Ukraine feuert US-Raketen auf Russland und riskiert grösseren Krieg

von Joe Lauria*

Die Ukraine hat am Dienstag [19. November] sechs US-amerikanische ATACMS-Raketen auf russisches Territorium abgefeuert, nur zwei Tage nachdem der scheidende US-Präsident Joe Biden ihnen die Erlaubnis dazu erteilt hatte – trotz einer russischen Warnung vor einem möglichen Krieg mit den USA und der Nato.
  Nach ukrainischen Angaben richtete sich der Angriff vor Tagesanbruch nicht gegen ein Munitionslager in Kursk, was Biden genehmigt hatte, sondern gegen ein Ziel im benachbarten Brjansk, einer Region im Südwesten Russlands, 110 Kilometer von der Grenze zur Ukraine entfernt.
  Das russische Verteidigungsministerium erklärte, es habe fünf der sechs ATACMS abgeschossen. Nach Angaben der «New York Times» sagte ein Vertreter des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, der Angriff habe Depots getroffen, die «Artilleriemunition, einschliesslich nordkoreanischer Munition für ihre Systeme, gelenkte Luftbomben, Flugabwehrraketen und Munition für Mehrfachraketen-Systeme» enthielten.
  Der russische Aussenminister Sergej W. Lawrow sagte auf einer Pressekonferenz: «Die Tatsache, dass gestern Abend mehrere ATACMS gegen die Region Brjansk eingesetzt wurden, zeigt, dass sie [im Westen] eine Eskalation wollen. Sehen Sie, es ist unmöglich, diese Hightech-Raketen ohne die Amerikaner einzusetzen, und [der russische Präsident Wladimir] Putin hat das wiederholt gesagt.»
  Am Montag hatte der Kremlsprecher Putins Warnung wiederholt, dass die Nato, würde ihr Personal solche Raketen abfeuern, in einen direkten Krieg mit Russland eintreten würde, was die Konfliktsituation verändere. Das ist nun geschehen.

November-Überraschung

Damit riskiert Biden das, wovor er zuvor gewarnt hatte: «Der dritte Weltkrieg, okay? Lasst uns das klarstellen, Leute. Wir werden nicht den dritten Weltkrieg in der Ukraine führen», sagte er im März 2022 zu Reportern, als er auf das Pentagon hörte und seinen Aussenminister Antony Blinken bezüglich einer Nato-Flugverbotszone überstimmte.
  Erst vor zwei Monaten, im September, gab Biden den Realisten im Pentagon recht, als er sich dagegen aussprach, dass britische Storm Shadow-Langstreckenraketen von der Ukraine tief nach Russland abgefeuert werden, weil er befürchtete, dass dies zu einem direkten Krieg zwischen der Nato und Russland mit möglicherweise unvorstellbaren Folgen führen würde.
  Und jetzt, in einer Art November-Überraschung, nachdem die amerikanischen Wähler seine Partei mit überwältigender Mehrheit aus dem Weissen Haus vertrieben haben, setzt ein unehrenhafter Biden, der nur noch wenige Wochen an der Macht sein wird, am Roulette-Rad die Chips der Menschheit mit hohem Einsatz auf den Tisch, um sein leichtsinniges Ukraine-Glücksspiel zu retten und es dem neuen Präsidenten Donald Trump noch schwerer zu machen, den Krieg zu beenden.
  Und wenn der Krieg mit der unvermeidlichen ukrainischen Niederlage endet, kann Biden dann Trump die Schuld geben und versuchen, sich aus der Verantwortung für die von ihm verursachte Katastrophe zu ziehen.

Wusste das Pentagon
überhaupt davon?

Während das Pentagon Biden bereits zweimal davon abhielt, einen direkten Krieg mit Russland zu beginnen, scheint er dieses Mal das Verteidigungsministerium nicht einmal informiert zu haben und widersetzte sich ihm mit seinem ausserordentlich unverantwortlichen Schritt.
  Auf die direkte Frage von Reportern am Montag, ob Biden sich mit hochrangigen Militärs beraten habe, bevor er die Ukraine mit den ATACMS losschickte, wich Pentagon-Sprecherin Sabrina Singh wiederholt aus.

«Das Weisse Haus hat das Pentagon also nicht darüber informiert, dass es der Ukraine erlaubt hat, Langstreckenangriffe zu starten?
Sabrina Singh: Ich habe der Berichterstattung vom Wochenende nichts hinzuzufügen.

Aber können Sie bestätigen, dass Biden das Pentagon und Verteidigungsminister Austin wissen liess, dass es jetzt grünes Licht dafür gibt?
Ich kann die Berichte nicht bestätigen, und ich kann auch nicht näher auf die Berichterstattung eingehen. Ich kann Ihnen nur sagen, was Ihre zweite Frage zu den ATACMS betrifft, dass wir der Ukraine im Rahmen verschiedener Abrufpakete des Präsidenten ATACMS zur Verfügung gestellt haben. Unsere Unterstützung für die Ukraine geht mit verschiedenen PDAs weiter. Aber zu den Berichten vom Wochenende, auf die Sie sich beziehen, kann ich Ihnen im Moment nicht mehr sagen.»

Die ATACMS-Raketen, die das Pentagon zuvor zur Verfügung gestellt hatte, waren nur für den Einsatz innerhalb der ukrainischen Grenzen vor 2022 bestimmt und durften nicht nach Russland geschossen werden. Vielleicht konnte Singh über die Berichterstattung vom Wochenende hinaus keine näheren Angaben machen, weil das Pentagon von dieser folgenschweren Entscheidung möglicherweise nur durch die Lektüre der Zeitung erfahren hat, wie jeder andere auch.

Russische Zurückhaltung bis
zum Amtsantritt von Trump?

Wird Moskau seiner Drohung, Nato-Ziele anzugreifen, bis zum 20. Januar, wenn Trump das Amt übernimmt und der Ukraine möglicherweise die Erlaubnis entzieht, nachkommen? Das könnte davon abhängen, wie viele ATACMS-Raketen die Ukraine erhält und wie intensiv die Angriffe sind.
  Biden gehört offenbar zu denen in der Nato, die glauben, dass Putin blufft. Mit diesen ATACMS-Angriffen heute glaubt der 8-Wochen-Präsident, er könne diesen Bluff entlarven, dabei pokert er mit der Zukunft der Menschheit. Zufälligerweise hat Putin am Dienstag, dem Tag der ukrainischen Angriffe, Russlands neue Nuklearkriegsdoktrin mit zwei wesentlichen Änderungen vorgestellt.
  Die erste besagt: «Eine Aggression gegen die Russische Föderation und/oder ihre Verbündeten durch einen Nichtkernwaffenstaat mit Beteiligung oder Unterstützung eines Kernwaffenstaates wird als deren gemeinsamer Angriff betrachtet.» Das würde eindeutig die Ukraine einschliessen.
  Die zweite wichtige Änderung lautet: «Die Russische Föderation behält sich das Recht vor, als Reaktion auf den Einsatz von Kernwaffen und/oder anderen Massenvernichtungswaffen, mit denen sie selbst und/oder ihre Verbündeten angegriffen werden, Kernwaffen einzusetzen, wenn eine solche Aggression eine kritische Bedrohung für ihre Souveränität und/oder territoriale Integrität darstellt.»
  Die Formulierung «kritische Bedrohung» ersetzt die Formulierung «die Existenz des Staates selbst ist gefährdet», wodurch die Hürde für den Einsatz von Atomwaffen gesenkt wurde.
  All dies wurde vom Weissen Haus in einer Stellungnahme des Nationalen Sicherheitsrats der USA vom Tisch gewischt, in der es hiess, es seien «keine Änderungen an der nuklearen Haltung Russlands» zu erkennen. In einem alarmierenden Artikel, der eine Welt voraussagt, die schlafwandelnd in die nukleare Vernichtung geht, schrieb David Sanger von der «New York Times»:
  «Es war bezeichnend, dass die Reaktion in Washington am Dienstag nur ein kurzes Gähnen war. Beamte taten die Doktrin als Luftnummer nuklearer Drohung ab. Statt dessen wurde in der Stadt darüber spekuliert, wer sich als Finanzminister durchsetzen würde oder ob Matt Gaetz, ein ehemaliger Kongressabgeordneter, gegen den Sex- und Drogenvorwürfe erhoben wurden, der aber nie angeklagt wurde, das Bestätigungsverfahren für den Posten des Generalstaatsanwalts überstehen könnte.
  Der Krieg in der Ukraine hat viele Dinge verändert: Er hat Hunderttausende von Menschenleben ausgelöscht und Millionen von Menschen in Angst und Schrecken versetzt, er hat Europa erschüttert und die Feindschaft zwischen Russland und den Vereinigten Staaten vertieft. Aber er hat Washington und die Welt auch an den erneuten Einsatz von Atomwaffen als ultimatives Verhandlungsmittel gewöhnt. Der Gedanke, dass eines der neun Länder, die heute im Besitz von Atomwaffen sind – der Iran steht kurz davor, das zehnte zu werden –, den Knopf drücken könnte, löst eher Achselzucken aus als die Einberufung des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen.» •

Quelle: https://consortiumnews.com/2024/11/19/ukraine-fires-us-missiles-at-russia-risking-wider-war/
vom 19.11.2024

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Joe Lauria ist Chefredakteur von Consortium News und ehemaliger UN-Korrespondent für das «Wall Street Journal», den «Boston Globe» und andere Zeitungen, darunter die «Montreal Gazette», die «London Daily Mail» und «The Star of Johannesburg». Er war ein investigativer Reporter für die Sunday Times of London, ein Finanzreporter für Bloomberg News und begann seine berufliche Tätigkeit als 19jähriger freier Mitarbeiter für die «New York Times». Er ist Autor von zwei Büchern, «A Political Odyssey», mit Sen. Mike Gravel, Vorwort von Daniel Ellsberg; und «How I Lost By Hillary Clinton», Vorwort von Julian Assange.

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