Israel und seine Nachbarschaft

Ein Dialog von Patrick Lawrence mit Chas Freeman

pl. Warum schweigen die westasiatischen Länder, die vor langer Zeit ihre Unterstützung für die palästinensische Sache zugesagt haben, angesichts der terroristischen Angriffe Israels auf den Gaza-Streifen, das Westjordanland und jetzt Libanon? Wo sind die Russen und Chinesen geblieben? Ist es nicht an der Zeit, dass nicht-westliche Länder ihre Solidarität zeigen? Können wir sie nicht als Gegengewicht zu der unentschuldbaren Unterstützung sehen, die die USA und ihre Klienten dem zionistischen Regime gewähren? Was können wir in Zukunft von den BRICS-Staaten erwarten, deren Mitglieder – es sind jetzt neun, zu denen 13 «Partner»-Nationen hinzugekommen sind – gerade einen Gipfel in Kasan abgeschlossen haben?
  Das sind meine Fragen ein Jahr nach den Ereignissen vom 7. Oktober 2023. In der Annahme, dass andere sie auch stellen könnten, habe ich diese Fragen an Chas Freeman, den angesehenen ehemaligen Diplomaten, gerichtet. Wer könnte sie besser beantworten als er?
  Andrew Bacevich, «der dissidente Oberst», wie ich ihn nenne, sagte mir einmal – das war während des politischen Wahlkampfs 2016 –, er sei der Meinung, dass Freeman der nächste Aussenminister werden sollte. Es wird Sie nicht überraschen zu erfahren, dass er der Herausgeber des Encyclopedia Britannica Artikels über «Diplomatie» ist.
  Hier folgt unser ausführlicher Austausch per E-Mail.

Patrick Lawrence: Eine deutsche Zeitung veröffentlichte kürzlich ein Interview mit dem ägyptischen Aussenminister Sameh Shoukry, der seine tiefe Frustration über die Amerikaner zum Ausdruck brachte, während Israel seinen Angriff auf den Gaza-Streifen – und nun auch auf das Westjordanland und Libanon – fortsetzt. Mit den Amerikanern kann man nicht zusammenarbeiten, beklagte er sich wortreich: Sie sagen das eine, meinen es selten so und tun meist etwas ganz anderes.
  Dies veranlasst mich zu meiner ersten Frage im Zusammenhang mit der sich ausweitenden Krise in Westasien: Bitte kommentieren Sie die diplomatischen Positionen der amerikanischen Verbündeten in der Region. Was geht ihnen im allgemeinen durch den Kopf? Warum haben sie nicht energischer auf den israelischen Angriff reagiert? Sind sie einfach «gekauft», auf die eine oder andere Weise? Oder steckt mehr dahinter?

Keine
 «diplomatischen Verbündeten» mehr

Chas Freeman: Die Vereinigten Staaten haben keine «diplomatischen Verbündeten» mehr in der Region. Die Wut der Bevölkerung über die amerikanische Unterstützung der israelischen Bestrebungen, die arabische Bevölkerung in Palästina loszuwerden und in den Gaza-Streifen und Libanon zu expandieren, macht eine Annäherung an Washington für die arabischen Machthaber politisch zu kostspielig.
  Die Verderbtheit Israels hat jede Aussicht auf normalisierte Beziehungen der arabischen Staaten zu Israel zunichte gemacht. Diejenigen, die ihre Beziehungen zu Israel normalisiert haben, stehen nun unter dem Druck der Öffentlichkeit, diese auszusetzen oder rückgängig zu machen. Noch wichtiger ist, dass die arabischen Golf-Staaten erklärt haben, dass sie in jedem Konflikt zwischen dem Iran, Israel und den Vereinigten Staaten neutral sein werden. Israels Völkermord im Gaza-Streifen hat zu einem Kriegszustand zwischen Israel und dem Jemen geführt und eine Annäherung zwischen dem zuvor entfremdeten Ägypten und der Türkei begünstigt.

Hamas und PLO

Es wurde gesagt, dass die Nachbarländer in der Vergangenheit mehr Sympathien für die PLO hatten als für die Hamas, weil die PLO eine säkulare Organisation sei und die Hamas nicht. Stimmt das, und wenn ja, spielt diese Unterscheidung heute noch eine Rolle?
Die Hamas ist ein Ableger der Muslimbruderschaft, einer islamistischen Demokratiebewegung. Sie kam durch einen Wahlsieg im Jahr 2006 in Palästina an die Macht. Die Hamas-Führer vertreten den Standpunkt, dass die arabischen Gesellschaften von denjenigen regiert werden sollten, die an den Wahlurnen Unterstützung finden, und nicht von Prinzen, Generälen, Diktatoren oder Schlägern. Arabische Machthaber, die in diese autoritären Kategorien fallen, empfinden diese Position natürlich als bedrohlich.
  Die Religion ist kein wichtiger Faktor in den Beziehungen der arabischen und muslimischen Staaten zur Hamas. Wie die arabischen Herrscher sind auch die Hamas sunnitische Muslime. Die Differenzen zwischen den arabischen Herrschern und der Hamas sind weitaus geringer als die Differenzen mit der atheistischen Führung der PLO. Der Iran, der schiitisch ist, war der Hauptunterstützer der Hamas – nicht aus religiösen Gründen, sondern um die palästinensische Selbstbestimmung zu unterstützen.

Können Sie in diesem Zusammenhang auf einige spezifische Länder eingehen? Mohammed bin Salman, der saudische Kronprinz, hat vor kurzem erklärt, dass eine Annäherung zwischen Riad und Tel Aviv erst dann in Frage kommt, wenn die Palästinenser einen Staat mit Ostjerusalem als Hauptstadt haben. Was steckt dahinter? Wo stehen die Emirate, insbesondere Katar, in der israelisch-palästinensischen Frage?
Die arabischen Golf-Staaten bekräftigen alle, dass die Palästinenser ein Recht auf Selbstbestimmung haben, und unterstützen eine Zwei-Staaten-Lösung für Palästina. Sie sehen sich zunehmender Kritik der Öffentlichkeit ausgesetzt, weil sie nichts Konkretes getan haben, um dieses Ziel zu erreichen. Die letzte Umfrage zur saudischen Meinung über die Normalisierung mit Israel, die ich gesehen habe, ergab, dass 94 Prozent dagegen sind. Die meisten plädieren jetzt dafür, dass die arabischen Staaten, die diplomatische Beziehungen zu Israel aufgenommen haben, diese nun abbrechen sollten.
  Der Status von Jerusalem ist ein wichtiges Thema für die zwei Milliarden Muslime in der Welt. Die Übergriffe auf die Al-Aksa-Moschee und die Forderungen fanatischer Mitglieder des israelischen Kabinetts zur Judaisierung der Moschee sind für arabische Muslime und Christen gleichermassen zutiefst beleidigend.

Ausstand bei der
UN-Generalversammlung

Ich habe mich gefreut, ich gebe zu, sogar sehr gefreut, als ich ein Video von der Massenflucht vor der UN-Generalversammlung sah, als Netanjahu am 27. September das Podium der Generalversammlung betrat. Ich halte dies für einen wichtigen Moment, und deshalb habe ich einige Fragen an Sie dazu. Wie haben Sie diesen Anlass wahrgenommen und wie haben Sie darauf reagiert?
Die abscheulichen Taten Israels haben es zur meistgehassten Gesellschaft auf dem Planeten gemacht. Netanjahu wird als moralisches Äquivalent von Adolf Hitler gesehen, und Israel ist überall ausserhalb des Westens ein Paria. Ausser einer schwindenden Schar amerikanischer Politiker möchte niemand mehr in Israels oder Netanjahus Gesellschaft gesehen werden. Der Ausstand war praktisch unvermeidlich und wurde nur geringfügig dadurch ausgeglichen, dass Netanjahu israelische Fans importierte, die seine zahlreichen Umkehrungen von Wahrheit und Lüge beklatschten.

Ich frage mich, wer eigentlich zu dieser Gruppe gehörte. War es eine breite Versammlung von nicht-westlichen Mächten, die gegangen ist? Fast die gesamte Mitgliedschaft der neuen «globalen Mehrheit» – des sogenannten «Globalen Südens» – scheint gegangen zu sein und nur ein isoliertes Kontingent aus dem Westen zurückgelassen zu haben.
  Ausserdem handeln die UN-Botschafter in der Regel nicht ohne die Genehmigung ihrer Ministerien. Können wir davon ausgehen, dass dies auch bei der Arbeitsniederlegung der Fall war? Es war im voraus klar, was getan werden würde, vielleicht in einem gewissen Mass koordiniert? Und sagt uns das etwas?
Sie haben wahrscheinlich recht, dass es eine vorherige Konsultation mit den Hauptstädten gab, aber Israel wird inzwischen international so sehr verachtet, dass dies kaum notwendig gewesen wäre. Antizionismus ist fast überall ausserhalb des Westens zu guter Politik geworden.

Die westasiatischen Länder

Können Sie über westasiatische Länder sprechen, die weder Verbündete noch Kunden der Amerikaner sind? Iran, Irak, Syrien, Türkei: Wie haben sie auf die Gaza-Krise reagiert – oder auch nicht – und wie werden sie Ihrer Meinung nach reagieren, wenn sie sich ausweitet?
Israels Aktionen im Gaza-Streifen, in Syrien, im Jemen und jetzt in Libanon sowie seine Bemühungen, einen sich ausweitenden regionalen Krieg in Westasien zu provozieren, haben das bisher Unmögliche erreicht. Sie haben die Schiiten mit den Sunniten vereint und die saudi-iranische Annäherung gefestigt. Je grösser die Grausamkeit Israels gegenüber seinen gefangenen arabischen Bevölkerungen und Nachbarn, desto stärker wird die Koalition gegen Israel. [Das Königreich Saudi-Arabien und die Islamische Republik haben ihre Beziehungen nach einem langen Bruch wieder aufgenommen, nachdem sie im März 2023 unter chinesischer Schirmherrschaft Gespräche geführt hatten.]

Die grosse Frage, die sich viele Menschen stellen, ist, warum es seit den Ereignissen vom 7. Oktober so wenig wirksame Reaktionen auf Israels barbarisches Verhalten gegeben hat, selbst auf diplomatischer Ebene.
  Die Arabische Liga hat einige deutliche Erklärungen abgegeben, die jedoch nicht viel gebracht haben. Als Israels Grausamkeit im letzten Herbst deutlich wurde, zogen einige lateinamerikanische Staaten ihre Botschafter zurück oder brachen die Beziehungen ganz ab. Die Südafrikaner haben den juristischen Weg beschritten, was sehr ehrenhaft ist. Aber abgesehen davon ist nicht viel los.
  Warum das Schweigen, die Zaghaftigkeit, wie auch immer Sie es nennen wollen? Es scheint, als ob «die ganze Welt zuschaut, aber die ganze Welt nichts tut». Geht es hier um die Frage der Macht Amerikas?

Warum das Schweigen
und die Zurückhaltung?

Chas Freeman: Ich glaube, es ist ein Beweis dafür, dass, wie das Sprichwort sagt, niemand mit einem Stinktier in einen Pinkelwettbewerb geraten will. Das gilt insbesondere dann, wenn das Stinktier von einem so mächtigen und zu Zwangsmassnahmen neigenden Land wie den Vereinigten Staaten unterstützt wird. Die Befürworter des Zionismus haben den wohlverdienten Ruf, ihre Kritiker böswillig zu verleumden und sie zu ächten. Das schüchtert die meisten Menschen und Regierungen ein.
  Aus taktischen Gründen haben sich die Länder, von einigen wenigen ehrenwerten Ausnahmen abgesehen, dafür entschieden, die Hände in den Schoss zu legen und so sitzen zu bleiben. Aber die strategischen (d.h. langfristigen) Auswirkungen von Israels Selbstdelegitimierung werden weitreichend sein. Das Völkerrecht und die globale Mehrheit mögen von risikoscheuen Regierungen vorübergehend beiseite geschoben worden sein, aber die Toleranz der Öffentlichkeit gegenüber Israel als Täter des Bösen wird eindeutig immer dünner.
  Die Kluft zwischen den etablierten politischen Eliten und der empörten Massenmeinung wird immer grösser und destabilisiert die Politik sowohl in demokratischen als auch in nicht-demokratischen Gesellschaften. Die Forderungen nach einer Re-Demokratisierung der westlichen Gesellschaften und einer Bestrafung Israels werden immer lauter. Die «BDS»-Bewegung – Boykott, Desinvestition und Sanktionen – ist auf dem Vormarsch, so wie sie es schliesslich auch gegen die weitaus mildere Form der Apartheid in Südafrika tat, die früher vom Westen geduldet wurde.

Die Europäer

Kommen wir nun zu den Europäern, insbesondere zu den Briten, Franzosen und Deutschen: Müssen wir zu dem Schluss kommen, dass es sich bei diesen Nationen einfach um Vasallenstaaten handelt, oder ist ihre Position vielschichtiger?
Jeder ist anders. Die Deutschen sind von Schuldgefühlen wegen des antisemitischen Holocausts zerfressen und überkompensieren dies, indem sie Israel, das als Ergebnis dieser europäischen Greueltat entstanden ist, Immunität gewähren. Die Briten und Franzosen haben, wie die Vereinigten Staaten, eine Politik, die von sehr effektiven zionistischen Lobbys und Medien kontrolliert wird, die sich selbst zugunsten Israels zensieren. Ironischerweise sehen einige europäische Länder mit einer faschistischen, antisemitischen Vergangenheit und einer aktuellen Neigung zu fremdenfeindlichem Autoritarismus die gegenwärtige israelische politische Kultur in mancher Hinsicht als ähnlich zu ihrer eigenen an. Und die Islamophobie ist ein wachsender Faktor in der europäischen Christenheit.

BRICS, China und Südafrika

Wir kommen zu den grossen nicht-westlichen Mächten: Die Russen, die Chinesen, die Inder, wenn man sie dazuzählen will, die Brasilianer. Von ihnen hätte ich mittlerweile mehr erwartet. Die Chinesen haben dieses Treffen der verschiedenen palästinensischen Fraktionen einberufen – kurz vor der Ermordung von Ismail Haniyeh am 31. Juli. Es schien mir eine typische Geste der Nation zu sein, die vorgibt, nach den Fünf Prinzipien von Zhou Enlai zu leben. 
  Was denken Sie darüber, wie die grossen nicht-westlichen Mächte bisher auf die Krise in Westasien reagiert haben?
Diese Länder bemühen sich um den Aufbau einer Alternative zu der zunehmend machtlosen Struktur der Vereinten Nationen und ihrer ins Abseits gedrängten Regulierungsbehörden wie der WTO. Die BRICS-Gruppe (grosse Gruppe nicht-westlicher Mächte) begann als Protestbewegung gegen die globale Vormachtstellung der USA und der G7. Sie entwickelt nun das Potential, Ad-hoc-Versammlungen einzuberufen, die ausserhalb des UN-Rahmens Regeln aufstellen können, bis die UN reformiert und reorganisiert wird, um ihre Effizienz wiederherzustellen.
  Die chinesischen Friedensbemühungen in Westasien und Osteuropa werden von den anderen Mitgliedern der BRICS unterstützt. Es ist bezeichnend, dass Südafrika – das «S» in BRICS – die Klagen gegen den israelischen Völkermord sowohl vor dem Internationalen Gerichtshof als auch vor dem Internationalen Strafgerichtshof eingereicht hat. Wir sehen die allmählich wachsende Bereitschaft der entkolonialisierten Länder, den Westen auf seine heuchlerisch verkündeten Ideale zu verpflichten.

Was sehen Sie auf der diplomatischen Seite voraus? Da die Israeli in Libanon eine neue Front eröffnet haben und es keine Anzeichen dafür gibt, dass die westlichen Mächte anders reagieren werden, muss man sich fragen, ob wir es mit etwas zu tun haben, das ich als grenzenlose Straflosigkeit bezeichne, Straflosigkeit ohne Ende. Welchen Einfluss, welche Auswirkung können andere Nationen auf die westasiatische Krise zum jetzigen Zeitpunkt haben?
  Wenn Sie möchten, denken Sie bitte insbesondere an den Nicht-Westen. Können wir von diesen Nationen mehr erwarten als das, was wir bisher gesehen haben? Die Frage ist meines Erachtens besonders wichtig, weil sie mit dem grösseren Thema der «neuen Weltordnung» zu tun hat und damit, was ein solcher Begriff letztendlich bedeuten kann oder auch nicht.

Der «Aufstieg des Rests» ist Realität

Chas Freeman: Ich sehe, dass die Welt jenseits des Westens immer mehr auf die Einhaltung globaler Normen durch den Westen drängt, je mächtiger und wohlhabender er wird. Der «Aufstieg des Rests», wie Fareed Zakaria es formulierte, ist eine Realität. Das globale Gravitationszentrum hat die euro-atlantische Region verlassen.
  Die Mittelmächte werden unabhängiger und durchsetzungsfähiger bei der Verteidigung ihrer eigenen Interessen und sind dem Club der imperialistischen Mächte, der die G7 bildet, weniger unterwürfig. Und obwohl die Politik der ehemals kolonialisierten Länder oft von den Nachwirkungen der Kolonialzeit beherrscht wird, sind ihre Forderungen ebenso wie ihre Unabhängigkeitskämpfe von Ideen inspiriert, die sie vom Westen übernommen haben.
  In den meisten Fällen wollen sie die globalen Normen, die in der Zeit der westlichen Vorherrschaft eingeführt wurden, eher bekräftigen als aufheben. Sie versuchen also nicht, die ererbte Ordnung zu stürzen, sondern die Einhaltung ihrer Ideale wiederherzustellen. Die Wahrnehmung der USA, dass sie «revisionistisch» sind, hat eine Grundlage, aber die Ablehnung ihrer Forderungen durch die USA beruht auf dem Wunsch, eine hegemoniale Rolle in der globalen politischen Ökonomie zu behalten und der Fähigkeit, Gewalt anzuwenden, um genau die Normen ausser Kraft zu setzen, die die Amerikaner mitgestaltet haben und immer noch zu unterstützen behaupten.

Die politische Ohnmacht der Uno

Nur noch eine Frage in diesem Zusammenhang. Es wird jetzt wieder von einer grundlegenden Reform der Vereinten Nationen gesprochen, und obwohl dies kein neues Thema ist, scheint der Diskurs jetzt ernster zu sein – vielversprechender. Auf der Generalversammlung in der vergangenen Woche wurde ein grosses Problem klar und deutlich aufgezeigt: Die Generalversammlung kann Empfehlungen aussprechen, aber die gesamte Exekutivgewalt liegt bei den fünf Mitgliedern des Sicherheitsrats. Dies ist ein struktureller Fehler, wenn Sie so wollen, der auf die Gründung der Uno zurückgeht.
  Richard Falk und Hans-Christof von Sponeck, zwei massgebliche Persönlichkeiten mit langjähriger Erfahrung als hochrangige UN-Beamte, haben gerade «Liberating the United Nations: Realism with Hope» (Stanford) veröffentlicht. Ich halte dies für ein wichtiges Buch.
  Können Sie laut über die sich ausbreitende Krise in Westasien nachdenken und darüber, was im Zusammenhang mit dieser neuen Bewegung für eine Reform der Vereinten Nationen getan werden könnte?
Ein wenig diplomatische Phantasie ist dringend erforderlich. Es gibt nichts im internationalen Recht, was die Ad-hoc-Zusammenkunft gleichgesinnter Länder zur Abstimmung von Politiken und Praktiken ohne Rücksicht auf die Vereinten Nationen verhindern würde. Die Vereinten Nationen zeigen ein Mass an politischer Ohnmacht, das dem des Völkerbundes angesichts der faschistischen Aktionen in den 1930er Jahren in China, Äthiopien und Mitteleuropa ähnelt. Es bleibt zu hoffen, dass die Reform oder die Ablösung der Uno nicht einen Weltkrieg erfordert, wie er nötig war, um den Völkerbund durch eine neue und – eine Zeit lang – effektivere Organisation zu ersetzen.
  Wie ich angedeutet habe, scheinen sich die BRICS zu einer Institution zu entwickeln, die neue und gerechtere Systeme der globalen Governance hervorbringen könnte. Aber ob dies nun der Fall ist oder nicht, die Notwendigkeit, sich auf gemeinsame Ziele zu konzentrieren und kollektive Massnahmen zur Verfolgung dieser Ziele zu entwickeln, ist dringend. Falk und von Sponeck sind einer wichtigen Sache auf der Spur.

Die BRICS-Staaten haben gerade ein Gipfeltreffen in Kasan an der Wolga im Südwesten Russlands abgehalten. Ich fand den Zeitpunkt, wenn auch nur vage, bezeichnend für eine künftige Weltordnung, die sich darauf vorbereitet, eine untergehende Ordnung zu ersetzen. Die Berichterstattung in der westlichen Presse war natürlich fast schon grotesk missgünstig, und ich lese so etwas immer als ein Zeichen für die Unsicherheit des Westens. Haben Sie eine Meinung zum Gipfel und seiner Bedeutung?
  Die grosse Neuigkeit, die von dem Treffen in Kasan ausgehen sollte – so dachte ich jedenfalls – war die offizielle Ankündigung einer strategischen Partnerschaft, vielleicht sogar eines Bündnisses, zwischen Russland und der Islamischen Republik. Dies hätte enorme Auswirkungen auf die Westasien-Krise. Aber ich habe nichts über die Beziehungen zwischen Moskau und Teheran gesehen. Haben Sie dazu eine Idee?

BRICS – statt militärischer Abschreckung
diplomatischer Dialog und Kooperation

Chas Freeman: Es überrascht nicht, dass diejenigen, die eine militarisierte Aussenpolitik verfolgen, die BRICS als einen «Block» wie die G7 oder ein potentielles Bündnis wie die Nato ansehen, aber sie sind weder das eine noch das andere. Sie sind eine Alternative zur westlichen Vorherrschaft in internationalen Institutionen und bei der Festlegung von Regeln, aber sie sind ein Forum wie die Vereinten Nationen und keine antiwestliche Koalition. Sie als antiwestlich zu behandeln, könnte jedoch dazu führen, dass sie antiwestlich wird.
  Wenn Russland und der Iran ihre Verteidigungsbeziehungen formalisieren wollten, hätte das BRICS-Treffen in Kasan eine gute Gelegenheit dazu geboten, aber der Zeitpunkt war nicht günstig angesichts der Unsicherheiten, die durch Israels Drohungen entstanden sind, den Iran anzugreifen, um die Eskalationsdominanz wiederherzustellen und so die von ihm angestrebte regionale Hegemonie zu erreichen. Russland braucht kein formelles Bündnis, um dem Iran oder anderen Staaten in der Region bei der Verteidigung gegen israelische Aggressionen zu helfen. Es wird dies in dem Masse tun, wie es den russischen Interessen dient, wie es dies in Syrien getan hat. Der Iran wird im Gegenzug weiterhin Drohnen an Russland verkaufen und Technologie an Russland liefern.
  Ein wichtiger Unterschied zwischen der schwindenden Weltordnung nach dem Kalten Krieg und dem neuen internationalen System, auf das wir uns zu bewegen, ist die schwindende Rolle von Bündnissen und die Rückkehr der klassischen Diplomatie. Das entstehende System wird von Ententen (begrenzten Partnerschaften für begrenzte Zwecke) bestimmt, die auf gemeinsamen Interessen beruhen, von denen einige vorübergehend sein können, und nicht von Bündnissen, die sowohl gemeinsame Werte als auch Interessen verkörpern.
  Alle fünf ursprünglichen BRICS-Mitgliedsstaaten sind bündnisfrei und betrachten «Allianzen» eher als Verbindlichkeiten denn als uneingeschränkte strategische Vorteile. Sie sind bereit, ihre eigenen Interessen zu verteidigen, denen sie Vorrang vor denen anderer Nationen einräumen. Sie sind bereit, anderen zu helfen, sich selbst zu verteidigen, wenn es die Umstände erfordern, aber sonst nicht.
  Die Argumentation, die hinter dieser Ansicht steht, ist ganz einfach. Verpflichtungen zur Verteidigung anderer souveräner Staaten setzen diejenigen, die sie eingehen, dem Risiko aus, in Kämpfe verwickelt zu werden, die nicht ihre eigenen sind, um Interessen durchzusetzen, die sie möglicherweise nicht teilen. George Washington verstand dies sehr gut, weshalb er den Amerikanern riet, verschlungene Bündnisse und leidenschaftliche Bindungen an andere Nationen zu vermeiden. Unsere derzeitige Führung versteht die Weisheit eines solchen eigennützigen und flexiblen Ansatzes in der Aussenpolitik nicht. Sie scheint nicht in der Lage zu sein zu erkennen, dass die BRICS-Mitgliedsstaaten dem diplomatischen Dialog und der Zusammenarbeit Vorrang vor militärischer Abschreckung einräumen. Die BRICS-Mitglieder wollen ihre Souveränität nicht nur dadurch sichern, dass sie sich von der westlichen Hegemonie befreien, sondern auch durch eine verstärkte Zusammenarbeit untereinander, die auf einem Geben und Nehmen beruht und gemeinsamen Interessen dient. •

Quelle: Scheerpost.com vom 28.10.2024;
https://scheerpost.com/2024/10/28/patrick-lawrence-israel-and-its-neighborhood-an-interview-with-ambassador-chas-freeman/

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Chas Freeman

Chas Freeman (*1943) ist ehemaliger stellvertretender US-Verteidigungsminister, Botschafter in Saudi-Arabien, stellvertretender Staatssekretär für afrikanische Angelegenheiten, Chargé d’Affaires in Bangkok und Peking und Direktor für chinesische Angelegenheiten im US-Aussenministerium. Er war der wichtigste amerikanische Dolmetscher bei der Aufnahme der Beziehungen der USA zu China durch den verstorbenen Präsidenten Nixon im Jahr 1972. Neben seiner diplomatischen Erfahrung im Nahen Osten, in Afrika, Ostasien und Europa war er auch in Indien tätig. Freeman ist Autor von fünf Büchern und zahlreichen Artikeln über Staatskunst und Herausgeber des Artikels «Diplomatie» in der Encyclopedia Britannica.

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