von Eliane Perret
Kürzlich blätterte ich in einem Bilderbuch, das Lorenz Pauli geschrieben und Kathrin Schärer liebevoll und gekonnt mit pfiffigen Zeichnungen gestaltet hatten. Dieses Buch sollte allen (Bildungs-)Verantwortlichen unseres Landes für kreative Inputs und Denkanstösse bei einer Weiterbildung zur Verfügung stehen, dachte ich. (Vielleicht nicht ganz ernst gemeint, oder doch?) «Mutig, mutig» stand auf dem Buchdeckel. Ein kluger Titel für eine Geschichte, und ein kluger Titel für eine Weiterbildung! Mir gefiel die tiefgründige Geschichte mit einer Maus, einer Schnecke, einem Frosch und einem Spatz als Akteuren. Sie alle könnten zum Modell werden, wenn es darum geht, beherzte Entscheide zu fällen! Ja, und angesichts der Bildungsmisere in unseren Volksschulen stehen mutige Entscheide an, so meine weiteren Überlegungen. Natürlich sind da alle Beteiligten sehr gefordert, denn Einsicht in Fehler und Mut zu Neuem sind nicht die Sache jedes Mannes – und auch nicht jeder Frau. Es könnte jedoch der Anfang eines Weges sein, wie in absehbarer Zeit aus dem Debakel an unseren Volkschulen herausgefunden werden kann. Doch folgen wir den vier Akteuren.
Input A : Wer ist am mutigsten?
Maus, Schnecke, Frosch und Spatz sitzen zusammen am Ufer eines Weihers und wissen nicht, was sie tun sollen. Schliesslich schlägt der Frosch einen Wettkampf vor, um herauszufinden, wer von ihnen am mutigsten ist. Seine Freunde finden das eine gute Idee, eine sehr gute Idee, ja, sogar eine Super-Idee und klatschen in die Pfötchen, die Flügel und die Fühler.
Denkpause 1: Den Horizont erweitern
Wer ist am mutigsten? Wäre das nicht ebenfalls eine Herausforderung (neudeutsch: Challenge), für die Bildungsverantwortlichen in Ausbildungsstätten und Bildungsdirektionen? Damit würden sie aus der Enge ihres jeweiligen Lebens- und Berufsalltags heraustreten müssen und dabei ihren Horizont erweitern (und hoffentlich erkennen, dass sie auf dem falschen Weg sind). Dann allerdings gestaltet sich die Aufgabe anspruchsvoller. Sie müssten über mutige Ideen nachdenken, wie sie die sinn- und verantwortungslosen Schulreformen korrigieren könnten, mit denen in den letzten Jahrzehnten unser Bildungssystem ruiniert wurde.
Input B: Ein mutiges Unterfangen
Die Maus geht mutig voran. Sie nimmt sich vor, zum anderen Ufer und wieder zurück zu schwimmen, ohne aufzutauchen. Doch hoppla, der Frosch tut den Plan der Maus schnell ab: «So ein Quak. Das hat nichts zu tun mit Mut! Das ist doch ein Vergnügen!» Klar, schwimmen gehört ja zum Hauptgeschäft des Frosches, aber für eine Maus ist es tatsächlich ein mutiges Unterfangen. Läuft nun das Projekt der vier kleinen Helden ins Leere?
Denkpause 2: Die erste Einsicht
Nun könnte es ja auch sein, dass schon der eine oder andere unerschrockene Bildungspolitiker – äxgüsi, es sind immer auch unerschrockene Bildungspolitikerinnen gemeint – eine erste Einsicht und auch eine kluge Idee hat (wie unsere Maus). Er möchte ernsthaft Neues wagen. Klarheit schaffen und den Bildungsschrott aus den Schulhäusern entfernen. Ob er da in seinem Umfeld auf positives Echo stossen würde? (Oder sitzen da ebenfalls einige Frösche?) Müsste die Idee aus dem entsprechenden politischen Umfeld kommen, um Beachtung zu erhalten? Oder sind seine Kollegen gar erstarrt in der eigenen Ideologie, gebannt vom Druck der Bildungslobby und der Angst um die eigenen Pfründe? Und deshalb: Zu wenig Mut, um ins kalte Wasser zu springen?
Input C: Du bist toll …
Die vier unterschiedlichen Freunde jedoch sind unerschrocken. Der Spatz beruhigt den Konflikt, und die Maus holt tief Luft. Sie macht sich auf den Weg unter Wasser und kommt prustend und japsend wieder zurück. Ja, und der Frosch hat sogar die Grösse, der Maus zu gratulieren und aus dem Wasser zu helfen: «Mutig, mutig! Du bist eine tolle Taucherin.» Und alle klatschen in die Schwimmhäute, Fühler und Flügel.
Denkpause 3:
Ein neues Ausbildungskonzept
Stellen wir uns vor, der Direktor (äxgüsi immer auch die Direktorin) einer Pädagogischen Hochschule würde nach schlafloser Nacht in der Bildungsdirektion vorstellig werden und dort ein neues Ausbildungskonzept vorlegen. Gleichzeitig würde er eine lange Liste politischer Fehlentscheidungen überreichen, «dank» derer die Ausbildung der jungen Menschen in den vergangenen Jahren in die falsche Richtung ging. Würden ihm die zahlreichen Bildungs«experten» aus Politik und Wissenschaft mit rotem Kopf danken, dass er als erster den Mut hatte, die gemachten Fehler zu benennen und einzugestehen? Wenn ja, käme sicher ein Blumenstrauss von Ideen zusammen, wie den hoffnungsvollen und oft sehr engagierten Lehramtsstudenten wieder das Rüstzeug aus Pädagogik, Psychologie und Didaktik für ihren anspruchsvollen Beruf mitgegeben werden könnte. Einige wüssten sogar, dass eine der Ursachen der Reformkaskaden der letzten Jahrzehnte Milton Friedmans neoliberale Konzepte der Privatisierung und Ökonomisierung des Bildungswesens waren, im Hinblick auf einen neuen lukrativen Markt, in dem die Volksschule nur noch leicht testbare Fächer als Grundbildung anbieten sollte (den Rest sollten die Eltern als Investition für die Zukunft ihrer Kinder dazu kaufen). «Aha», würde einem seiner Kollegen nun ein Licht aufgehen, «es geht dann um das ‹Humankapital› der Kinder … um das selbstorganisierte Lernen … zu Lasten aller Kinder … Das soll sogenannte Bildungsgerechtigkeit sein… Wie verwerflich! Mit dem Resultat, dass heute ein Viertel der Jugendlichen bei Schulaustritt nicht ausreichend Deutsch versteht und liest und ein Fünftel die Mindestanforderungen in Mathematik und Naturwissenschaften nicht erfüllt!»
Und wenn den Kollegen der Mut zur Einsicht fehlt? Würden sie ihm entgegenhalten, dass das unsinnig sei und er ewiggestrigen Ideen nachtrauern würde, wie es ihnen als Diskussionsblocker empfohlen wurde?
Input D: Der Miesepeter wird mutig
Doch eine leise Hoffnung besteht, genauso wie beim Frosch, der sich einer neuen Herausforderung stellt. Vorher ein Miesepeter, wird er nun vom Mut der Maus angesteckt. Er will heute keine mickrige Mücke oder flinke Fliege fressen, sondern eine grosse Seerose, verkündet er. Auch er stösst zuerst auf Widerspruch, diesmal von der Schnecke, für die ein solches Vorhaben Alltag ist. Aber unterstützt von der Maus, die ja weiss, was eine Mutprobe bedeutet, würgt er die Seerose mit Stumpf und Stiel hinunter. Sogar die Schnecke springt nun über ihren Schatten und hebt zu einem Lob an. «Mutig, mutig! Das ist wirklich etwas ganz Besonderes», wagt sie zu sagen.
Denkpause 4:
Unterstützung und Mitdenken
Wenn nun ein ebenso mutiger Bildungsverantwortlicher nach mindestens einer schlaflosen Nacht seinen Mit-Entscheidungsträgern vorschlagen würde, den Stundenplan von dem (meist nutzlosen) frühen Fremdsprachenunterricht zu entrümpeln und der deutschen Sprache wieder Vorrang zu geben! Als geschichtsbewusster Zeitgenosse würde er sie zudem daran erinnern, dass Bill Gates Ende der neunziger Jahre um den Erdball gereist war und vielen Regierungen angeboten hatte, ihnen seine Software gratis abzugeben. So geschehen 1998, als er der Schweiz einen Besuch abstattete und eine Unterredung mit Bundesrat Villiger hatte. So fand er auch in der Schweiz seine Unterstützer. Führend war der damalige Zürcher Bildungsdirektor Ernst Buschor, der eine Einladung für den Besuch eines Symposiums in Boston annahm und danach das Grundkonzept für eine Reform schrieb, die den heutigen Schulen ihr Gesicht gibt. Das wusste der langjährige Bildungsverantwortliche zu berichten, und er schlägt seinen Kollegen vor, endlich der seither für teures Geld vollzogenen Digitalisierung in den Schulen einen Stopp zu setzen. Die Geräte sollten fortan von den Lehrern (freiwillig) zwar als ergänzendes didaktisches Werkzeug genutzt werden können. Den Kindern aber wollte er künftig ihr Recht auf Anleitung wieder zugestehen und den Lehrern, dass sie als verbindliche Beziehungspersonen endlich einen gemeinschaftsbildenden Klassenunterricht machen dürften, wie er den neuesten Erkenntnissen der Forschung entspricht. Selbstverständlich würden digitale Medien auch Schülerinnen und Schülern weiterhin zum Arbeiten zur Verfügung stehen – da, wo sie tatsächlich ein Mehrwert zu analogem Arbeiten sind. Zum Beispiel in der Oberstufe zum Schreiben von Bewerbungen für eine Lehrstelle. Dann wären die Unterstützung und das Mitdenken der Bildungsverantwortlichen ein Schritt in die richtige Richtung. Welch glückliche Eltern und Kinder! Und welche positive Dynamik könnte da in Gange kommen!
Input E: Ein Schritt vorwärts
Vergleichbar geht es der Schnecke. Sie entschliesst sich – entgegen der Skepsis des Spatzen –, aus ihrem Haus herauszukommen und um ihr Schneckenhaus herumzukriechen. Sie will sich ihre Umgebung endlich einmal sorgfältig und genau anschauen und mit dieser neuen Erfahrung in ihr Haus zurückkehren. Unterstützend für ihr mutiges Tun ist das begeisterte Echo der Maus und des Frosches (und auch des Spatzen). Sie alle klatschen begeistert in ihre Flügel, Schwimmhäute und Pfötchen (auch wenn das Haus nun etwas schief steht).
Denkpause 5: Hinaus aus
Schneckenhaus und Elfenbeinturm
Ein Schneckenhaus als Rückzugsort – erinnert das nicht an den Elfenbeinturm der Bildungsdirektionen und Pädagogischen Hochschulen, gefangen in realitätsfernen Konzepten, fern der Praxis? Oder gibt es doch noch einige Mutige, die sich aus ihrer Blase der ewig Zustimmenden und Applaudierenden hinauswagen und sich das in den letzten Jahrzehnten geschaffene Bildungsdebakel an den Volksschulen von Nahem anschauen? Im übrigen ein absolutes Muss für das ehemalige Bildungsland Schweiz, dessen Volksschulbildung zu den wichtigsten Grundlagen der direkten Demokratie gehört!
Conclusio: Das ist Mut!
Maus, Schnecke und Frosch warten gespannt auf die Mutprobe des Spatzen. Sie wird besonders mutig und frech sein, denken sie, so wie Spatzen eben sind. Er trippelt hin und trippelt her, bis er schliesslich verkündet: «Nun also, ich mach nicht mit.» Dem geneigten Leser stellt sich nun die Frage nach dem Warum. So geht es auch seinen Freunden, die etwas begriffsstutzig über seine Antwort nachdenken, bevor sie jubeln: «Ja, das ist Mut!» (Finde ich auch!)
Wechseln wir zu unseren Bildungsverantwortlichen in der Schlussphase ihrer Weiterbildung. In der üblichen Feedbackrunde wagen sich einige hervor: «Nicht Ideologie, sondern Pädagogik soll wieder Grundlage der Volksschule werden! Das ist mein Ziel.» Fast alle stimmen zu. Nur einer macht nicht mit. Er tanzt aus der Reihe und schlägt vor: «Wir sollten uns am dänischen Bildungsminister Mattias Tesfaye ein Beispiel nehmen. In einem Interview hat er sich bei den dänischen Jugendlichen dafür entschuldigt, dass man sie zu Versuchskaninchen in einem digitalen Experiment gemacht habe, dessen Ausmass und Folgen nicht überblickt werden konnten.» Unerwartet stösst er auf positives Echo: «Wir werden allen Bildungsverantwortlichen dieses Buch schenken, damit auch ihnen die Augen aufgehen.» Der Applaus seiner Mitstreiter ist unverhofft gross (und der Frosch, die Maus, die Schnecke und der Spatz gesellen sich gerne dazu und klatschen in die Schwimmhäute, die Pfötchen, die Fühler und die Flügel). •
PS: Buchhinweis:
Dem Bilderbuch von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer mit seiner vielseitig einsetzbaren und feinfühlig erzählten Geschichte und den schönen Bildern sind viele grosse und kleine Leser und Betrachter in Familie und Schule zu wünschen.
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