«Die einzige Demokratie im Nahen Osten», «die moralischste Armee der Welt» – wie oft hat man diese Sprachformeln aus dem Munde der Schmeichler des Staates Israel und der scharfen Kritiker des Antisemitismus gehört, die immer schnell die Shoah hervorholen und an Emotionen appellieren, wenn es darum geht, die illegale Besetzung von Gebieten, die wahllosen Bombardierungen von Zivilisten und die Morde an ausländischen Verantwortlichen durch die israelischen Behörden zu legitimieren.
Worthülsen zerbrechen
am Offensichtlichen
Man wusste es, ohne es sich einzugestehen, man ahnte, dass diese Ausdrücke immer falscher klangen. Seit dem 8. Oktober 2023 ist es nicht mehr möglich, sich darüber zu täuschen. Diese Mantras bedeuten nichts mehr und fallen unter reine Propaganda, seit die Regierung in Tel Aviv beschlossen hat, auf den blutigen Angriff der Hamas unverhältnismässig zurückzuschlagen, indem sie das Völkerrecht mit Füssen tritt und Kriegsverbrechen vervielfacht.
Lange Zeit wurde Israel alles verziehen – auf Grund des monströsen Verbrechens des Holocaust, des Rechts auf Selbstverteidigung, des Kampfes gegen den Antisemitismus und der Sympathie für den kleinen David gegen die grossen arabischen Goliaths. Die ethnische Säuberung von 1948, die illegale Annexion der Golanhöhen, die Besetzung des Westjordanlandes, das Freiluft-Konzentrationslager in Gaza, die Schandmauer, die Israel von dem trennt, was der palästinensische Staat hätte sein sollen, die Apartheid der Palästinenser im Westjordanland, die Massaker von Sabra und Shatila, die Invasionen in Libanon, die gezielten Tötungen arabischer Oppositioneller und iranischer Generäle, die Bombardierungen Syriens – all das war weggewischt, vergessen, als Verlust abgeschrieben und als Kollateralschaden abgetan worden, gerechtfertigt durch das Recht Israels, um jeden Preis zu existieren.
Geschichtslose Blindheit
Anfang letzter Woche bot das Gedenken an die von der Hamas am 7. Oktober 2023 verübten Massaker einmal mehr Gelegenheit, Israel in den Medien und bei den westlichen Politikern reinzuwaschen. Es war unglaublich zu sehen, wie in Tausenden von Interviews, Debatten und Berichten zu diesem Ereignis wieder einmal Experten zu Wort kamen, die über alles andere sprachen, nur nicht über die Enteignungen, Ausschreitungen, Vertreibungen, Folterungen und Morde an Hunderttausenden von Palästinensern, und dabei so taten, als hätte es das alles nie gegeben und als träfe die Rache der Hamas wie ein Blitz aus heiterem Himmel auf arme, unschuldige, unbescholtene Menschen.
In Europa und den USA will sich niemand daran erinnern, dass der Angriff vom 7. Oktober eine Antwort auf die wiederholten Provokationen jüdischer religiöser Fanatiker gegen die Al-Aksa-Moschee, die drittheiligste Stätte des Islam, war und dass die Hamas-Operation genau so genannt wurde, um diesen Affront zu rächen. Dass Israel 2018 den offiziellen Namen «Nationalstaat des jüdischen Volkes» angenommen hat und daher den Islamisten keine Lektion in Sachen religiösem Extremismus erteilen muss. Dass die angeblichen Enthauptungen von Babys und Frauen am 7. Oktober 2023 nur eine Erfindung der Propaganda der extremsten jüdischen Siedlerorganisationen gewesen sind.
Die Mehrheit der
Weltöffentlichkeit hat sich entschieden
Allerdings werden diese Blindheit und dieses Leugnen immer unhaltbarer, unerträglich in den Augen derjenigen, die sich die Mühe machen, sich zu informieren. Die Exzesse, die seit zwölf Monaten bei der blinden Unterdrückung der palästinensischen Zivilbevölkerung begangen werden, mit Bildern von Blut und Zerstörung, die trotz Zensur für alle sichtbar sind, führen dazu, dass es nicht mehr möglich ist, diese einseitige und verkürzte Sicht der Dinge zu akzeptieren. In den Augen der weltweiten Mehrheit jedenfalls ist der Mythos der «Oase der Freiheit, die von den Kräften der Tyrannei und des Fanatismus umzingelt ist», zusammengebrochen. In den Vereinten Nationen sah Israel, das bis zum letzten Jahr breite Unterstützung genossen hatte, von Abstimmung zu Abstimmung seine letzten Unterstützer schwinden. Selbst die Marshallinseln und Malawi, die sich immer schnell auf die Seite ihrer ehemaligen Herren USA und Grossbritannien schlagen, haben die Seite gewechselt. Bei der Abstimmung über die letzte Resolution fand sich Washington allein an der Seite Tel Avivs wieder. Das sollte Fragen aufwerfen.
Ich sage dies mit Bedauern für meine israelischen Freunde. Ich bewahre immer noch eine leuchtende Erinnerung an meinen letzten Besuch in Jerusalem, für ein Abendessen zu Ehren von Carl Bernstein, einem der beiden Helden, die es seinerzeit gewagt hatten, den Watergate-Skandal aufzudecken und Generationen von Journalisten inspiriert hatten. Anlässlich dieses Besuches hatte ich auch das Glück, zum brüderlichsten und intensivsten Shabbat eingeladen zu werden, den ich je erlebt hatte, und zwar auf den Terrassen der Altstadt gegenüber der Klagemauer und dem Vorplatz der Moscheen. Junge Soldatinnen in Uniform nahmen mit umgehängten Maschinengewehren daran teil. Soldatinnen, die sich nun mit einer Armee abfinden müssen, die Kriegsverbrechen begeht.
Heute ist es in der Tat nicht mehr möglich, das Ausmass der Greueltaten und Zerstörungen zu ignorieren, die an unschuldigen Menschen, Zivilisten und Kindern begangen werden. Wie kann man um die 815 Zivilisten trauern, die am 7. Oktober 2023 von der Hamas massakriert wurden, und kalt bleiben angesichts der 17000 palästinensischen Kinder, die in einem Jahr von israelischen Bomben getötet wurden?
Diese einfache Frage reicht aus, dass Israel moralisch nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Von nun an haben das Recht, die Wahrheit und die Gerechtigkeit die Seiten gewechselt.
Noch langsam, aber unaufhaltbar:
das Ende auch dieser Apartheid
Die am wenigsten abgestumpften Zionisten beginnen, sich über diese Umkehrung der Wahrnehmung Sorgen zu machen. Die letzten israelischen Regierungen haben «den Staat geschwächt. Anstatt in Wissenschaft, Bildung und den inneren Zusammenhalt zu investieren, haben sie die Ressourcen für den Bau von Siedlungen und unnötige Provokationen verschleudert. Das hat die Institutionen geschwächt, die Gesellschaft gespalten, die Armee unterminiert und dabei die internationale Legitimität des Zionismus ausgehöhlt», wie beispielsweise der Journalist Ari Shavit in der neuesten Ausgabe von Foreign Affairs eingesteht.
Auch das Apartheidregime in Südafrika präsentierte sich in seinen Anfängen als Vorbild für Demokratie im Angesicht der Barbarei und verliess sich dabei auf die westliche Unterstützung. Es hielt diese Ausdruckweise jahrzehntelang erfolgreich aufrecht, bis das Unhaltbare schliesslich vor der Weltöffentlichkeit zerbrach und die Empörung die weissen Machthaber zum Nachgeben zwang. Die Diskriminierung der Schwarzen in den USA folgte demselben Prozess. Es bedurfte einer Rosa Parks und eines Martin Luther King als Kristallisationspunkte für einen Wandel.
Im Falle der Israeli ist man von diesem entscheidenden Wendepunkt noch weit entfernt. Doch nun hat sich die empörte weltweite Mehrheit entschieden und wird nicht mehr vergessen. Früher oder später wird sich diese neue Realität durchsetzen. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.