Sich auf den Wert der Neutralität zurückbesinnen

Interview mit Nationalrat Franz Grüter, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission

Zeit-Fragen: Die zentrale Forderung der «Studienkommission Sicherheitspolitik» des VBS ist, «die Kooperation mit der Nato und der EU sowie mit den Nachbarländern auf die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit auszurichten. Die militärische Zusammenarbeit im Ernstfall soll so weit wie möglich vorbereitet und mit den Partnern geübt werden.» Herr Nationalrat Grüter, wird die Schweiz sicherer, wenn sie mit der Nato und der EU zusammen den Krieg übt?

Franz Grüter: Ich glaube, gerade das Gegenteil ist der Fall. Einerseits ist diese Aussage eine Kapitulationserklärung. Denn sie bedeutet, dass unsere Armee gar nicht mehr fähig sei, die Sicherheit der Menschen in unserem Land zu garantieren. Das deckt sich auch mit den Aussagen des Armeechefs, Korpskommandant Süssli, der sagt, die Armee sei nur noch vier Wochen durchhaltefähig. Statt dass Frau Amherd den Fokus darauf richtet zu schauen, wie man die Armee wieder auf die Beine bringt, dass alle ausgerüstet sind, dass sie genügend Material, Bewaffnung, Munition haben, lenkt sie den Fokus komplett in eine andere Richtung und leitet die Teilnahme der Schweiz an Nato-Bündnisfall-Übungen in die Wege.

Nato-Bündnisfall-Übungen: völlig inakzeptabel!

Der Bündnisfall würde eintreten, wenn ein Nato-Mitgliedsstaat angegriffen würde, dann müssten die anderen Länder beistehen. Zum Beispiel müssten wir für den Fall, dass das Nato-Mitgliedsland Türkei angegriffen würde, mit Schweizer Soldaten üben, an der syrischen Grenze zu stehen. Das ist dermassen nicht vereinbar mit unserer bewährten Neutralität, dass man sagen muss: Es ist völlig inakzeptabel, in welche Richtung Frau Amherd die Armee zu lenken versucht.

Viola Amherds Studienkommissions-Bericht setzt noch eins drauf. Da steht schwarz auf weiss: «Die Schweiz hat bei einem Angriff auf ein europäisches Nato-Land und dessen Anrufen der Beistandspflicht nach Art. 5 im Grunde zwei Optionen: Sie kann sich auf ihre Neutralität berufen oder […] ihre Neutralität aufgeben und sich an einer Verteidigung Europas beteiligen.»

Völlig inakzeptabel! Der Nationalrat hat die Teilnahme an Nato-Bündnisfall-Übungen im Juni abgelehnt. Ich hoffe, dass die Ständeräte zur Einsicht kommen und dies ebenfalls tun. [Am 18.9.2024 hat der Ständerat leider gegenteilig entschieden; mw]. Ansonsten ist zu überlegen, ob man den Entscheid zur Teilnahme an Nato-Bündnisfall-Übungen allenfalls mit einem Volksentscheid bekämpfen soll, das ist durchaus eine Option.
    Landläufig gilt die Meinung, die Nato sei ein reines Verteidigungsbündnis. Aber die Nato ist als Angriffsarmee unter der Führung der USA aufgestellt. Das sind keine Theorien, wie das Beispiel Afghanistan zeigt. Der Krieg in Afghanistan wurde 2001 als «Bündnisfall» der Nato begonnen, um eine «Erneuerungsregierung» einzusetzen. Muss sich die Schweiz in Ländern wie Afghanistan militärisch einmischen? Das ist komplett verantwortungslos. Auch die Bombardierung Libyens im Jahr 2011 unter Führung der Nato war ein solches Beispiel. Es wäre sicher nicht im Interesse der Schweiz, dass man in so etwas hineingezogen wird und am Schluss Schweizer Soldaten in Leichensäcken nach Hause kommen. Das ist die Realität.

Nato-Truppentransporte durch den Gotthard?

Laut Bericht der Studienkommission dürfe die Schweiz für die Nato «keine Sicherheitslücke» darstellen und müsse «bereit sein, substantielle Beiträge zur Sicherheit ihrer Partner zu leisten.» Heute geht es vor allem um die Teilnahme der Schweiz an «Military Mobility», einem sogenannten EU-Projekt im Rahmen von Pesco (Permanent Structured Cooperation), das der Bundesrat durchgewinkt hat. Dieses hat zum Ziel, «grenzüberschreitende Truppentransporte durch den Abbau administrativer Hürden zu vereinfachen.» In Wirklichkeit ist «Military Mobility» kein EU-Projekt, sondern ein verdecktes Nato-Projekt. Ich zitiere aus dem Bericht der Studienkommission: «Neben den EU-Mitgliedsstaaten beteiligen sich daran auch die USA, Kanada, Grossbritannien [trotz Brexit] und Norwegen.» Nato-Truppentransporte durch den Gotthard?

So ist es. Pesco ist eine Vorstufe zu einem EU-Verteidigungsbündnis. Aber hier sieht man, dass gar nicht nur EU-Staaten beteiligt sind. Dass die Schweiz sich daran beteiligen will, tönt auf den ersten Blick harmlos. Was das aber konkret heisst, sehen wir sehr gut am Beispiel von Österreich. Ich zitiere einige Zahlen: Im Jahr 2023 erfolgten über 4500 ausländische Militärtransporte durch Österreich, es gab rund 6200 Überflüge ausländischer Militärflugzeuge durch den österreichischen Luftraum. Nato-Truppen passierten das Land zu Manöverzwecken, aber vor allem auch Panzer, Waffen, Munition und andere Rüstungsgüter, die für den Nato-Kriegseinsatz durch die ukrainische Armee bestimmt waren.
    Die Schweiz würde sich mit der Beteiligung an diesem Pesco-Programm in dasselbe Korsett einspannen lassen. Das muss man sich einmal vorstellen: Wenn da plötzlich Tausende von Panzern, Flugzeugen, Truppen durch das Land kämen – das kann ja nicht sein, dass die Schweiz dann noch ein neutraler Staat wäre. Da muss man schon sagen: Wehret den Anfängen!
    Ich glaube, man muss den Leuten aufzeigen, was das für unser Land bedeuten würde. Es ist an der Zeit, dass im VBS ein komplettes Umdenken stattfindet. Solange Frau Amherd im Amt ist, wird das kaum möglich sein. Das zeigen auch die Gutachten, die sie von externen Leuten schreiben lässt. Es gibt ein altes Sprichwort: «Ein Gutachter achtet gut darauf, dass er die Meinung des Auftraggebers erfüllt.» Von daher kann man den Bericht der Studienkommission auch nicht als unabhängig und neutral bezeichnen.

Es ist aber nicht nur Sache des VBS, das Parlament muss auch etwas tun, oder wie sehen Sie das?
Im Parlament gibt es sehr wohl auch kritische Haltungen, es gibt oft aus unterschiedlichen Sichtweisen Allianzen, zum Beispiel zwischen Linken und der SVP. Dass viele Parlamentarier, vor allem in der FDP und in der Mitte, nicht mehr sehen, was unserem Land Frieden gebracht hat – Neutralität ist ja ein Friedensprojekt! – ist für mich völlig unverständlich.1

Neutralitätsinitiative: sich auf
den Wert der Neutralität zurückbesinnen

Die Ausrichtung des VBS zeigt die Geisteshaltung bei einem Teil der Bundesräte und leider auch bei vielen Parlamentariern, denen die Neutralität ein Dorn im Auge ist. Das zeigt auch der neueste aussenpolitische Bericht für die Jahre 2024–2027 des Bundesrates. Dort kommt die Neutralität überhaupt nicht vor, auch nicht die Bedeutung der Schweiz als Standort, wo man Konflikte schlichten könnte. Das geht völlig am heutigen Zustand der Welt vorbei. Gemäss Uno gibt es auf der Welt heute über 150 Kriege, Konflikte, Bürgerkriege, schwelende Konflikte. Ich glaube, da ist es mehr als an der Zeit, sich wieder darauf zurückzubesinnen, was unserem Land in den letzten 200 Jahren Frieden und Sicherheit gebracht hat, und dass es vor allem auch Orte braucht auf dieser Welt, wo sich Streitparteien finden können, wo man vermitteln kann, wo man Gespräche führen kann, wo man miteinander redet. Der Wert der Neutralität – Neutralität ist kein Instrument, sondern ein Wert – wird von diesen Leuten völlig unterschätzt. Deshalb bin ich froh, dass demnächst die Volksinitiative zur Neutralität zur Abstimmung kommt. Ich glaube, am Ende des Tages wird die Schweizer Bevölkerung sagen müssen: In welche Richtung wollen wir gehen?

Einige Teilnehmer in der Studienkommission Amherd brachten zum Ausdruck, dass Gute Dienste und Friedensförderung eng mit der Neutralität verbunden sind, aber andere behaupteten, die Schweiz müsse nicht neutral sein, um Gute Dienste leisten zu können. Was sagen Sie zur Glaubwürdigkeit einer Schweiz, die nicht neutral ist?

Ich glaube, man kann das an sehr banalen Beispielen aufzeigen. Wenn zwei Leute sich streiten und man versucht, diesen Streit zu schlichten, dann leuchtet es wahrscheinlich jedem ein, dass es dazu einen Schlichter braucht, der nicht Partei ist. Wenn der Vermittler für die eine oder für die andere Partei ist, dann wird er nicht akzeptiert und kann diese Rolle gar nicht einnehmen. Solche Streitschlichtungen – in der Aussenpolitik spricht man von den Guten Diensten – können nur funktionieren, wenn der betreffende Kleinstaat nicht selbst Partei wird. Wenn wir an Bündnissen wie der Nato oder der EU teilnehmen, sind wir Partei, sind wir nicht mehr neutral. Und ob wir als neutral anerkannt sind oder nicht, können nicht wir festlegen. Der Bundesrat kann lange sagen: «Wir sind weiterhin ein neutraler Staat». Fakt ist, dass die «New York Times» am 28. Februar 2022 [als die Schweiz die EU-Sanktionen gegen Russland übernommen hatte, mw] meldete: «Die Schweiz hat ihre Neutralität aufgegeben.» In Grossbritannien, in Spanien, in Frankreich waren das die grossen Schlagzeilen. Die Frage ist: Sind wir noch akzeptiert? Wir können hundertmal deklarieren, wir seien noch neutral. Wenn dies in der internationalen Staatengemeinschaft nicht mehr so wahrgenommen wird, dann sind wir es nicht mehr. Sowohl die USA als auch Russland haben klar gesagt, die Schweiz sei nicht mehr neutral. Wir haben uns selbst sehr geschwächt.
    Wir haben immer noch Gebiete, wo wir als neutraler Staat akzeptiert werden. Ich möchte an das Schutzmachtmandat zwischen den USA und dem Iran erinnern, das funktioniert gut. Auch wenn die Schweiz kompatible Waffensysteme kauft, tut das niemandem weh. Aber alles, was darüber hinausgeht, müssen wir klar von uns weisen. Das zeigt, dass wir mit der Politik, die im Moment abläuft, auf dem falschen Dampfer sind.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Nationalrat Grüter.

1 In der Schweiz ist oft nicht die Partei, sondern die einzelne Persönlichkeit massgebend. So hat Mitte-Ständerätin Heidi Zgraggen in der Ratsdebatte zu Nato-Art. 5 eindrücklich Stellung genommen. Zwei weitere Mitte-Ständeräte stimmten ebenfalls gegen Nato-Art.5-Übungen, der Walliser Beat Rieder und der Zuger Peter Hegglin. [Anm. mw]

Wie die Japaner die Schweiz sehen

«Eine kleine Anekdote: Vor zwei Jahren haben wir als Delegation der Aussenpolitischen Kommission – ich war damals deren Präsident – einen Besuch in Japan gemacht. Mich hat es tief berührt, als am Abend, beim Nachtessen, ältere japanische Politiker zu mir kamen und mir sagten, wie Japan es bis heute schätzt und wie sie selbst es unglaublich wichtig empfunden haben, dass die Schweiz sich im Zweiten Weltkrieg auch ihnen gegenüber – Japan war ja ein Aggressor* – immer neutral verhalten hat. Das habe bei ihnen zu einem tiefen Respekt unserem Land gegenüber geführt, bis heute. Als Menschen, die fast 10000 Kilometer von uns entfernt sind, sagten sie: ‹Hebed Sorg zur Neutralität, schaut, dass ihr diesen Weg nicht aufgebt.› Das ist mir in bleibender Erinnerung. Ich habe gespürt, als sie mir das erzählt haben: Das war nicht einfach eine Floskel, das kommt von ganz tief innen.» (Nationalrat Franz Grüter)

* Die Schweiz hatte im Zweiten Weltkrieg Schutzmachtmandate für alle Kriegsmächte, die dies wünschten, auch für Japan. Sie hat Kriegsgefangene besucht, Verwundete ausgetauscht, in allen Kriegsländern. Als neutrale Helferin hat die Schweiz nicht unterschieden zwischen «Opfer» und »Aggressor», und sie darf dies auch heute nicht tun. (mw.)

Im Einklang mit der Neutralität?

US-Militärtransite:
Konvois durchqueren Österreich

«Vom 13. bis 23. August 2024 erfolgen Transite der US-Streitkräfte durch Österreich. Grund dafür ist die ‹Saber Junction› [‹Säbel-Kreuzung›] – eine internationale Übung in Deutschland, an der mehrere Armeen teilnehmen. Die Nato-Übung ‹Saber Junction› – geleitet von der US Army Europe and Africa – findet jährlich statt. Daran nehmen Nato-Länder sowie Partnerländer – darunter Albanien, Belgien, Georgien und Rumänien – teil. Österreich ist nicht beteiligt.
    Im genannten Zeitraum durchqueren etwa 300 Fahrzeuge Österreich. Die Einreise der ersten Fahrzeuge wird über den Grenzübergang Thörl-Maglern (Kärnten) passieren. Die Ausreise nach Deutschland erfolgt über den Grenzübergang Suben (Oberösterreich). […]
    Transits von Angehörigen anderer Streitkräfte durch österreichisches Hoheitsgebiet werden durch das Bundesministerium für Landesverteidigung […] geprüft und im Einklang mit der militärischen Neutralität gestattet. […]»

Quelle: Presseaussendung des Bundesministeriums für Landesverteidigung vom 12.8.2024

Österreich lässt Tausende Nato-
Militärtransporte über sein Territorium zu

«Über 10000 ausländische Militärtransporte und Luftwaffenüberflüge wurden im Vorjahr seitens der österreichischen Bundesregierung verzeichnet. Die Praxis ist neutralitätsverletzend, einige Überflüge waren sogar illegale Luftraumverletzungen. […]»

Quelle: Salzburger Nachrichten vom 21.2.2024. Wiedergegeben unter https://
www.stimmenfuerneutralitaet.at/artikel/

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