Zaccaria Giacometti (1893–1970): «Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte»

von Dr. rer. publ. Werner Wüthrich

Heute ist das Schweizer Modell in Gefahr. Die dynamische Rechtsübernahme im Rahmenvertrag 2.0 würde das Referendum abwerten. Die Neutralität ist praktisch abgeschafft, die Personenfreizügigkeit der EU steht über der Bundesverfassung usw. Mehrere Volksinitiativen sind unterwegs, um diesen Abbau zu stoppen.
  Es gilt das oft zitierte Bonmot «Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie weist Parallelen auf.» So war es nach dem Zweiten Weltkrieg ungewiss, wie sich die Schweizer Demokratie weiterentwickeln würde. Bereits in den 1930er Jahren haben Bundesrat und Parlament 91mal das Referendum verhindert, indem sie vorschnell Bundesbeschlüsse für dringlich erklärten. Dann kam das Vollmachtenregime im Zweiten Weltkrieg. Danach hatten die Bundesbehörden ihre Mühe, auf ihre Vollmachten ganz zu verzichten. Erst die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» im Jahr 1949 brachte Abhilfe. Zaccaria Giacometti, Professor für Staatsrecht und Rektor der Universität Zürich, war damals eine oder die prägende Gestalt in den Debatten um die Wiederherstellung der Demokratie. 1954 hielt er an der Stiftungsfeier der Universität Zürich den wegleitenden Vortrag «Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». In meinem Vortrag an den Herbstgesprächen des Instituts für Personale Humanwissenschaften und Gesellschaftsfragen (IPHG) würdige ich dieses Ereignis.
  Der Künstler Alberto Giacometti ist mit seinen markanten Skulpturen der wohl bekannteste Vertreter aus der Künstlerfamilie im Bergell. Es gibt eine weitere Persönlichkeit aus dieser Grossfamilie, die in der Geschichte ihre Spuren hinterlassen hat: Zaccaria Giacometti war ein Cousin von Alberto. Er war Staatsrechtsprofessor und Rektor der Universität Zürich. 1954 hielt er an der Stiftungsfeier der Universität Zürich einen weit beachteten Vortrag zum Thema: «Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». Diese Frage ist heute wieder aktuell, weil die Demokratie und insbesondere die direkte Demokratie durch gewisse Kreise vermehrt in Frage gestellt wird. Ich denke nicht nur an die dynamische Rechtsübernahme, die die EU für die Schweiz plant. Ich denke auch an die zahlreichen Kriege in neuerer Zeit, in denen demokratische Lösungen bewusst auf die Seite geschoben werden. In den Jugoslawien-Kriegen gab es keine einzige Volksabstimmung über die Staatszugehörigkeit. Der Kosovo – ein Produkt dieser Kriege – kommt auch zwanzig Jahre nach dem Krieg nicht zur Ruhe. In Bosnien ist es ähnlich. In der Ukraine wurde auf der Krim und im Donbass zwar abgestimmt. Aber die Abstimmungen, so deutlich sie auch ausfielen, werden beiseite geschoben. Warum hat die Stimme des Volkes nicht mehr Gewicht? Auch das Selbstbestimmungsrecht gehört zum Völkerrecht. – Die Abstimmungen hätten beitragen können, den Krieg zu vermeiden. Zaccaria Giacometti hat beide Weltkriege und auch die grosse Wirtschaftskrise der 1930er Jahre erlebt. Er hat immer – auch während des Krieges – angemahnt, die Regeln der Demokratie zu beachten. Ein Kernsatz aus seinem Vortrag zeigt sein Menschenbild besonders deutlich.

«Es liegt nahe, dass das Volk und die Volksvertreter als Nutzniesser der Freiheitsrechte die Gewähr der Garantie der Menschenrechte gewissermassen in sich tragen. […] Dem Volk als Träger der Freiheitsrechte sollte das Amt eines Wächters der Menschenrechte wesensgemäss sein.»

Zaccaria Giacometti traut den Menschen als soziale und vernunftbegabte Wesen zu, selber für die Ordnung zu sorgen, die ihnen von der Natur her entspricht. Warum haben Diplomatie und eine gepflegte Demokratie mit Volksabstimmungen – wie sie Giacometti anstrebte – heute nicht längst ihren Platz in der Politik? Sind doch die Resultate der Kriegspolitik katastrophal und unerträglich.
  Die folgenden grundsätzlichen rechtlichen, staatspolitischen und geschichtlichen Ausführungen zeigen, dass die Menschenrechte am besten beim Volk aufgehoben sind. – Ich begleite Professor Dr. Zaccaria Giacometti, damals Rektor der Universität Zürich, durch seinen Vortrag.
  Er begann mit einem geschichtlichen Rückblick: Ungefähr 500 Jahre vor Christus haben griechische Philosophen begonnen, den Gedanken des Naturrechts zu entwickeln. In der Renaissance – fast 2000 Jahre später – ist das Naturrecht in Verbindung zum Christentum weiterentwickelt worden – im Rahmen der christlichen Lehre (Thomas von Aquin, Schule von Salamanca) und später nach der Reformation auch in protestantischen Ländern (Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, John Locke). Ganz wichtig wurde das Naturrecht im Gedankengut der Aufklärung, als es den ersten demokratischen Verfassungen der neu entstehenden Nationalstaaten zugrunde gelegt wurde. Giacometti nennt die eindrücklichsten Dokumente aus dieser und der neueren Zeit.

Die Unabhängigkeitserklärung
 der USA von 1776

«Alle Menschen sind von Natur aus gleich frei und unabhängig und haben bestimmte ihnen innewohnende Rechte», heisst es in der Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776. Die Verfassung der USA von 1789 benennt diese Freiheitsrechte in speziellen Zusatzartikeln: die Religionsfreiheit, die Meinungsäusserungsfreiheit, die Pressefreiheit, die Versammlungsfreiheit und das Recht auf Petition.

Erklärung der Menschen- und
 Bürgerrechte in Paris von 1789

Die Leitidee der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und der Kampfruf der Französischen Revolution «Liberté, Egalité, Fraternité» gingen um die ganze Welt. Die wichtigsten Punkte der Erklärung sind: «Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es» (Art. 1). «Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unantastbaren Menschenrechte. Diese sind das Recht auf Leben, auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Sicherheit und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung» (Art. 2). Diese wegleitenden Grundsätze und Leitideen wurden 1793 in die republikanischen Verfassungen eingebaut – in die Constitution Girondine und in die Constitution Montagnarde. In beiden waren neben den Freiheitsrechten auch Elemente der direkten Demokratie enthalten – sowohl das Referendum als auch das Initiativrecht des Volkes. Zur Anwendung kamen sie wegen der Revolutionswirren nie.

Die Menschenrechtserklärung
 der Uno im Jahr 1948

Nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges beschloss die Generalversammlung der Uno 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Sie konkretisiert in Artikel 1 die Menschenrechte viel umfassender als die Erklärungen aus früherer Zeit: Die persönliche Freiheit, die Religionsfreiheit, die Meinungsäusserungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf Bildung, das Recht auf Arbeit und manches mehr sind in diesem umfangreichen Dokument aufgelistet.
  Heute sind die Menschenrechte in den Verfassungen aller Länder enthalten. Aber es gibt Unterschiede, die ihren Grund in den nationalen Eigenheiten, in den verschiedenen Kulturen und in den politischen Verhältnissen haben. Die geschichtlichen Beispiele zeigen eindrücklich, dass es nicht nur um die Verankerung der Menschenrechte in einem Dokument und in nationalen Verfassungen geht, sondern genauso wichtig ist die Art, wie die Menschenrechte durchgesetzt werden.
  Giacometti wies darauf hin, dass manche Politiker und Zeitgenossen ganz spontan die Frage verneinen würden, ob die Demokratie Hüterin der Menschenrechte sein könne –, weil die Geschichte gezeigt habe, dass auch demokratisch beschlossene Menschenrechte schnell wieder ausser Kraft gesetzt oder gar vom politischen Geschehen hinweggefegt werden können. So hätten die Jakobiner unter Robespierre in den ersten Jahren nach der Französischen Revolution auf Grund von Notrecht eine Schreckensherrschaft eingerichtet, ohne dass die Menschenrechtserklärung von 1789 und nachfolgend die beiden Verfassungen der 1. Republik von 1793 dies hätten verhindern können. Solche Beispiele gibt es in der Geschichte leider etliche. Auch Hitler ist es gelungen, die in der Weimarer Verfassung enthaltenen Menschenrechte relativ einfach und dauerhaft ausser Kraft zu setzen, indem er sich auf Notrecht berief (Notverordnung und Ermächtigungsgesetz). Wie lässt sich das verhindern?
  Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Uno von 1948 verlangt, dass die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechts geschützt werden müssten. An diesem Punkt setzte Zaccaria Giacometti an und gab den Zuhörerinnen und Zuhörer eine kurze Einführung in die Rechtswissenschaft: Er unterteilte das Recht in zwei Bereiche, die sich grundsätzlich unterscheiden, weil sie verschiedenen Normensystemen angehören – in das Positive Recht und das Naturrecht.

Positives Recht

Das Positive Recht ist geschriebenes Recht. Es besteht in der Schweiz aus den heute geltenden Gesetzen, also der Bundesverfassung, den Bundesgesetzen und den Verordnungen. Dem Bundesrecht untergeordnet ist das Recht der Kantone, das über den Erlassen der etwa 2200 Gemeinden steht. Die Juristen sprechen von einer Gesetzeshierarchie. Das Bundesgericht als Verfassungsgericht überprüft die kantonalen Erlasse daraufhin, ob sie dem Bundesrecht nicht widersprechen. Bundesgesetze dagegen kann das Bundesgericht nicht überprüfen. Das Volk übt hier mit dem Referendum die höchste Kontrolle aus. In Deutschland und auch in den USA dagegen überprüft das Verfassungsgericht die Bundesgesetze und die Politik der Regierung auf ihre Verfassungsmässigkeit.

Naturrecht

Das Naturrecht dagegen, das den verschiedenen Menschenrechtserklärungen zugrunde liegt, leitet sich aus der Natur oder dem Wesen des Menschen ab und baut auf philosophischen, religiösen und psychologischen Grundüberzeugungen auf. Dahinter steht ein Bild vom Menschen und der Welt – und damit ein Stück Weltanschauung. Das Naturrecht begründet ethische Forderungen an den Staat. Es ist nach Giacometti «gedachtes und gefühltes Recht», also kein Recht im Sinne erzwingbarer Normen.
  Im Naturrecht gibt es – so Giacometti – unterschiedliche Ansätze, weil es in verschiedenen Schattierungen auftritt: als katholisches Naturrecht (Thomas von Aquin), als protestantisches Naturrecht (Hugo Grotius, Samuel Pufendorf), als rationalistisches Naturrecht (John Locke, Immanuel Kant, Rousseau, Montesquieu und manche mehr), als liberales Naturrecht (David Hume, John Stuart Mill). In den verschiedenen Denkrichtungen gibt es jedoch eine gemeinsame Grundlage – das Wesen des Menschen.
  Optimal verläuft die Rechtsentwicklung – führt Giacometti aus –, wenn sich das Positive Recht mit dem Naturrecht verbindet und sich nicht zwei gegensätzliche Systeme gegenüberstehen.

«Kann die Demokratie
 Hüterin der Menschenrechte sein?»

Nach diesen einleitenden Bemerkungen wendet sich Giacometti der zentralen Frage zu, wer die Menschenrechte schützen und gewährleisten soll, so dass das Naturrecht bzw. die Menschenrechte wirklich auch durchgesetzt und gelebt werden. Kann das Rechtssystem diese Aufgabe wahrnehmen? – Für Giacometti ist das Prinzip der Gewaltenteilung ein Eckpfeiler für Demokratie und Menschenrechte: Die staatliche Gewalt soll aufgeteilt werden in die Exekutive (Regierung), Legislative (Gesetzgeber) und die Gerichte. Diese drei Teilgewalten hemmen und kontrollieren sich gegenseitig, was Machtmissbrauch verhindert und die Freiheitsrechte der Bürger schützt. In der direkten oder halbdirekten Demokratie mit Referendum und Volksinitiative ist das Volk neben dem Parlament ein wichtiger Teil der Legislative bzw. der Verfassungs- und Gesetzgebung. Dazu Giacometti: «Die Aktivbürgerschaft als Teilorgan der verfassungsgebenden und der Gesetzgebungsgewalt nimmt diese hemmende Funktion gegenüber dem Parlament und der Verwaltung wahr.»
  Giacometti erklärte dann, wie die direkte Demokratie die Schweiz in der schwierigen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen davor bewahrt hat, die Demokratie abzubauen und die Freiheitsrechte wesentlich einzuschränken – wie dies in den meisten Ländern damals geschehen ist. Es wurden zahlreiche Volksinitiativen eingereicht.

Föderalismus
 garantiert die Menschenrechte

Den Föderalismus nennt Giacometti als weiteres staatsrechtliches Prinzip, das die Menschenrechte wahrt: Indem der Föderalismus die Staatsgewalt zwischen den Kantonen und dem Bund aufteilt, schützt er die individuelle Freiheit der Bürger. Ein ähnlicher Effekt ist auch in den Kantonen zu beobachten, wo die Gemeinden eine weitreichende Autonomie mit eigener Steuerhoheit besitzen und in denen die Bürger die Gemeindeangelegenheiten aktiv mittragen. Das «Gemeindevolk» sorgt selber für die Freiheitsrechte.
  Giacometti wies auf einen wichtigen Punkt im Föderalismus hin: «Je kleiner das Gemeinwesen ist, desto intensiver erscheint naturgemäss die Mitwirkung der freiheitlich gesinnten Aktivbürger an der Ausübung der öffentlichen Aufgaben.»

Kann das Volk selbst
Hüter der Menschenrechte sein?

Die Demokratie – so Giacometti – bietet die grösste Chance der Verwirklichung der Freiheitsrechte: «Das Volk muss für die freiheitliche Demokratie vorbereitet, politisch reif sein. Ein Volk erscheint für echte, direkte Demokratie reif, wenn es folgende Voraussetzungen erfüllt»:

  1. Die Freiheitsidee: «Erstens muss die Freiheitsidee im Individuum und im Volk lebendig und das rechtsstaatliche Naturrecht zwar nicht als Recht, aber als ethische Kraft wirksam sein.»
  2. Die politische Überzeugung: «Es müssen freiheitliche Wertvorstellungen herrschen, aber nicht als vom Augenblick geborene euphorische Stimmungen oder opportunistische Eingebungen, sondern als tiefe politische Überzeugungen, die das Bewusstsein des Volkes dauernd beherrschen und von den treibenden Kräften des politischen Lebens getragen werden.»
  3. Das geschichtliches Bewusstsein: «Das Volk muss eine freiheitliche Tradition besitzen. Seine freiheitlichen Überzeugungen müssen in einer solchen Tradition wurzeln. Tradition ist aber geschichtliches Bewusstsein, und freiheitliche Tradition infolgedessen freiheitliches historisches Bewusstsein. Ein solches geschichtliches Bewusstsein besitzt aber die Demokratie in dem Falle, dass eine freiheitliche Vergangenheit auf sie nachwirkt, dass also die vorausgegangene Generation der lebenden Generation einen Schatz an freiheitlichen politischen Vorstellungen, Anschauungen und Erfahrungen überliefert hat. […] Es gilt auch hier das Dichterwort: Was du von deinem Vater ererbt hast, erwirb es, um es zu besitzen.»
  4. Die politische Erziehung: «Die lebende Generation muss sich diesen ererbten Schatz an freiheitlichen politischen Einsichten und an freiheitlichen politischen Erfahrungen aneignen, ja, erkämpfen durch entsprechende politische Erziehung, Erprobung und Bewährung als Verfassungsgeber und als einfacher Gesetzgeber einer echten Demokratie.»

Das Referendum – ein «grosses
 politisches Erziehungsmittel» (Giacometti)

1874 war die Bundesverfassung revidiert worden mit einer grundlegenden Neuerung. Falls die Bürger mit einem Bundesgesetz des Parlaments nicht einverstanden waren, konnten sie mit 30 000 Unterschriften eine Volksabstimmung verlangen. Das war revolutionär. Das Referendum sollte zu einer Säule in der schweizerischen Rechtsordnung werden. Wenig später kam das Recht auf eine Volksinitiative dazu. Seit 1848 haben auf Bundesebene bisher 672 Volksabstimmungen stattgefunden, 216mal wurde über ein Referendum zu einer Gesetzesvorlage abgestimmt und 234mal über eine Volksinitiative, die eine Verfassungsänderung zum Thema hatte. Dazu kamen zahlreiche Referenden in den Kantonen und unzählige in den Gemeinden. Die Zahlen beeindrucken. Das «Chaos» ist nicht ausgebrochen, wie anfänglich manche befürchtet hatten. Die Schweiz gehört heute zu den stabilsten Demokratien. Aber es gab manche Schwierigkeiten.

Hintertüre beim Referendum

Als 1874 das Referendum gegen Bundesbeschlüsse eingerichtet wurde, gab es ein Problem. Wer den Verfassungsartikel aufmerksam durchlas, merkte bald, dass es für das Parlament eine Hintertür gab, die Volksabstimmung zu vermeiden – das sogenannte dringliche Notrecht. Das Parlament konnte mit einfachem Mehr beschliessen, die Angelegenheit sei dringlich und das Referendum nicht möglich. Es war zudem nirgends definiert, was «dringlich» heisst. «Pressiert» es doch fast immer in der Politik. Wann ist die Eile angemessen? Vor allem in der schwierigen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen hat das Parlament diese Hintertüre sehr oft benutzt und eine Volksabstimmung vermieden. Viel zu oft, fanden Zaccaria Giacometti und Gleichgesinnte. So machen wir die direkte Demokratie kaputt! Und sie wollten das Problem lösen.

Ein Beispiel

1934 verbot der Bund mit Notrecht die Eröffnung von neuen Warenhäusern oder neuer Filialen. Das Verbot trat sofort in Kraft, und eine Referendum war nicht möglich. Der Bund wollte damit den Detailhandel – die kleinen und mittleren Läden – schützen. Diese Massnahme war gegen Gottlieb Duttweiler gerichtet, den Gründer der Migros. Duttweiler hatte begonnen, das Migros-System flächendeckend über das ganze Land auszudehnen, und bedrohte damit die Existenz vieler Detailhändler. Das Verbot wurde immer wieder erneuert und erst 1946 aufgehoben. «Um Himmels willen, das kann doch nicht sein. Das ist ein Verstoss gegen die Handels- und Gewerbefreiheit. Wir leben in einem freien Land», hat Duttweiler wahrscheinlich ausgerufen. Giacometti gab ihm recht, das geht so nicht. Wirtschaftskrise ja – aber warum sollen wir nicht über die Massnahmen abstimmen und gerade über solche, die dem Volk helfen, die Krise zu bewältigen? Duttweiler gründete eine Partei, den Landesring der Unabhängigen,bereitete eine Volksinitiative vor und wandelte seine Aktiengesellschaft in eine Genossenschaft um, indem er die Anteilsscheine im Wert von 30 Franken seinen Angestellten und den treuen Kundinnen und Kunden schenkte. Zudem liess sich Duttweiler durch das Notrecht nicht entmutigen. Er schickte Lastwagen als mobile Verkaufsläden in die Quartiere und in die Dörfer, um die Bevölkerung günstig mit dem Nötigsten zu versorgen. Noch bis in die 1980er Jahren waren solche mobilen «Läden» unterwegs. Heute ist die Migros mit ihren riesigen Zentren der grösste «Detailhändler» der Schweiz.
  151mal hat das Parlament zwischen den beiden Weltkriegen auf diese oder ähnliche Weise ein Referendum verhindert – meist aus wirtschaftlichen Gründen. Das Volk hat diese Einschränkung zum Teil mit Volksinitiativen kompensiert. Über 21 Volksinitiativen wurde in dieser Zeit abgestimmt und über sieben fakultative Referenden gegen Gesetzesvorlagen, die zum Teil mit über 300 000 Unterschriften eingereicht wurden – zehnmal mehr als verlangt.
  Trotzdem fand Giacometti, so dürfe die direkte Demokratie nicht umgangen werden. Übertriebenes Notrecht schadet. Giacometti und andere machten sich Gedanken, wie man das Problem lösen könnte. Soll man das Notrecht eng befristen oder im Parlament eine qualifizierte Mehrheit verlangen? Das waren offene Fragen. Es gab mehrere Volksinitiativen. Eine einfache Lösung gab es nicht.

Ein Verfassungsgericht?

1939 – kurz vor dem Zweiten Weltkrieg – schlug eine Gruppe von Professoren mit einer Volksinitiative vor, eine Art Verfassungsgericht einzurichten. Gewählte Richter sollten darüber entscheiden, ob in einem bestimmten Fall oder in einer bestimmten Situation Notrecht berechtigt sei oder nicht. Es kam zur Volksabstimmung. Das Volk stimmte mit einer Dreiviertel-Mehrheit mit Nein, und alle Kantone waren dagegen. Nicht Richter, sondern das Volk soll über die Freiheits- und Menschenrechte wachen. Giacometti nahm später dazu deutlich Stellung: «Ein Richter über der Verfassung – das ist eine unerträgliche Vorstellung.» Das war eine grundlegende Weichenstellung in der Rechtsordnung der Schweiz. Die Schweiz hat bis heute kein Verfassungsgericht für Bundesrecht – im Unterschied zu den meisten Ländern. Aber wie sollte es weitergehen?

Volksinitiative «Rückkehr
 zur direkten Demokratie»

Im Zweiten Weltkrieg erhielt der Bundesrat vom Parlament weitgehende Vollmachten, an denen er noch nach dem Krieg teilweise festhielt. 1949 stimmte das Volk der Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» zu, an der sich Zaccaria Giacometti im Hintergrund beteiligt hatte. Seither gilt:

Notrecht, das sofort in Kraft gesetzt wird, ist nach wie vor möglich. Aber – falls die Verfassung verletzt wird, gibt es innerhalb eines Jahres eine obligatorische Volksabstimmung. Falls ein Gesetz verletzt wird, ist innerhalb eines Jahres das fakultative Referendum möglich.

Damit kontrolliert das Volk auch beim dringlichen Notrecht die Freiheits- und Menschenrechte – so Zaccaria Giacometti.

Die «Corona»-Referenden

«Funktioniert das?», werden manche denken. Ja – wir haben es vor wenigen Jahren erlebt in der Corona-Pandemie. Als die Fallzahlen 2020 anstiegen, erliess das Parlament ein dringliches Bundesgesetz – das Covid-19-Gesetz, das sofort in Kraft trat und dem Bundesrat weitgehende Befugnisse gab. Ich nenne nur ein paar Stichwörter: Impfpflicht, Zertifikat, Masken, Quarantäne, Home Office, Homeschooling usw. Ich muss das nicht in Erinnerung rufen.
  Gegen die immer radikaler werdenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit und ganz allgemein der Freiheitsrechte meldete sich bald einmal Opposition – vor allem aus der Innerschweiz. Ich erinnere mich an die Gruppe der Verfassungsfreunde aus dem Kanton Schwyz, die mit Kuhglocken gegen die massive Einschränkung der persönlichen Freiheit auftraten. Aber auch Ärzte waren dabei, die die Massnahmen von der medizinischen Seite her anzweifelten. Jedes Mal, wenn der Bundesrat und das Parlament das Covid-19-Gesetz verschärften und weitere, dringliche Massnahmen anordneten (die sofort in Kraft traten), ergriffen die Gegner das Referendum, und es kam nach wenigen Wochen zur Abstimmung: am 13. Juni 2021 ein erstes Mal, am 28. November 2021 ein zweites Mal und schliesslich am 18. Juni 2023 stimmten die Stimmbürger ein drittes Mal über die jeweiligen Änderungen ab. Jedes Mal legten etwa 60 Prozent der Stimmenden ein Ja zur Politik des Bundesrates in die Urne. Manche werden denken: Warum wurde abgestimmt? – Das war doch eine Angelegenheit der Ärzte und der Experten? Die drei Volksabstimmungen haben dem Bundesrat den Rücken gestärkt und die angeheizte Stimmung etwas beruhigt.
  Diese drei Abstimmungen in der Schweiz waren weltweit einmalig. Nirgends sonst hat die Bevölkerung über die Gesundheitspolitik ihrer Behörden abstimmen können. Vor ungefähr siebzig Jahren hat Zaccaria Giacometti dafür den Weg geebnet. Selbst in schlimmen Not-Situationen wie in einer Pandemie bezieht die Politik das Volk mit ein – ganz im Sinne von Giacometti – zum Schutz der Freiheits- und Menschenrechte. Ich habe seit 1949 fünfzehn notrechtliche Volksabstimmungen gezählt. In allen stimmte das Volk mit Ja und stärkte der Regierung den Rücken. Noch ein Beispiel: Als das Bretton-Woods-System 1972 zusammenbrach, ergoss sich ein wahrer Dollar-Regen über die Schweiz. Der Bundesrat erhielt die Kompetenz, zusammen mit der Schweizerischen Nationalbank sofort dringliche Abwehrmassnahmen zum Schutz der Währung zu ergreifen. In der Volksabstimmung, die folgte, stimmten fast 90 Prozent dafür.
  Ob solche Volksabstimmungen im Gesundheitsbereich weiterhin möglich sind, ist fraglich. Die WHO hat vor kurzem Internationale Gesundheitsvorschriften erlassen, und ein Internationaler Pandemievertrag liegt auf dem Tisch, die beide über dem nationalen Recht stehen sollen. Die WHO und nicht mehr die nationalen Behörden sollen künftig die dringenden Massnahmen anordnen. Diese sehen mit Sicherheit keine Volksabstimmung vor.

Demokratie als Lernprozess

Was will ich mit diesem Vortrag zeigen? Demokratie ist ein Lernprozess, der nicht so einfach ist – auch für das Parlament und die Regierung. In diesem Sommer haben der Bundesrat und das Parlament die Reform der Pensionskassen vorbereitet – eine komplizierte Geschichte. Einige haben das Referendum ergriffen. Am 22. September haben «wir» als Volk nein gesagt – und die Arbeit beginnt von vorn. In wenigen Wochen folgt die Referendumsabstimmung über eine einheitliche Finanzierung im Gesundheitswesen – nicht weniger komplex. Zaccaria Giacometti hat das Referendum als «grosses politisches Erziehungsmittel» bezeichnet.
  In den ersten Jahrzehnten nach 1874 haben Bundesrat und Parlament dem Volk noch nicht so ganz vertraut. Die Politiker haben deshalb immer wieder auf das Notrecht zurückgegriffen und die Volksabstimmung vermieden – heute unverständlich. Viel zu oft, fanden Zaccaria Giacometti und Gleichgesinnte und schoben dieser Unsitte mit der Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» einen Riegel vor.

Die Bundesverfassung
 als permanente Baustelle

Der weitere Lernprozess ist nur möglich, wenn die Souveränität der Schweiz erhalten bleibt. Heute gibt es Tendenzen, die direkte Demokratie wieder einzuschränken. So tendiert das Parlament dazu, Volksinitiativen nicht umzusetzen. Die Personenfreizügigkeit der EU habe Vorrang und stehe über der Bundesverfassung, heisst es im Parlament.
  Das Bundesgericht hat zu diesem Paradigmenwechsel beigetragen, ohne von der Verfassung und vom Volk legitimiert worden zu sein. Im Oktober 2012 hat es erstmals nicht zwingendes Völkerrecht über die Bundesverfassung gestellt und dies wie folgt begründet: «Besteht ein echter Normenkonflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht, so geht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung der Schweiz vor. Dies gilt selbst für Abkommen, die nicht Menschen- oder Grundrechte zum Bestand haben.» Das ist neu und engt den rechtlichen Rahmen für die direkte Demokratie erheblich ein, und Richter bekämen eine Aufgabe, die sie bisher nicht hatten. Kritiker sprechen zu Recht von einem stillen Staatsstreich.
  Es lässt sich nur erahnen, was die Schweiz erwartet, wenn die dynamische Rechtsübernahme kommt, wie sie die EU für die Schweiz plant. Das Referendum würde seinen Charakter als «grosses politisches Erziehungsmittel» verlieren, wie es Giacometti bezeichnet hatte. Die EU würde Sanktionen beziehungsweise Ausgleichsmassnahmen verordnen, wenn ihr das Ergebnis einer Volksabstimmung nicht passt. Ungeheuerlich – Giacometti würde sich im Grabe umdrehen! Die Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger wären nicht mehr die «Hüter der Menschenrechte».

Problematische Urteile des
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

1949 wurde der Europarat gegründet, der 1950 die Europäische Menschenrechtserklärung (EMRK) beschloss. 1959 wurde der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg eingerichtet – jedoch nur mit eingeschränkten Befugnissen. Giacometti war skeptisch. Erst 1998 wurde der heutige Gerichtshof als vollamtliches Gericht geschaffen, das erheblich in die Rechtsordnung der einzelnen Länder eingreift. Die Schweiz hatte die EMRK im Jahr 1974 ratifiziert – ohne Volksabstimmung, weil Bundesrat und Parlament davon ausgingen, dass die Menschenrechte ohnehin in der Bundesverfassung enthalten sind.
  Beispiele aus der neuerer Zeit zeigen, dass die Befürchtungen von Zaccaria Giacometti berechtigt waren. Der Gerichtshof EGMR betreibt mit seinen Urteilen oft Politik und schwächt so den Nationalstaat. Die Richter entschieden, ob in den Schulzimmern Italiens ein Kruzifix hängen darf oder ob es ein Menschenrecht auf ein Minarett gibt, ob muslimische Schülerinnen am Schwimmunterricht teilnehmen müssen usw. Der neueste Entscheid des EGMR gegen die Schweiz betrifft die Klage der «Klima-Seniorinnen». Die Frauen verlangten vor dem Bundesgericht, dass die Bundesbehörden mehr zur Erreichung der Klimaziele machen müssten. Die bereits in die Wege geleiteten Massnahmen seien ungenügend. Ihr Menschenrecht auf Leben und ihr Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens seien verletzt, lautete ihre Begründung. Als das Bundesgericht nicht darauf einging, reichten sie Klage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein. Das Gericht gab den Klägerinnen recht.
  Zum ersten Mal protestierten Bundesrat und Parlament. Der Bundesrat war der Auffassung, dass die Schweiz die klimapolitischen Anforderungen des Urteils erfüllt. Der Ständerat und auch der Nationalrat riefen in einer Erklärung das Richtergremium zur Ordnung und verlangten, das Gericht solle sich auf den Schutz der Grundrechte beschränken und nicht politischen Aktivismus betreiben. – Meine Frau Marianne Wüthrich drückte ihr Unbehagen in ihrem Zeit-Fragen-Artikel vom 14. Mai 2024 ebenfalls deutlich aus: «Was hat der Klimaschutz mit dem Recht älterer Frauen auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens zu tun?», fragte sie, «Leute mit gesundem Menschenverstand sind sich einig: nichts.»
  Solche Urteile, die sogar über die betroffenen Länder hinaus wirken sollen, schwächen die Demokratie in den einzelnen Ländern und lenken vom eigentlichen Wesen der Menschenrechte ab. Und vor allem lenken sie davon ab, dass heute die elementarsten Menschenrechte an vielen Orten der Welt krass verletzt werden – vor allem in den Krisenregionen und als Folge der unerträglichen Kriegspolitik, die auch Länder führen, welche die EMRK ratifiziert haben. – Was lehrt uns Professor Dr. Zaccaria Giacometti, ehemals Rektor der Universität Zürich, in seinem Vortrag?

Die Schlussworte in der Rede
 des grossen Staatsrechtlers Zaccaria
 Giacometti im Jahr 1954 sind eine
 Mahnung für die heutige Generation:

«In der Schweiz amtet das Volk in umfassender Weise unmittelbar als Hüter der Menschenrechte, und unser Land wird infolgedessen trotz allem durch eine Harmonie weitgespannter individueller und politischer Freiheit gekennzeichnet. Diese Harmonie ist bedingt durch eine freiheitliche Atmosphäre, die auf politischen Wertvorstellungen, auf alter freiheitlicher Überlieferung und politischer Erfahrung und Bewährung beruht. Ja, die Schweiz bildet einen einzig dastehenden Fall von Demokratie, wo das Volk als Gesetzgeber selbst Hüter der Menschenrechte ist, und sie bringt damit in schönster Weise den lebendigen Beweis der Existenzmöglichkeit eines echten, eines freiheitlichen demokratischen Staates.»
  Das Referat von Zaccaria Giacometti endete mit den bekannten Worten des Zürcher Dichters Gottfried Keller:

«Das Land ist eben recht,
Ist nicht zu gut und nicht zu schlecht,
Ist nicht zu gross und nicht zu klein,
Um drin ein freier Mann zu sein!» •

Quellen:

«Die Demokratie als Hüterin der Menschenrechte». Festrede des Rektors der Universität Zürich Prof. Dr. Zaccaria Giacometti, gehalten an der 121. Stiftungsfeier der Universität Zürich am 29. April 1954. (Jahresbericht 1953/54)

Linder, Wolf; Bolliger, Christian; Rielle, Yvan. Handbuch der eidgenössischen Volksabstimmungen 1848–2007. Bern 2010

Kölz, Alfred. Neuere Schweizerische Verfassungsgeschichte. Ihre Grundlinien in Bund und Kantonen seit 1848. Bern 2004 – mit Quellenbüchern. Bern 1992 und 1996

Wüthrich, Werner. Wirtschaft und direkte Demokratie in der Schweiz. Zürich 2020

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