Wenn ich die Nachrichten höre, ertrage ich die Meldungen vom Leiden Tausender Menschen im Nahen Osten kaum, aber auch die Art unserer Berichterstattung nicht. Da werden Wohnviertel ausgelöscht, wird uns vom Bemühen um Waffenstillstand vorgelogen, und westliche Regierungen fahren fort, modernste Waffen zu liefern – alles unkommentiert. Dies freilich nicht mit dem Einverständnis eines Grossteils der Welt und vieler Bürger. Es fällt nicht leicht, dem offiziellen Verschweigen hierzulande standzuhalten und dabeizubleiben: Ohne monströse regionale und internationale Machtinteressen, bei Achtung der einfachsten Grundsätze der Menschlichkeit, wäre ein friedliches Zusammenleben möglich.
Ganz anders berichtet Karin Leukefeld aus dem Nahen Osten. Sie kennt die jahrhundertealte Kultur der Toleranz in diesem Raum. Kaum irgendwo sonst habe ich eine solche humane Sicht des Zusammenlebens der Menschen, eingebunden in ihre Familien, ihre Gemeinschaft, Geschichte und Kultur gefunden – eine Sicht auf Augenhöhe, die immer die Würde des Gegenübers achtet. Gerade deshalb habe ich ihr Buch «Syrien zwischen Schatten und Licht. Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land» (Zürich 2016) gerade jetzt wieder gelesen. Darin berichtet sie von der Geschichte des Landes seit 100 Jahren. Die korrekte Wortwahl der Mainstream-Medien bedient die Autorin freilich nicht. Sie ist der Wahrheit der Menschen dort verpflichtet. Karin Leukefeld hält sich regelmässig in Syrien oder Libanon auf. Sie kennt die «Nebenstrassen» dieser Länder, besucht viele Orte und Menschen dort immer wieder. So erfährt sie von ihnen, wie sie – unter schwierigsten Umständen – zusammenhalten und den Alltag zu bewältigen versuchen. Syrien, vor 15 Jahren ein aufstrebendes Land mit zunehmend moderner Infrastruktur, nach den Kriegszerstörungen eines der ärmsten Länder unserer Erde, ist heute aus den Schlagzeilen verschwunden, ebenso wie sein «Regime», dem mit diesem Etikett die Schuld an den Verwüstungen des Landes und seiner Kulturgüter zugeschoben wird. Ein Land, das einmal zum «fruchtbaren Halbmond» gehörte, der Wiege menschlicher Zivilisation und von Hochkulturen.
Das Grundanliegen Karin Leukefelds, nach den Lebensumständen, den Zielen und Hoffnungen der verschiedenen Volks- und Religionsgruppen in Syrien zu fragen und den Menschen eine Stimme zu geben, führt zu der Gliederung des Buches in Kapitel, die jeweils einen historischen Teil enthalten und in einem zweiten Teil eine Persönlichkeit porträtieren oder eine Gruppierung herausgreifen. Diese Geschichte der Region, die nach Selbstbestimmung ringt und immer von neuem in das Fadenkreuz globaler Machtinteressen gerät, ist vor dem Hintergrund jahrelanger Recherchen auf eindringliche Weise dargestellt. Zunächst geht die Autorin auf die barbarische Aufteilung des Landes nach dem Ersten Weltkrieg ein, die alle späteren Unruhen und Gewalttätigkeiten hervorgerufen hat.
Die Politik der Kolonialmächte
Karin Leukefeld spricht zu Beginn das Doppelspiel der Kolonialmächte Grossbritannien und Frankreich an, die nach 1918 die nach Unabhängigkeit strebenden ethnischen und religiösen Minderheiten der Region gegeneinander ausspielten. Sie halfen gerade nicht beim Aufbau eines eigenen lebensfähigen Staates, wie es ihre Aufgabe als Mandatsmacht gewesen wäre.
Im Sykes-Pikot-Geheimabkommen von 1916 hatten England und Frankreich die Ländereien des zerfallenden Osmanischen Reichs mit dem Lineal unter sich aufgeteilt. Die Vorgänge und ihre Folgen sind heute hinreichend bekannt. Karin Leukefeld legt ihren Schwerpunkt auf die Arbeit der King-Crane-Kommission von 1919, die im Auftrag des amerikanischen Präsidenten Wilson die Wünsche der Bevölkerung der Region zu ihrer Zukunft erfragte. Im Sinn der Selbstbestimmung der Völker sollten die Umfrageergebnisse in einem Bericht festgehalten und an der Pariser Friedenskonferenz 1919 vorgetragen werden. Was waren die Vorstellungen? (S. 24)
Die Pariser Friedenskonferenz ignorierte jedoch das Versprechen von einem unabhängigen arabischen Staat, der Bericht der Kommission blieb unbeachtet, die Region wurde aufgeteilt. «… jahrhundertealte familiäre, kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen wurden getrennt.» (S. 25) Dieser «Friedensschluss» im Sinne der neuen Mandatsmächte Frankreich und Grossbritannien beendete den Frieden in der Region. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg zogen sich die fremden Armeen zurück. Frankreich hatte mit seiner Politik des «Teile und herrsche» für die multikulturelle Region keinen Weg des gemeinsamen Aufbaus gefördert. Er musste mühsam errungen werden.
Neben der aufschlussreichen Darstellung der geschichtlichen Abläufe in Syrien auf dem Weg zu mehr Unabhängigkeit ist für mich das Hauptgeschenk dieses Buches die Abbildung der Lebenswege von Vertretern verschiedener politischer oder religiöser Strömungen, z.B. des Juristen George Jabbour, Mitglied der Baath-Partei und als Regierungsberater ein Botschafter der religiösen Toleranz. «Wir alle fühlten uns als Teil des syrischen Gewebes» (S. 103), beurteilt er seinen Werdegang. Ein anderer Zeitzeuge, Ali Boray, Ingenieur, Sohn einer tscherkessischen Einwandererfamilie, wurde auf dem Golan geboren. «‹Fünfzehn Prozent der Leute auf den Golanhöhen waren Tscherkessen, die anderen waren Beduinen, Christen, Drusen, Turkmenen. Wir lebten wie eine grosse Familie›, erinnert sich Ali Boray.» Er weiss, wie es ist, seine Heimat durch Krieg zu verlieren. (S. 135)
Aus den anteilnehmenden Gesprächen Karin Leukefelds mit Menschen oder Personengruppen sei eines herausgegriffen. Zur Situation ab 2011 berichtet die Autorin von einem Freundeskreis junger Syrer (S. 280ff.). Für fünf Freunde, eine Frau und vier junge Männer, spielte ihre unterschiedliche religiöse Herkunft keine Rolle, es ging ihnen um Dialog, Toleranz und Respekt:
Amer, christlicher Syrer, hatte erfolgreich als professioneller Übersetzer gearbeitet.
Jihad, Sohn einer palästinensischen Familie, Muslim, setzt seine Hoffnung auf Bildung.
Julia, Studentin, westlich gekleidet, ist Ismailitin, gehört einer für ihre liberale Haltung bekannte Gemeinschaft schiitischer Muslime an.
Salim, in seiner Freizeit Schauspieler, wohnt in einem christlichen Viertel in Damaskus.
Safwan, Intellektueller durch und durch, ist Druse. Sein Vater ist Religionsgelehrter, der ihm Toleranz vorlebt.
Ihre Treffen fanden statt, um Ideen und Einschätzungen zur Lage in Syrien auszutauschen. «Alle wollen politische Veränderungen in Syrien, alle waren gegen Gewalt, als wir uns das erste Mal begegneten.» (S. 281). Die Autorin nimmt Anteil am Leben und an den Gedanken der jungen Leute als genaue Beobachterin der Situation, ohne die Aussagen zu bewerten.
Beginn als Bürgerkrieg
Aus den Gesprächen entsteht ein differenziertes Bild der Gesellschaft, in der nach den Unruhen in Deraa im März 2011, die zunächst von Sympathie begleitet waren, eine Welle von Gewalt ausbrach. Zu Beginn der Unruhen gingen viele auf die Strasse, um ihre Solidarität mit den Jugendlichen von Deraa auszudrücken. Präsident Assad versuchte zu schlichten, er räumte Fehler ein. Doch die Gewalt breitete sich aus. In der Türkei gründeten Deserteure der syrischen Streitkräfte eine «Freie syrische Armee». Viele Syrer warnten vor der eskalierenden Gewalt und der wachsenden ausländischen Einmischung in den innersyrischen Konflikt. Auf Grund der Kämpfe wurden begonnene Projekte mit Deutschland gekündigt. Tausende Syrer verloren ihre Arbeit. Auch Amer war betroffen, seine Übersetzungen brauchte niemand mehr. Als schliesslich Bomben in Damaskus explodierten, schlossen die Botschaften. Es gab politische Neuerungen, sie waren jedoch nicht weitreichend. So blieben viele unzufrieden. Nach einem kurzen Waffenstillstand griffen erneut bewaffnete Gruppen Damaskus und Aleppo an, Armee und Sicherheitskräfte mussten dagegenhalten. Wie sah es bei den Freunden ein Jahr nach Beginn des Konflikts aus?
2012: Julia hatte ihr Zuhause verloren, sie wurde zur Inlandsvertriebenen. Nicht einmal ihre Wohnung, die sie und ihr Verlobter eingerichtet hatten, durfte sie ausräumen, die Polizeistation, nun kontrolliert von der «Freien syrischen Armee», gab die Erlaubnis nicht, wohl, weil sie Ismailiten seien. Ihre Familie musste viel Leid erfahren.
Die Freunde, betroffen von der Schilderung, waren von Anfang an skeptisch gegenüber der Gewalt gewesen und ordneten die bewaffneten Gruppen in Damaskus als Terroristen ein. Überall gab es nun Kampfhandlungen, die Stadtbevölkerung verliess die Häuser nicht mehr, die Geschäfte schlossen, viele flohen nach Beirut. Alle lebten in einem Klima von Angst, besonders in den grossen palästinensischen Flüchtlingslagern nahe Damaskus.
Die jungen Leute diskutierten ihre zum Teil unterschiedlichen Standpunkte noch immer offen. Die Opposition bestehe aus sehr unterschiedlichen Gruppen, Islamisten und die Muslimbruderschaft gewönnen an Einfluss. Amer fürchtete einen Stellvertreterkrieg regionaler und internationaler Kräfte. Er habe Angst, dass der politische Islam sich durchsetzen werde. 65 Prozent der Bevölkerung seien sunnitische Muslime, für die Islamisten sei es einfach, sie zu mobilisieren. Die Freunde lehnten die Gewalt in Syrien ab. «Ich werde nie zu einer Waffe greifen, und ich werde bis zum Ende eine politische Lösung verteidigen», meinte Jihad (S. 290).
Eskalation
Im Sommer 2012 eskalierte der Konflikt. Die fünf Freunde blieben nicht untätig, sie engagierten sich in der Flüchtlingshilfe, in Versöhnungskomitees, in einem neu gegründeten Kulturverein. Aber die Gewalt ging weiter. Die humanitären Tätigkeiten der jungen Leute, auch ihre Treffen waren sehr erschwert. Julia wollte bald heiraten. Niemand sei trauriger als sie über die Zustände, aber das Leben müsse weitergehen.
2013 fand nach langer Pause ein Treffen mit Jihad statt. Er hatte mit seiner Familie aus dem Lager fliehen müssen, wo er aufgewachsen war. 150 000 Palästinenser und 700 000 Syrer hatten dort gelebt. «Es war eine Tragödie, und wir durchlebten noch einmal, was 1948 geschehen war, die Diaspora.» (S. 293) Die Familie hatte wieder alles verloren und wurde auseinandergerissen. Jihad sah die Freunde nur noch selten. Der Optimismus des Anfangs sei allen verlorengegangen. Die Revolutionäre hätten Macht, nicht Freiheit und Demokratie zum Ziel. Die Syrer seien benutzt und aus dem Ausland aufgestachelt worden. Er fragte sich, wie die Menschen in Zukunft noch zusammenleben könnten.
Herbst 2013: Was war aus dem Aufbruch der ersten Tage geworden nach anderthalb Jahren Krieg im Land? Gab es die Forderung nach mehr Freiheit und politischer Veränderung noch? Safwan erklärte: Die meisten Syrer schauten nur noch zu, sie könnten nichts mehr für eine Besserung tun. Die Stimmung sei vom Krieg bestimmt. Safwan arbeitete nach wie vor in einem Versöhnungskomitee.
Im März 2014 hatten sich die Freunde aus den Augen verloren. Amer erzählte, dass viele das Land verlassen hätten. Die Zukunft sei düster. Im Herbst reiste auch er aus, in die Niederlande. Er war bedroht worden und wagte den Neuanfang im fremden Land. Auch Jihad hatte sich mit seiner Mutter und den Schwestern auf den gefährlichen Weg nach Europa aufgemacht.
Im Bericht der Autorin werden Lebenswege einer Generation im Krieg beschrieben. Die Freunde helfen zunächst aktiv mit, die Kriegsfolgen erträglicher zu machen. Ihre Hoffnungen werden jedoch nicht erfüllt, so dass oft nur der Weg ins Ausland bleibt. Es sind Schilderungen, die die Leser sehr nahe an das Geschehen heranführen, immer bestimmt durch den Dialog mit den Menschen, die als Zeitzeugen selbst die Deutung übernehmen.
* * *
Den eigenen Weg gehen
Karin Leukefelds Bericht ist hochaktuell. Syrien als ein Land, das nicht zum Vasallen werden und die eigene Kultur bewahren will, zahlt einen hohen Preis. Teile sind noch immer besetzt, das Land wird «sanktioniert», tägliche Bombardierungen rufen keinen internationalen Protest hervor. Dennoch ist der Wille, den eigenen Weg zu gehen, geblieben. Die Präsidialrepublik Syrien wurde 2023 wieder als Mitglied der Arabischen Liga aufgenommen – ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft.
Karin Leukefeld lässt uns mit dem Buch an ihrem profunden Wissen über die Region teilhaben und gibt uns Einblick in die Hintergründe der heutigen Lebensumstände der Bevölkerung. Sie musste von ihrem Anliegen, als Journalistin Brückenbauerin zwischen den Kulturen zu sein, zu ihrer Haupttätigkeit heute, Kriegsberichterstattung, wechseln. Und dennoch: Sie versteht es, auch heute die Menschen der Region in ihrer Würde, ihrer Mitmenschlichkeit und ihrer Bereitschaft, zu helfen und wieder aufzubauen, zu Wort kommen zu lassen.1 Wer würde dem Land und den Persönlichkeiten, die Karin Leukefeld uns nahebringt, nicht endlich Frieden wünschen? •
1 vgl. den Artikel von C. und J. Irsiegler zu diesem Buch in Zeit-Fragen Nr. 16 vom 19. Juli 2016, regelmässige Berichte zu den grauenhaften Vorgängen heute und zu ihrer politischen und rechtlichen Einordnung von Karin Leukefeld in Zeit-Fragen, auch bei Global Bridge oder Zeitgeschehen im Fokus
Deraa
Deraa war Ausgangspunkt der ersten Proteste gegen die Regierung Baschar al-Assads und wurde zum Anstoss der gewalttätigen Unruhen in Syrien. Im Februar 2011 wurden 15 Jugendliche in Deraa festgenommen und beschuldigt, regierungskritische Parolen an das Schulgebäude gemalt zu haben. Die Eltern der Jugendlichen berichteten, ihre Kinder seien im Gefängnis misshandelt worden. Im Bereich der Al-Omari-Moschee kam es daraufhin im März 2011 zu Protesten und in der Folge zur Erstürmung der Moschee durch Sicherheitskräfte. Dabei gab es mehrere Tote und Verletzte. Das löste im ganzen Land Demonstrationen aus.
Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.