USA: Poker mit der eigenen «Erstschlag»-Kapazität

Experten warnen: Das ist Wahnsinn!

von Peter Küpfer

Besonnene Stimmen, auch in den Vereinigten Staaten, weisen eindringlich darauf hin, dass das hektische Wettrüsten der USA für gewisse einflussreiche Kreise zum höchst bedrohlichen Spiel mit der globalen Katastrophe geworden ist. Trotzdem setzen die Vereinigten Staaten weiter alles daran, insbesondere Russland und China mit einem nuklearen Überraschungsschlag vernichtend treffen zu können. Kürzlich ist offenbar von den USA ein neuer entscheidender Schritt in diesem hochsensiblen Bereich umgesetzt worden. Er ist ein weiterer Beweis für den eisernen Willen der ins Schwanken geratenen einstigen Weltmacht, ihre unveränderten Herrschaftsansprüche gegen den Rest der Welt durchzusetzen, koste es, was es wolle. Es scheint, sogar zum Preis der Selbstvernichtung, zumindest für Teile seiner europäischen und ihm hörigen Vasallen.

Der scheidende amerikanische Präsident hat als eine wichtige Amtshandlung noch im März 2024 grünes Licht zur Weiterverfolgung des Programms der weiteren massiven Steigerung der Wirkung des amerikanischen Nuklearpotentials gegeben. Amerikanischen Quellen zufolge besteht seit mehr als 20 Jahren eine intensive Forschung zur ultimativen Erreichung der amerikanischen nuklearen Erstschlagkapazität. Der Beginn dieser Anstrengungen entspricht dem Zeitpunkt, als sich die USA von allen friedenssichernden Abkommen zurückgezogen haben, vor allem von denjenigen mit Russland.
  Im August 2024 hat dazu die «New York Times» ihr zugespielte Details aus dem unter Verschluss gehaltenen Dossier veröffentlicht.1 Danach ist das seit Jahrzehnten bestehende amerikanische Rüstungsprogramm zur Steigerung der Sprengkraft in letzter Zeit soweit gediehen, dass es den USA aktuell erlauben soll, «Russland, China und Nordkorea gleichzeitig abzuschrecken». Der Begriff «abschrecken» ist in diesem Zusammenhang allerdings unzulässig verharmlosend. Er heisst nämlich in Tat und Wahrheit nichts anderes als das, was hinter jedem Spiel mit dem nuklearen Erstschlag das nicht genannte Hauptziel ist: den Erstschlag unbemerkt vom Gegner so schnell und effizient zu führen, dass er den Einsatz von dessen Abwehrsystem verunmöglicht. Natürlich wird dies dann so dargestellt werden, es sei der rechtzeitige Gegenschlag gewesen, weil sich die Anzeichen verdichtet hätten, die gegnerische Seite habe den Erstschlag ausüben wollen. Das ist ein weites und vertracktes Feld für (beabsichtigte?) Missverständnisse und dergleichen.

Das Spiel mit dem Feuer

Dr. Ted Postol, emeritierter Professor für nationale Sicherheit am MIT, schreibt dazu in einem detaillierten Bericht auf der amerikanischen rüstungskritischen Plattform Responsible Defense (Verantwortungsvolle Verteidigung) zusammengefasst folgendes:
  Die aktuelle qualitative Verbesserung der amerikanischen nuklearen Feuerkraft für Interkontinentalraketen ist in den letzten Jahren durch revolutionäre waffentechnische Ergänzungen derart gesteigert worden, dass sich ihr Zerstörungspotential um das Dreifache gesteigert hat. Sowohl Wirkung in die Bodentiefe als auch Zielpräzision wurden drastisch erhöht. Dies wurde auf Grund der Entwicklung eines hochwirksamen Sprengsatzes sowie der technologisch gesteigerten Wirkung einer neuen Generation von Sprengköpfen erreicht. Mit der Erhöhung der Sprengkraft sei die Erreichung des Ziels, nämlich die Ausschaltung von gegnerischen Lenkwaffensilos im Boden, gegenüber früheren Generationen entscheidend verbessert worden. Zusammen mit der schon lange bestehenden technischen Überlegenheit in der Erkennung eines feindlichen Nuklearangriffs habe sich die Situation damit entscheidend zugunsten der USA verändert. Während die Russische Föderation heute 30 Minuten benötige, um einen Ernstfall zu erkennen und darauf zu reagieren, betrage er für die USA nur die Hälfte, 15 Minuten. All dies, so folgern amerikanische Atom-Zauberlehrlinge in der Entwicklung der neuen Generation von nuklear einsetzbaren Fernlenkwaffen, soll es den USA ermöglichen, alle russischen, chinesischen und nordkoreanischen landgestützten Nuklearsilos gleichzeitig, auf einen Schlag, auszuschalten, wie Postol mit Zitierung entsprechender offizieller Dokumente schreibt.2

Die Warnungen von
Fachleuten endlich ernst nehmen

Professor Postol, der sich intensiv mit der Wirkung von Kernwaffen befasst, verbindet seinen detaillierten Bericht über die neue Generation von nuklearen Sprengköpfen mit einer ernsten Warnung: «Egal wie erfolgreich ein geplanter präventiver [gemeint ist präemptiver] Nuklearangriff (auf dem Papier!) aussehen mag, die Realität eines Atomkriegs, der in dem wahnhaften Glauben begonnen wird, er sei zu gewinnen, wird eine globale Zerstörung von so grossem Ausmass sein, dass das Ende der menschlichen Zivilisation nicht auszuschliessen ist.»3 [Hervorhebung pk]
  Die Kuba-Krise hat schon 1962 mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass Missverständnisse oder Systemfehler in den bestehenden Dispositiven für den Einsatz von strategischen Nuklearwaffen nie ausgeschlossen werden können. Schon damals ist die Welt, wie der ehemalige US-amerikanische Verteidigungsminister McNamara später öffentlich bekannt hat, haarscharf an der Katastrophe «vorbei geschrammt», wie er sich ausdrückte. Beide Lager hatten einander verdächtigt, den nuklearen Erstschlag auslösen zu wollen. Für John F. Kennedy war das der Anlass, sich mit Nikita Chruschtschow über eine ernsthafte Abrüstung zu einigen, worauf dieser einging. Dieser erste ernsthafte Versuch zur Verbesserung der ehrlichen Friedenschancen mitten im Kalten Krieg und angesichts der atomaren Dauerbedrohung wurde durch Kennedys Ermordung zunichte gemacht.

Es dominiert
unverantwortlicher Leichtsinn

Vor diesem Hintergrund wird der Nato-Beschluss beklemmend, entsprechende Lenkwaffen auch in Deutschland zu stationieren. Dass sich europaweit diesbezüglich kaum Proteste erheben, weder in den Regierungen noch der Opposition noch in politischen Parteien, ist unfassbar. Was Russland betrifft, dessen Abwehr in erster Linie im Visier steht, neben derjenigen der Volksrepublik China und Nordkoreas, so hat zumindest Wladimir Putin eine klare Warnung ausgesprochen. Der Westen täte gut daran, sie ernster zu nehmen, als es bisher der Fall war, wie dies die entlarvende Äusserung von Staatssekretär Anthony Blinken erst kürzlich wieder augenfällig macht. Er antwortete auf die entsprechende Frage vor Medienvertretern, was Russland zum neuen Nato-Beschluss sage, atomar bestückbare Fernlenkwaffen auf deutschem Territorium zu installieren, «es interessiere ihn nicht, was sie in Russland dazu sagen».
  Ist es nur Leichtsinn und Verantwortungslosigkeit, die aus einem solchen öffentlichen Statement eines Hauptverantwortlichen für Amerikas Aussenpolitik spricht, oder Ausfluss amerikanischen Grössenwahns? Wenn Politiker wirklich davon überzeugt sind, dass erstens Amerika die weltweite Supermacht bleiben soll, dass zweitens die übrige Welt sich ihren Interessen unterzuordnen habe und dass drittens die USA das sich selbst gewährte und durch Waffen durchgesetzte Vorrecht besitze, diesen ihren Anspruch der Herrschaft über alle andern in dieser Welt mit allen Mitteln durchzusetzen, dann müssten doch bei allen noch vernünftig Denkenden, auch in Europa, endlich entsprechende Gegenkräfte wirksam werden. Besser heute als morgen. Denn es bleibt bei der Einsicht eines jeden denkenden Mitmenschen: Die Konzepte eines erfolgreichen atomaren Erstschlages mit seinen Auswirkungen auf die ganze Welt (auch auf die Auslöser!) entspringen einem Wahn, dem Allmachts-Wahn. •



1 «Biden approved secret nuclear strategy»; in: The New York Times vom 20.8.2024
2 Ted Postol liefert dazu auf der amerikanischen Plattform «Responsible Statecraft» eine umfassende Darstellung, in: https://responsiblestatecraft.org/biden-nuclear-strategy vom 29.8.2024
3 ebenda

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