Vor 70 Jahren: Albert Schweitzer hält seine Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises

Max Tau würdigte den Preisträger und dessen Friedenswerk

km. Kaum einer weiss es noch: Vor 70 Jahren, am 4. November 1954, ein Jahre nach der Verleihung des Friedensnobelpreises durch das Osloer Komitee, kam Albert Schweitzer selbst nach Oslo und hielt dort seine Rede zur Preisverleihung. Albert Schweitzer muss man nicht vorstellen, bis heute ist er vielen ein Begriff. Anders ist dies bei Max Tau1. Als promovierter Literaturwissenschaftler arbeitete er in der Zeit der Weimarer Republik im Berliner Cassirer Verlag als Lektor und wurde Mentor und Förderer vieler junger Talente in Deutschland und Skandinavien. 1938 verliess er Deutschland, weil er als Jude in Lebensgefahr war, und ging nach Norwegen. Dort konnte er leben und arbeiten, bis er 1942 vor den deutschen Besetzern nach Schweden floh. Nach dem Ende des Krieges 1945 setzte sich Max Tau für die Versöhnung der von den Nationalsozialisten überfallenen Länder mit Deutschland ein, auch für die Aussöhnung von Juden und Christen. Er blieb bis zum Ende seines Lebens in Oslo, arbeitete dort als Lektor und schrieb Bücher über sein Leben. Hervorzuheben ist seine nur noch antiquarisch zu beziehende Autobiographie «Trotz allem». 1950 war er der erste Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. In seinen zahlreichen Reden sprach er immer wieder über die Verständigung der Menschen und den Frieden der Völker. Am 14. Januar 1955, zwei Monate nach Schweitzers Rede in Oslo und anlässlich des 80. Geburtstages von Albert Schweitzer, würdigte Max Tau den Friedensnobelpreisträger in einer grossen Rede, die der Hamburger Richard Meiner Verlag 1955 dankenswerterweise zusammen mit zahlreichen eindrucksvollen Bildern rund um die Reise Schweitzers nach Oslo veröffentlichte und die wir hier, nur leicht gekürzt, wiedergeben. Max Tau gab seiner Rede den Titel «Albert Schweitzer und der Friede».

Wer Albert Schweitzer feiern will, der muss sich mit allem, was ihm eigen, zum Menschen bekennen. Die meisten schauen erstaunt auf die Erfindungen. Sie sehen zu ihnen wie zu Wundern auf, aber sie haben die Kraft, die das Wunder des Menschlichen in sich trägt, nämlich auszugleichen und Frieden zu verbreiten, noch nicht entdeckt. Die Erfindungen sind bereits über die Kräfte des Menschen hinausgewachsen; er sieht in ihnen Vernichtung, sie erzeugen die Angst vor dem Morgen, und keiner sieht einen Ausweg. Viele sind bekümmert und fragen: Sollen wieder alle Opfer vergebens und alle Leiden umsonst gelitten sein? Die Jugend wartet. Noch flackert in ihren Augen das Erlebnis des Krieges. Sie sucht nach einem Weg, der aus der Angst herausführt, der ihr das Leben lebenswert macht.

Wofür es zu leben lohnt

Seit Beginn unseres Jahrhunderts haben die Schriftsteller und Philosophen der Macht gehuldigt oder in den Visionen des Unterganges die Vernichtung vorausgesagt. Albert Schweitzer hat die Verhältnisse, in denen wir leben, mit dem visionären Blick des Dichters und mit dem durchleuchtenden des Forschers dargestellt, aber er hat eine andere Konsequenz daraus gezogen. Die anderen erzählten und zeigten uns, wofür wir sterben sollen. Albert Schweitzer erkannte nicht nur, sondern bewies durch sein Leben, wofür es zu leben lohnt. Noch zittert in den meisten die Angst vor dem Kommenden. Noch sind die meisten, denen das Materielle die Blickrichtung verengt, davon überzeugt, dass nichts nützen kann. Aber es gibt eine Hoffnung und eine Erneuerung. Sie kann nur durch uns selbst und im Geiste geboren werden. Das hat uns Albert Schweitzer gelehrt. Wenn man einmal die Geschichte unseres Jahrhunderts schreiben wird, dann bin ich gewiss, dass man auch die Legende Albert Schweitzers schreiben muss. Viel habe ich im Leben geträumt, oft stiegen meine Hoffnungen zum Himmel, aber alles Hoffen und alles Träumen wurde übertroffen von dem, was sich in den Novembertagen 1954 in Oslo ereignete. Der neunundsiebzigjährige Albert Schweitzer kam nach Norwegen, um seiner Pflicht zu genügen.
  Er sollte, den Satzungen der Nobelstiftung gemäss, seinen Vortrag über die Probleme des Friedens halten. Was geschah aber?

Die Jugend huldigt Albert Schweitzer

Von dem Augenblick an, wo er Oslo betrat, waren alle von einer einzigen Begeisterung des Herzens erfüllt. «Er ist der Grösste, der heute lebt!», so rief die Jugend. Ein Schriftsteller schrieb nach dem Presseempfang begeistert: «Es wurde wenig von Gott gesprochen, aber um so stärker fühlte man Gottes Geist im Raum.» Die Eltern brachten die Kinder mit. Sie trugen die Kleinen auf den Armen und hoben sie hoch. Als im überfüllten Rathaussaal die Jugend Albert Schweitzer huldigte, war draussen ein nebelumflorter Novembertag. Die Studenten hatten beschlossen, Albert Schweitzer durch einen Fackelzug zu ehren. Albert und Helene Schweitzer standen auf dem Balkon des Rathauses. In ihren Zügen spiegelte sich das gleiche: die Vollendung des Reifens und die Demut vor dem Lebendigen. Langsam tauchten die ersten jungen Menschen auf. Zuerst sah man zwei Fackeln, und dann glaubte man, in ein Meer von Licht zu schauen. Nicht gerufen, sondern unorganisiert hatten sich über dreissigtausend Menschen vor dem Rathaus eingefunden. Keiner schrie; ein jeder stand für sich, andachtsvoll schaute er auf, und es war, als ob Albert Schweitzer auf die Menschheit schaute, aber ein jeder, der unten stand, fühlte, dass Schweitzer ihn ansah. Es war anders als bei einer Siegerfeier, bei der man Hurra schreit und gar nicht laut genug schreien kann. Die Jugend und die Alten, sie standen bewegt da, und dann geschah es: Keiner hatte es bestimmt, aber einer begann zu singen, und alle stimmten ein in den Choral, der wie ein Flehen zum Himmel hinaufklang: «Herrlich ist die Erde …» Und dann sangen sie weiter: «Kämpfe für alles, was du liebst …»

Ein Schutzengel für das Menschliche

In drei Tagen sammelte das norwegische Volk 315 000 Kronen für Lambarene. Ein jeder wurde sich bewusst, dass Albert Schweitzer durch seinen Besuch die Atmosphäre von Grund auf verändert hat. Es war gleichsam, als ob alle Menschen des Landes sich vereint und sich in einer einzigen Familie des Verstehens und der Liebe wiedergefunden hatten. Die Jugend und das Alter, sie feierten nicht nur den grossen Arzt aus dem Urwald, den Menschenhelfer, den bedeutenden Bachspieler und Theologen; sie wollten einen Schutzengel für das Menschliche feiern – Albert Schweitzer –, den einzigen Menschen, der das Wort «Friede» aussprechen darf und ihm dadurch von neuem seinen Sinn und seinen wirklich tiefen Gehalt verleiht.
  Albert Schweitzer glaubt an den Sieg der Wahrheit. Er eifert für die Gerechtigkeit, und er übt sie überall aus. Er glaubt an den Menschen, und keine Enttäuschung vermag ihn davon abzubringen. Er glaubt an das Gute und sucht es zu verwirklichen. Er vertraut der Macht der Güte und der Friedfertigkeit, und er vermag den Glauben an den Frieden für alle zu erhalten. […]

«Du sollst nicht töten»

Die Grundakkorde seines Fühlens und Erkennens zeigten sich bereits in seinen Jugenderlebnissen. […] Jeder kennt die Geschichte, wie er mit seinem Freund im Frühjahr, in der Passionszeit, Vögel schiessen geht. Dem Knaben Albert Schweitzer scheint der Vorschlag furchtbar, schrecklich, aber er wagt nicht zu widersprechen, aus Angst, man könnte ihn auslachen. Aber als er die Glocken läuten hört, wirft er die Schleuder hin und läuft nach Hause. Dankbar denkt er daran, wie die Glocken ihm damals das Gebot: «Du sollst nicht töten!» ins Herz geläutet haben. In ihm arbeitet dieses grösste Erlebnis seiner Kindheit und Jugend, neben dem alle anderen Erlebnisse erblassen. Er konnte schon damals nicht begreifen, wie es möglich ist, dass wir Tod und Leid über andere Wesen bringen dürfen. Er wusste, dass viele so dachten, aber er erkannte auch, dass die meisten sich fürchteten, es auszusprechen, weil sie es als zu sentimental empfanden. Er aber gelobte, sich niemals abstumpfen zu lassen und niemals den Vorwurf der Sentimentalität zu fürchten.

Nachdenken und Vernunft

Sehr früh ergriff ihn die Überzeugung, dass die konfessionellen Unterschiede einmal verschwinden werden. Er verehrte seinen Religionslehrer, aber er konnte ihm nicht folgen, als dieser ihm begreiflich zu machen versuchte, dass vor dem Glauben alles Nachdenken verstummen müsse. Schon als Kind kam Albert Schweitzer zu der Überzeugung, dass die Wahrheit – der Grundgedanke des Christentums – sich auch vor dem Denken zu bewähren habe. «Das Denken», sagte er, «ist uns gegeben, dass wir darin alle, auch die erhabensten Gedanken der Religion begreifen.» Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Freude. Der naturwissenschaftliche Unterricht hatte für ihn etwas Aufregendes, aber er war von einem Hass gegen die naturwissenschaftlichen Schulbücher erfüllt mit den auf Auswendiglernen zugeschnittenen Erklärungen, die ihn auf keine Weise befriedigten. Es verletzte Albert Schweitzer, dass man das absolut Geheimnisvolle der Natur nicht anerkannte. Schon als Kind ist er begeistert von dem Aufklärungsgeist seines Grossvaters Schillinger, dass das Vernunftgemässe an die Stelle der Gedankenlosigkeit tritt. Selten ist uns ein Mensch begegnet, der mit so wachem Gewissen das Leben erlebt, das Gebot des Lebenerhaltens. Mit prophetischem Blick sieht er bereits die Versöhnung der Konfessionen voraus und glaubt, durch die Vernunft und den beseelenden Geist, durch die Unruhe und das Aufgewecktsein den Frieden in jedem Einzelnen zu erwecken. Es gibt keinen Frieden ohne den inneren Kampf. Keiner vermag zu versöhnen, der diesen Kampf in sich selbst nicht ausgetragen hat und zum Frieden in sich selbst gelangt ist.

Leben als höchstes Geschenk …

Für Albert Schweitzer ist das Leben das höchste Geschenk, dessen wir uns nur durch unser Leben selbst würdig erweisen können. Schon als junger Student 1896 schreibt er eigentlich in einem Satze das Wesentlichste, was über den Kulturverfall bis heute zu sagen ist. Er schreibt in sein Tagebuch: «Wissenschaft ist keine Bildung.» Die Menschen, stolz auf die Erfindungen, begeistert von dem Gedanken, dass Wissen Macht ist, glaubten, dass die ethischen und die menschlichen Kräfte sich mit Wissen und Erfindungen gleichmässig entwickelten. Sie wiegten sich in einen Wunschtraum ein und sprachen ununterbrochen vom Fortschritt.

… und die Bedeutung der Ethik

Albert Schweitzer erkannte aber, dass es Fortschritt in der Welt nur geben kann, wenn man das Ethische vertieft und das Menschliche entwickelt. Wer heute seine Kulturphilosophie liest, der wird erkennen, mit welchem tiefen Pessimismus er die Verhältnisse schon damals betrachtete, in denen wir heute noch stehen. Mit dem visionären Blick des Dichters und der Gründlichkeit des Geistesforschers warnte er. Er wusste, dass die Verhältnisse viel zu weit gediehen waren, als dass ein Einzelner sie verändern konnte. Aber er fühlte, dass er dazu bestimmt war, den Menschen Frieden zu bringen. Er studierte Theologie, um den Geist Jesu den Menschen näherzubringen. Er studierte Musik und erkannte, dass das Grösste an der Kunst Johann Sebastian Bachs der Geist ist, der von ihr ausgeht. Johann Sebastian Bach ist für Albert Schweitzer eine Seele, die sich aus der Unruhe der Welt nach Frieden sehnt, und imstande ist, diesen Frieden den anderen als Erlebnis weiterzuleiten. Aus der Musik Johann Sebastian Bachs erklingt der Friede, der höher ist als alle Vernunft. […]

Sein Leben nicht für sich behalten

Mit dreissig Jahren war Albert Schweitzer in der Welt bekannt. Er wurde als Lehrer an der Universität und als theologischer Forscher in Strassburg anerkannt, als Bachspieler verehrt. Er hatte bereits ein Werk vollbracht, das für andere die Krönung ihres Lebens bedeutet hätte. Aber er dachte an seinen Entschluss, sein Leben nicht für sich zu behalten, sondern es für andere hinzugeben. Die meisten kennen die Geschichte, wie die Broschüre einer Missionsgesellschaft «Wer hilft uns am Kongo?» ihn innerlich aufruft. Von diesem Augenblick an fühlt er sich wie befreit. Er sah in dieser Berufung seinen Weg. Er beschliesst, Medizin zu studieren, um danach den Schwarzen helfen zu können. Er sah die Ausbeutung der Schwarzen durch die Weissen. Er erkannte, dass es wichtiger war, die Taten der Weissen zu sühnen, als den Kulturverfall in Europa festzustellen. Sein Entschluss wurde zur Tat. […]
  In seinen eigenen Schriften, die am zuverlässigsten sein Leben und Wirken zeigen, kann man von all den Schwierigkeiten lesen, die sich ihm vor der Ausführung seiner Tat entgegenstellten. Entscheidend für sein Wesen ist, dass er das Helfen als den höchsten Menschenberuf erkannte. Seine Berichte zeichnen sich durch Einfachheit, Hingabe und Verständnis für die fremde Welt aus. Für Albert Schweitzer gibt es nur Helden der Geduld und der Entsagung. Seine Schriften zeigen, mit welcher Wirklichkeitskenntnis bis ins Kleinste, mit welcher Instinktsicherheit und menschlichen Güte und tiefem Verstehen er täglich mit grösster Verantwortung das Leben meistert.

Menschentum, das versöhnt

Mit allem, was er tat, suchte er das Leben zu erhalten; er ist ein Helfer zum Leben.
  Im Urwald erlebte er, dass die Missionen der beiden Konfessionen einträchtig nebeneinander lebten. Auch die Patres der katholischen Mission waren seine Freunde. Jeder Mensch strahlt eine bestimmte Atmosphäre aus. Überall, wo Albert Schweitzer wirkt, ist Friede. Sein Menschentum zwingt zur Versöhnung. Er wusste immer, dass Entsagung den Menschen adelt.

Leiden am Ersten Weltkrieg

[…] Aber er stand gegen die Zeit. Er erwartete den Weltkrieg, der 1914 ausbrach. Noch im Juni 1914 schliesst er seinen Bericht mit einer Warnung an die Welt: «Und wo der Tod schon als Sieger einherschreitet, knausern die europäischen Staaten mit den Mitteln, ihm Einhalt zu tun, um dafür in sinnlosen Rüstungen ihm die Möglichkeit einer neuen Ernte in Europa selbst zu schaffen.»
  Wie Fridtjof Nansen erschüttert durch das Gebirge eilt, weil er die Schmerzen des Krieges nicht ertragen kann, genauso leidet Albert Schweitzer in Afrika. Er setzt seine Arbeit verbissen fort, findet aber innerlich keine Ruhe.
  Die Eingeborenen stellen ihre Fragen: Wie war es möglich, dass die weissen Männer, die ihnen das Evangelium der Liebe gebracht hatten, die Gebote des Herrn Jesu Christi soweit vergessen konnten, dass sie sich gegenseitig nach dem Leben trachteten? […]
  Nach Beendigung des Krieges kehrte Albert Schweitzer als ein kranker und gebrochener Mann nach Strassburg zurück. Alles, was er aufgebaut hatte, war verloren. Er musste wieder beginnen, wo er angefangen hatte: als Hilfsarzt und als Hilfsprediger. Der Krieg, die Unsinnigkeit der Menschen hatte das Friedenswerk seines Lebens zerstört. Oft erscheint das Leben ungerecht. Aber keine echte Tat ist vergebens.
  In Schweden lebte ein Mensch, der die Versöhnung der Konfessionen und den Frieden für die Menschen erstrebte. Er erinnerte sich, was Albert Schweitzer als theologischer Forscher geleistet hatte. Niemals vermögen wir, einem der edelsten Menschen, dem schwedischen Erzbischof Nathan Söderblom, dankbar genug zu sein für die Art, wie er Albert Schweitzer und seine Gattin nach Uppsala einlud. Dort in der friedvollen Atmosphäre kamen ihm die verlorenen Kräfte zurück.

Lambarene

Sein Handeln ist nur auf ein Ziel gerichtet: durch seine eigene Arbeit die Mittel aufzubringen für ein besseres, grösseres Lambarene. Albert Schweitzer hat es immer als eine Gnade betrachtet, Leben retten und helfen zu können, als andere mordeten. Aber er fühlte sich verlassen, vereinsamt und verzweifelt, wenn er sah, wie wenig er im Verhältnis zu all der Vernichtung ausrichten konnte. Und doch hat er mit Lambarene ein Vorbild für die Menschheit geschaffen.
  Für die meisten ist es leicht, sich für die Ideen Albert Schweitzers zu begeistern. Sie sehen von ferne den schönsten Berg der Erde, aber sie ahnen nicht, dass sie Steine und nur Steine vorfinden, wenn sie den Berg erklommen haben. Dann erst gilt es, sich zu bewähren und auszuweisen, warum man geboren ist, und durch die Tat zu beweisen, dass man in jedem Schritt, den man geht, ein Mensch ist. Albert Schweitzer hat es vermocht, durch seine Ausstrahlung Helfer aus der ganzen Welt zu gewinnen. Sie sahen seine Tat, sie wollten beweisen, dass auch ihr Leben dazu bereit war, einem höheren Ziel zu dienen, das sie reicher machte. Die meisten haben ihm für diese Tat gedankt. Aber die Tat des Denkers, des friedenstiftenden, weisen Philosophen blieb bis nach dem Zweiten Weltkrieg weithin unbekannt.

Menschen auf
 das Gute hin ansprechen

Wir müssen den Menschen auf das Gute hin ansprechen. Aber wir dürfen es nur, wenn wir uns selbst jeden Augenblick bemühen, das Gute zu verwirklichen. Wir müssen ein Lambarene für die Menschen in Europa schaffen. Wir müssen das gleiche tun, was Albert Schweitzer im Urwald getan hat. Wir müssen die Menschen aus der verantwortungslosen Angst zur angstlosen Verantwortung führen.
  Vor dreissig Jahren sandte Albert Schweitzer seine kulturphilosophischen Schriften aus. Zu gleicher Zeit begeisterten sich die Menschen für und erschraken vor Oswald Spenglers «Untergang des Abendlandes». Oswald Spengler sah keine Zukunft mehr für den Einzelnen. Alle seien verurteilt, Diener der Macht und der Cäsaren zu werden, die er heraufkommen sah. Oswald Spengler glaubte, dass die Kulturen kommen, wachsen, blühen und vergehen. Heute wissen wir, dass es nicht mehr verschiedene Kulturen gibt. Es gibt nur eine Kultur, an der alle Völker mitarbeiten durch die Menschen, die, in dem Schutz der Heimat geboren, sich dort entwickeln und entfalten.
  Kultur, das heisst, die Schätze der Vergangenheit, die wir ererbt haben, ins Bewusstsein zurückzubringen, sie durch unsere eigenen Taten zu erweitern, dass sie Saat für die Zukunft werden.
  Kaum ein anderer Denker war so um den Menschen besorgt wie Albert Schweitzer. Er sah, wie Tüchtigkeit und Wissen zwar zu immer grösserer Macht, aber auch zu immer grösserer Einseitigkeit und Abgeschlossenheit führten, wie jeder Fortschritt und jede Erfindung in Wirklichkeit ein Rückschritt waren, da ihnen die Verbindung zum Lebendigen und zum Menschlichen fehlte. Er fürchtete, dass die Menschheit so herabsinken könne, dass sie gedankenlos Urteile übernehme und widerstandslos Opfer der Macht werde.
  Keiner hat das Verhängnis deutlicher vorausgesehen. Und kein anderer hat in der Stunde der Not bereits so mit dem Aufbau begonnen wie Albert Schweitzer.

Durch unsere Tat verwirklichen,
 wozu wir geboren sind

Albert Schweitzer wehrt sich gegen jede Welterkenntnis auf nur naturwissenschaftlicher Grundlage. Die Welt können wir nicht kennen. Sie zeigt sich uns mit allen Rätseln. Das Leben vermögen wir nicht auszuforschen, das Leben vermögen wir nicht zu berechnen. Aus der Ewigkeit kommend, vermögen wir nur das durch unsere Tat zu verwirklichen, wozu wir geboren sind. Bei der Geburt empfängt jeder Mensch ein göttliches Samenkorn. Dieses Licht vermag nur zu leuchten durch die Liebe, die er von den anderen empfängt. Diese Kraft des Menschlichen ist stärker, mächtiger als alle Waffen. Noch schlummert sie unentdeckt. Aber vielleicht müssen wir erst alle schweren Prüfungen bestehen, bis wir Klarheit über die grösste aller Mächte empfangen können. Die Kraft, die ein Freund in dem anderen entzündet, ist immer grösser als die, die er selbst besitzt.
  Aus der Erkenntnis des Kulturverfalles in Europa hat Albert Schweitzer schmerzvoll unter den Zuständen gelitten, und jahrelang hat er nach einem Ausweg gesucht. Er tastete und schrieb ganz unbewusst Worte auf. Dann öffnete sich das Tor, und dann stand es mit grossen Buchstaben vor ihm: «Ehrfurcht vor dem Leben».

«Ehrfurcht vor dem Leben»

Seine Lebenslehre der Ehrfurcht vor dem Leben gibt die Verantwortung wieder an jeden Einzelnen zurück. Durch lebenbejahendes Denken vermögen wir zu ihr vorzudringen. Nur durch die ethische Kraft und durch Verantwortung für den anderen vermögen wir zu leben. Die Ehrfurcht vor dem Leben verspricht keinen Lohn. Jede nur materielle Sicherung des Lebens lässt den Menschen verarmen. Sie eröffnet ihm zwar die Wege zu den Schätzen der Erde, aber sie vermag ihm nicht den beschirmenden Himmel zu schenken. In jedem Menschen lebt doch die Sehnsucht, durch das Werk seiner Hände, durch die Kraft seines Denkens etwas zu leisten, worin sich die Schönheit des Ewigen widerspiegelt. Die rein materiell eingestellte Ordnung beraubt den Menschen der Freude an dem Selbstgeschaffenen, der Wahrheit des eigen Erdachten und des Vorbildes, das er durch sein Wirken zu geben vermag.

Das Werk freier Menschen

Albert Schweitzer weiss aber, dass materielle und geistige Freiheit nicht zu trennen sind.
  Kultur fällt uns nicht wie eine reife Frucht in den Schoss; der Baum muss gepflegt werden, wenn er Früchte tragen soll. Dies kann nie unter Zwangsarbeit geschehen. Es muss das Werk freier Menschen sein. Es gibt eine Hoffnung: Wir müssen umkehren. Wir müssen uns aus dem Gefängnis der Vorurteile erlösen und Interesse an der Entwicklung und an den Idealen wahrer Kultur wiedergewinnen. Das ist Albert Schweitzers Lehre. Sie ist so einfach, dass sie für die meisten zu ungelehrt war. Aber sie besitzt in ihrer Einfachheit Tiefe und Leuchtkraft.
  Albert Schweitzer hat seine Philosophie durch elementares Denken gewonnen. Er fordert die Bewährung des Daseins. Er lehrt uns das Grundprinzip des Sittlichen. Dieses Grundprinzip soll uns die Richtung geben, es soll uns durch unser Leben begleiten. Gut ist, sagt er: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Böse ist: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten.
  Würden die Menschen diese einfache Lehre beherzigen, würden sie ihr Denken und ihre Willenskraft durch sie erneuern lassen: Morgen schon hätte die Welt ein anderes Gesicht! […]

Die Jugend …

Dreissig Jahre hat es gedauert, bis Albert Schweitzers Lehre Wurzeln in der neuen, heranwachsenden Jugend Europas fasste. Die Jugend schaut auf uns mit ihren enthusiastischen und erwartungsvollen Augen. Sie will in die Ideale hineinwachsen. Sie will sich zum Frieden hin entwickeln; sie weiss, er muss aus unserem Inneren erwachsen. Wir haben die grossen Ideale der Menschlichkeit verloren. Wir müssen den Weg zu ihnen zurückfinden, indem wir gut sind, indem wir einfach sind. Wir müssen wieder lernen, selbständig zu denken, an uns selbst zu arbeiten, nach höheren Idealen zu streben. Jeder Einzelne von uns. Selbsterkenntnis und Selbstdisziplin sind der Weg zum Wachstum, zum inneren Frieden und zum Frieden unter den Menschen.

… und die Entdeckung der Menschlichkeit

Wir leben in der grössten Vertrauenskrise, die die Menschheit je durchlebt hat. Wir müssen versuchen, uns einer dem anderen vertrauenswürdig zu erweisen. Das Böse zwingt uns scheinbar zum Misstrauen. Überwinden wir endlich dieses Vorurteil! Nur wenn wir das Gute wollen, vermögen wir Vertrauen zu erwecken. Frieden vermag nur der auszustrahlen, der Frieden mit sich selbst geschlossen hat. Aber der Friede wird erst durch den anderen Menschen geboren, dem wir uns anvertrauen können, dem wir unsere ganze Liebe weihen können.
  Die Liebe kennt nur die Zuversicht. Sie weiss nichts von der Angst, diese Liebe zum Menschen, zur Natur, zum Universum; sie ist die Sehnsucht, die aus der europäischen Jugend zu uns hinströmt. Diese, durch die Entdeckung der Menschlichkeit erzeugte Macht ist grenzenlos. Sie vermag zu verändern, wenn keiner mehr an eine Veränderung glaubt; sie vermag zu veredeln und zu läutern durch Hingabe, durch Glauben an den Menschen. Es ist nicht wahr, was die falschen Propheten und die Sensation suchenden Schriftsteller immer wieder von neuem ins Bewusstsein bringen, dass es nur die bösen Kräfte sind, die anstecken und wirken. Der Besuch von Albert Schweitzer in Oslo hat gezeigt, dass ein ganzes Volk, von guten Kräften durchströmt, zu guten Taten bereit sein kann.
  Was sich in Oslo ereignet hat, kann – dessen bin ich sicher – heute in Berlin und morgen überall geschehen. […] Wir müssen uns öffnen, und wir müssen versuchen, unseren Sinn für den Frieden vorzubereiten. Der Friede ist nicht eine beständige Harmonie, kein Traum. Alle Abenteuer, alle Verwandlung, aller Kampf und alle Spannung sind in ihm enthalten, und auch das Leiden ist in ihm zu finden. Aber vor allem gilt es, das Menschliche zu entdecken, die Begeisterung im anderen zu erwecken, die Augen aufzutun für den sichtbaren und vorhandenen Reichtum im Menschlichen. Dann wird das Leben zu einer neuen Offenbarung. Jeder, der zu denken vermag, kann dann nur noch für den Frieden denken.
  Als Albert Schweitzer seinen Aufruf zur «Brüderschaft aller vom Schmerz Gezeichneten» hinaussandte, blieben die Menschen noch stumm. Ihre Herzen waren noch verschlossen. Heute, glaube ich, hat die Zeitwende bereits begonnen. Nie hatte Albert Schweitzer so viele unbekannte Brüder. Ich sehe bereits die Keime in der europäischen Jugend. Sie will kompromisslos ihre Ideale verwirklichen. Wir können nur säen und durch unser Leben und unser Wirken der Jugend den Weg bereiten. Ich glaube, dass der Vorfrühling für das Zeitalter des Menschen bereits begonnen hat. Für die jungen Dichter in Europa ist die Ehrfurcht vor dem Leben und die Gestalt Albert Schweitzers bereits ein Kraftquell geworden. […]

Wegbereiter des Friedens sein

Wollen wir Albert Schweitzer feiern, so müssen wir uns dankbar zum Menschlichen bekennen. Wir müssen umkehren, sühnen und vergeben; versöhnen, um den Weg für den Frieden zu bereiten. Wir müssen die Jugend finden, und in dem Glauben, dass wir dazu berufen sind, Wegbereiter des Friedens zu sein, im Geiste von Albert Schweitzer leben, wirken und uns entfalten.
  In jedem von uns lebt etwas von seinen Möglichkeiten. Erfüllen wir sie, jeder an seinem Platze, dann können wir die Welt verändern.
  Lassen Sie uns heute nicht ohne den festen Glauben voneinander Abschied nehmen, dass jeder von uns mitverantwortlich ist für das, was morgen geschieht. •



1 vgl. https://www.zeit-fragen.ch/archiv/2022/nr-34-8-februar-2022/wer-sich-zu-max-tau-bekennt-bekennt-sich-zur-verstaendigung-zur-bruederlichkeit vom 8.2.2022

Das Problem des Friedens

Albert Schweitzers Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises am 2. November 1954 in Oslo (Auszüge)

«Die Staatsmänner, die für die Gestaltung der heutigen Welt durch die Verhandlungen nach jedem dieser beiden [Welt-]Kriege verantwortlich waren, hatten schlechte Karten. Ihr Ziel war es nicht so sehr, Situationen zu schaffen, die zu einer weitreichenden und blühenden Entwicklung führen könnten, sondern vielmehr, die Ergebnisse des Sieges auf Dauer zu sichern. […] Sie waren gezwungen, sich als Vollstrecker des Willens der erobernden Völker zu betrachten. Sie konnten nicht danach streben, die Beziehungen zwischen den Völkern auf eine gerechte und angemessene Grundlage zu stellen […].»
  «Wir haben gelernt, die Fakten des Krieges zu tolerieren: dass Menschen massenhaft getötet werden […], dass ganze Städte und ihre Bewohner durch die Atombombe ausgelöscht werden, dass Menschen durch Brandbomben in lebende Fackeln verwandelt werden. Wir erfahren diese Dinge aus dem Radio oder aus der Zeitung und beurteilen sie danach, ob sie einen Erfolg für die Gruppe der Völker bedeuten, zu der wir gehören, oder für unsere Feinde. Wenn wir uns eingestehen, dass solche Taten das Ergebnis eines unmenschlichen Verhaltens sind, so wird dieses Eingeständnis von dem Gedanken begleitet, dass die Tatsache des Krieges selbst uns keine andere Wahl lässt, als sie zu akzeptieren.
  Wenn wir uns kampflos in unser Schicksal fügen, machen wir uns der Unmenschlichkeit schuldig. Worauf es wirklich ankommt, ist, dass wir alle erkennen, dass wir uns der Unmenschlichkeit schuldig gemacht haben. Das Entsetzen über diese Erkenntnis sollte uns aus unserer Lethargie aufrütteln, damit wir unsere Hoffnungen und Absichten auf das Kommen einer Ära richten können, in der Krieg keinen Platz mehr hat. Diese Hoffnung und dieser Wille können nur ein Ziel haben: durch eine Änderung des Geistes jene höhere Vernunft zu erlangen, die uns davon abhält, die uns zur Verfügung stehende Macht zu missbrauchen.»
  «Krieg bedeutet heute Vernichtung […]. Um den Frieden zu sichern, müssen entschlossene Schritte unternommen werden, und es müssen unverzüglich entscheidende Ergebnisse erzielt werden. Dies alles kann nur durch den Geist geschehen. Ist der Geist in der Lage, das zu leisten, was wir in unserer Not von ihm erwarten müssen? Unterschätzen wir nicht seine Macht, deren Beweise in der gesamten Geschichte der Menschheit zu finden sind. Der Geist hat diesen Humanismus geschaffen, der der Ursprung allen Fortschritts in Richtung einer höheren Form der Existenz ist. Inspiriert von der Humanität sind wir uns selbst treu und fähig, etwas zu schaffen. Von einem gegenteiligen Geist beseelt, sind wir uns selbst untreu und fallen allen möglichen Irrtümern zum Opfer.»
  «Wenn wir heute unseren eigenen Untergang vermeiden wollen, müssen wir uns diesem Geist wieder verpflichten. Er muss ein neues Wunder hervorbringen […]. Der Geist ist nicht tot; er lebt in der Isolation. Er hat die Schwierigkeit überwunden, in einer Welt existieren zu müssen, die nicht mit seinem ethischen Charakter übereinstimmt. Er hat erkannt, dass er keine andere Heimat finden kann als in der Grundnatur des Menschen. Die Unabhängigkeit, die sie durch die Akzeptanz dieser Erkenntnis erlangt hat, ist ein zusätzlicher Vorteil.»
  «Noch einmal wagen wir es, an den ganzen Menschen zu appellieren, an seine Fähigkeit zu denken und zu fühlen, und fordern ihn auf, sich selbst zu erkennen und sich selbst treu zu bleiben. Wir bekräftigen unser Vertrauen in die tiefgreifenden Eigenschaften seiner Natur. Und unsere lebendigen Erfahrungen geben uns Recht.»
  «Die einzige Originalität, die ich für mich in Anspruch nehme, besteht darin, dass diese Wahrheit für mich mit der intellektuellen Gewissheit einhergeht, dass der menschliche Geist in der Lage ist, in unserer Zeit eine neue Mentalität, eine ethische Mentalität zu schaffen. Von dieser Gewissheit beseelt, verkünde auch ich diese Wahrheit in der Hoffnung, dass mein Zeugnis dazu beiträgt, ihre Ablehnung als bewundernswertes Gefühl, aber als praktische Unmöglichkeit zu verhindern. Viele Wahrheiten sind lange Zeit unbemerkt geblieben, weil niemand ihr Potential erkannt hat, Wirklichkeit zu werden. Nur wenn in den Köpfen der Völker ein Friedensideal entsteht, werden die Institutionen, die zur Aufrechterhaltung dieses Friedens geschaffen wurden, die von ihnen erwartete Funktion wirksam erfüllen.»

Quelle: https://www.nobelprize.org/prizes/peace/1952/schweitzer/lecture/

(Übersetzung Zeit-Fragen)

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