte Netanjahu.
    In Kapitel 15.3 des ersten Buches Samuel befiehlt Gott dem Samuel: «Geh hin und schlage Amalek und vernichte alles, was sie haben, und verschone sie nicht, sondern töte Mann und Frau, Kind und Säugling, Ochse und Schaf, Kamel und Esel.»
    Netanjahu ist mit seinem modernen Fanatismus nicht allein. Am 30. April diesen Jahres griff Bezalel Smotrich, der extremistische israelische Finanzminister und Mitglied des Sicherheitskabinetts, der eng mit Itamar Ben-Gvir, dem ebenso fanatischen Minister für nationale Sicherheit, zusammenarbeitet, auf die Bibel zurück und forderte öffentlich die «totale Vernichtung» von Israels Feinden. Er nannte konkret drei Städte in Gaza, die zerstört werden sollten. «Es gibt keine halben Sachen», sagte er, bevor er das Deuteronomium zitierte: «‹Lösche die Erinnerung an Amalek unter dem Himmel aus! Unter dem Himmel ist kein Platz.›»
    Smotrich sagte unheilverheissend, dass Israel nach der Zerstörung der Hamas «mit Gottes Hilfe die böse Hizbullah im Norden mit einem Schlag beseitigen und wirklich eine Botschaft aussenden muss, dass mit denen, die dem jüdischen Volk schaden, dasselbe geschieht wie mit denen, die uns in der Vergangenheit schaden wollten – sie werden zerstört, zerstört, zerstört. Und das wird noch Jahrzehnte lang nachhallen.»
    Netanjahu hat mit der Bombardierung der «bösen» Hizbullah in Libanon begonnen. Kann jemand am Schicksal des Gaza-Streifens und des Westjordanlandes zweifeln? Ich nicht. Dies ist nicht mehr das zivilisierte Israel, das ich jahrzehntelang besucht und über das ich berichtet habe.
    Achtet irgend jemand im Weissen Haus unter Biden genau auf die Worte von Netanjahu, Smotrich und Ben-Gvir, während Amerika weiterhin mehr Bomben und andere Waffen an ein zutiefst traumatisiertes und terrorisiertes Israel liefert?

1https://www.youtube.com/watch?v=kPE6vbKix6A 

Quelle: https://seymourhersh.substack.com/p/gaza-after-a-year-of-war  vom 8.10.2024

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK