VBS will der Schweizer Neutralität den Garaus machen

Zum Bericht der «Studienkommission Sicherheitspolitik»

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

«Die Neutralität ist mit Abstand der wichtigste Grundsatz der eidgenössischen Aussenpolitik. Sie ist die Richtschnur in den grossen aussenpolitischen Fragen. Über die Jahrhunderte hinweg hat sich die Schweiz daran gehalten – und das Ausland hat die Eidgenossenschaft daran gemessen.»1 (Botschafter Paul Widmer)
   Wir sind ja schon einiges gewohnt vom Bundesrat. Aber was sich VBS-Chefin Viola Amherd mit ihrer handverlesenen, grossmehrheitlich Nato-anschlussfreudigen «Studienkommission Sicherheitspolitik» erlaubt hat, sprengt jeden Rahmen.2 Nach 30 Jahren Sägen am Ast der immerwährenden bewaffneten Neutralität der Schweiz durch ausländische Kräfte und – weit schlimmer! – durch gewisse Kreise im Inland, wollen Amherd und ihre Leute der Neutralität endgültig den Garaus machen. Das einzigartige Schweizer Staatsmodell soll der Nato und der EU einverleibt werden.

«Farce» – «Gefälligkeitsgutachten»

Wer den Bericht liest, dem fallen die krassen Resultate der sogenannt demokratischen Abstimmungen der Kommission zu den einzelnen Fragen auf: Meist 18 Stimmen zu 2 oder so ähnlich. Warum muss eine Studienkommission überhaupt abstimmen? Sie ist keine demokratisch legitimierte Institution, sondern eine von Viola Amherd eingesetzte Mannschaft, die deren Politik bestätigt hat. Dass 14 Leute aus der Verwaltung, der Wirtschaft, der Armee usw. und 6 aus dem Parlament stammen3, macht das Gremium nicht ausgewogener. Die paar neutralitätsgeeichten Parlamentarier bezeichneten die Kommissionsarbeit laut der Tageszeitung «Blick» als «Farce» (Nationalrätin Marionna Schlatter, Grüne Partei) oder «Gefälligkeitsgutachten» (SVP-Nationalrat Thomas Hurter), SP-Nationalrat Pierre-Alain Fridez trat vorzeitig aus, laut «Le Temps» vom 22. August 2024 «mit der Zustimmung der Spitze seiner Partei»(!).4 Die sogenannten Grundlagendokumente, meist aus dem VBS oder dem EDA, und die Inputreferate zu den einzelnen Themen sind, wie der Leser leicht feststellen kann, völlig einseitig: Nato-kritische Referenten fehlten gänzlich.    
    Vor diesem Hintergrund sollen hier einige zentrale Punkte aus dem Bericht der Studienkommission aufgegriffen werden. Im Interview mit Franz Grüter, Mitglied der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, kommen mehrere davon zur Sprache (siehe S. 1). Andere müssen noch ausgewertet werden.

«Vertiefte, institutionalisierte
Kooperation mit der Nato»

18 von 20 Leuten in der Studienkommission tun die Neutralität «als Instrument und nicht als Zweck des Staates» ab (S.30). Was für eine Ignoranz! Die immerwährende bewaffnete Neutralität ist entweder unverzichtbare Staatsmaxime der Schweiz, oder das einzigartige Staatsmodell fällt in sich zusammen. Wem die nötigen historischen und staatsrechtlichen Grundlagen fehlen, der gehört weder in den Bundesrat noch in eine mit diesem verbandelte «Expertengruppe».
    «Angesichts der Zeitenwende» sei die schweizerische Neutralitätspolitik zu «revidieren» und zu «flexibilisieren», so die Kommission (S. 28f). Was mit «Flexibilisierung» gemeint ist, erklärte der Bundesrat bereits in einem Bericht vom Januar 2024 – in offener Verweigerung seiner verfassungsmässigen Pflicht zur Wahrung der Neutralität des Landes. Dort legte er nämlich dar, «wie ohne Bündnisbeitritt […] eine vertiefte, institutionalisierte Kooperation im Verteidigungsbereich mit der Nato erreicht werden kann» (S.31; Hervorhebung mw). Im Klartext: Wie schrammt man an der obligatorischen Volksabstimmung vorbei in die Nato?
    Damit die Bevölkerung sich schon einmal auf Nato-Betrieb einstellt, sollen unsere Milizsoldaten künftig gezwungen werden, ihre Dienstpflicht mit Nato-Truppen im Ausland zu leisten, das heisst, die Freiwilligkeit für den Dienst im Ausland soll aufgehoben werden (S.40). Das ist aber nur mit einer Änderung des Militärgesetzes möglich – das Referendum dagegen ist sicher.

Zündeln mit dem Feuer

Auf die Bündnisfallübungen gemäss Art. 5 Nato-Vertrag setzt die Clique in der VBS-Kommission noch eins drauf, sie verlangt nämlich die Beteiligung der Schweiz «an einer gemeinsamen Abwehr ballistischer Lenkwaffen» (S. 40), wohl wissend, dass «eine derartige Kooperation […] ein revidiertes Neutralitätsverständnis voraus(setzt)» (S. 35). Ja, sie zündelt direkt mit dem Feuer eines Nato-Kriegs, in den die Schweiz hineingezogen werden könnte: «Denn schon aus geographischen Gründen muss die Nato das schweizerische Territorium in die Verteidigungsplanung mit einbeziehen», während die Schweiz im Falle eines Angriffs auf ein europäisches Nato-Land «im Grunde zwei Optionen [hat]: Sie kann sich auf ihre Neutralität berufen oder […] ihre Neutralität aufgeben und sich an einer Verteidigung Europas beteiligen.» (S.35) Die «Clique» wird zum Brandstifter.

Schweiz als Handlanger
der Nato-Rüstungsindustrie?

«Rüstungsproduktion und -beschaffungen sind im Interesse der Interoperabilität mit der Nato und der EU abzustimmen. Die darauf ausgerichteten Programme zur Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie […] sind zu nutzen […].» (S. 40) Das Interesse der Schweiz muss aber der Frage gelten, welche Bewaffnung und Ausrüstung unsere Armee braucht, um das eigene Land und die Bevölkerung verteidigen zu können.

Kommission puscht
neutralitätswidrige Waffenausfuhr

Die Kommission fordert «eine längerfristige und weiterreichende Revision des Kriegsmaterialgesetzes als die derzeit im Parlament diskutierte Anpassung […].» (S. 30) So weit kommt’s noch, dass das VBS dem Parlament und dem Souverän den Tarif durchgibt, welches Recht sie setzen sollen.

Der verlogene Dreh mit der «Ausrichtung der Neutralität an der Uno-Charta»

Die Ausrichtung am Völkerrecht, vor allem am Humanitären Völkerrecht, an den Genfer Konventionen und an den Zielen des IKRK gehört zum Wesen der Schweizer Neutralitätspolitik. Die Kommissionsmehrheit spricht aber unter Punkt 2.2.3 (Völkerrechtliche Grundlage) von etwas ganz anderem. Sie versucht den Menschen die Köpfe zu verwirren, indem sie «eine stärkere Ausrichtung der Neutralität an der Uno-Charta» fordert «und somit einer Unterscheidung zwischen dem Aggressor und dem Opfer, dem das Recht auf Verteidigung zusteht» (S. 29).
    Von einer Pflicht der Uno-Mitgliedsstaaten oder gar des Neutralen, zwischen Aggressor und Opfer zu unterscheiden, steht allerdings kein Wort in der Uno-Charta, sie ist frei erfunden. In der Charta steht, welche «Massnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen» der Sicherheitsrat ergreifen kann/sollte (Kapitel VII) und dass jeder Uno-Mitgliedsstaat «das naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung» hat, «bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Massnahmen getroffen hat.» (Art. 51)    
    Die Unterscheidung zwischen «Aggressor» und «Opfer» widerspricht der Neutralitätspolitik der Schweiz diametral, beruhen doch ihre weltweit geschätzten Guten Dienste und besonders die Schutzmachtmandate gerade darauf, allen Kriegs- oder Konfliktparteien, die sich an die Schweiz wenden, humanitäre und diplomatische Hilfe zu leisten. Wenn der Neutrale dazu gedrängt wird, zwischen «Gut» und »Böse» zu unterscheiden, hat er schon verloren.

«Angesichts der Zeitenwende»

Wer in der Schule noch Schweizer Geschichte gelernt hat, weiss, dass der Ukraine-Krieg nicht der erste Konflikt ist, in dem die Schweizer Neutralität in Frage gestellt wird. Ausländische Mächte forderten in zahlreichen Kriegen von der Schweiz, sie habe ihre Partei zu ergreifen. Paul Widmer berichtet, dass es bereits in den napoleonischen Kriegen hiess, «es gehe um einen einmaligen Kampf zwischen Recht und Unrecht. Napoleon war nicht ein gewöhnlicher Feind, er war der ‹ennemi du monde›, der Feind der Menschheit. […] Die Neutralität liess man gelten für traditionelle Kriege – oder das, was man dafür hielt –, aber nicht für den existentiellen Kampf, in welchem man gerade steckte. Entlang dieses Schemas wurde die Schweizer Neutralität immer wieder angefochten.»5
    Franz Grüter bemerkt dazu: «Neutral zu sein ist nichts Bequemes. Es ist viel bequemer, sich einer Seite zuzuschlagen und zu sagen, der andere ist der Böse und das sind die Guten. Deshalb gibt es viele Politiker, welche die Neutralität kaum ertragen können, weil es in der Regel von beiden Seiten Druck gibt.»
    Davon dürfen wir Schweizer uns nicht beirren lassen: Wer die Neutralität als unverzichtbares Identifikationsmerkmal unseres Staates in seinem Inneren trägt, bleibt dabei – zum Wohle unseres Landes und der Welt.

1 Widmer, Paul. Schweizer Aussenpolitik. Zürich 2014, S. 24
Bericht der Studienkommission Sicherheitspolitik 08.2024. https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-102256.html 
3 Bericht. Anhang, S. 64
4 Ballmer, Daniel. «Nutzt Amherd die Kommission nur, um ihren Kurs zu stützen?» in: Blick vom 29.8.2024
5 Widmer, Paul. Schweizer Aussenpolitik. Zürich 2014, S. 27

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