Der Kernpunkt: Soll die EU bestimmen, was in diesem Land zu gelten hat?

Interview mit Nationalrat Franz Grüter

Zeit-Fragen: Nach dem Besuch von EU-Kommissar Maroš Šefčovič in Bern gab der Bundesrat einmal mehr bekannt, die Verhandlungen über das Abkommen Schweiz-EU sollten bis Ende Jahr abgeschlossen werden, ohne dass er die Bevölkerung bisher über das Ergebnis informiert hat. Tut der Bundesrat so geheimnisvoll, weil er vermutlich wenig herausholen konnte?
Franz Grüter: Ja, es ist so, dass die Punkte, über die der Bundesrat verhandelt, eigentlich lauter Nebenkriegsschauplätze sind. In den Medien wird täglich über irgendwelche Forderungen und Entgegenkommen berichtet, zur Schutzklausel, zur Spesenregelung, über Hunderte von irgendwelchen kleinen Punkten. Aber worüber gar nicht mehr verhandelt wird, das sind die Kernpunkte dieses Unterwerfungsvertrages: Dass wir künftig automatisch EU-Recht übernehmen müssten, dass die Europäische Union uns sagt, was in der Schweiz zu gelten hat. Wenn wir als Stimmvolk in einer Abstimmung zu einer Initiative oder einem Referendum anders entscheiden, dann gibt es «Ausgleichsmassnahmen».

Was ist mit «Ausgleichsmassnahmen» gemeint?
Das ist ein schönfärberisches Wort für Strafen. Wir hätten quasi bei jeder Abstimmung das Gewehr im Nacken: Wenn wir nicht so abstimmen, wie die EU will, werden wir bestraft. Wenn es Streit gibt, entscheidet der Europäische Gerichtshof abschliessend und bindend, was hier in diesem Land gilt. So steht es im Papier des Bundesrates und der EU, dem Common Understanding. Und wir müssen der EU erst noch wiederkehrend Milliardenzahlungen leisten. Diese vier Punkte sind gar nicht mehr Bestandteil der Verhandlungen, und deshalb ist es heute schon klar: Egal, was noch in diesem Papier stehen wird, im Kern handelt es sich um einen Kolonialvertrag. Da müssen wir massiv dagegen ankämpfen.

Die Befürworter sagen natürlich, es gebe ja ein Schiedsgericht, das über die Ausgleichsmassnahmen der EU entscheiden könnte.
Ja, natürlich gibt es ein Schiedsgericht, das ist richtig. Aber wenn es um die Rechtsauslegung geht, wenn es um Streitfragen geht, wenn es darum geht, was jetzt genau gilt, ist der Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für das Schiedsgericht bindend. Damit hat der Europäische Gerichtshof das letzte, finale Wort. Das ist völlig inakzeptabel für einen unabhängigen Staat, dass ein fremdes Gericht bestimmt, was bei uns zu gelten hat und was nicht. Das wäre das Ende der direkten Demokratie und auch das Ende des Erfolgsmodells Schweiz. Hier geht es letztlich um die Frage, ob die Schweiz sich der Europäischen Union quasi unterwerfen will.

Die Befürworter behaupten, ohne Rahmenabkommen würden uns wirtschaftliche Probleme drohen. 
Die EU ist das Gegenteil von einem Erfolgsmodell. Schauen Sie sich einmal die Europäische Union an, sie liegt am Boden, sie ist finanziell ruiniert. Die EU-Staaten sind komplett überschuldet. Die EU ist geschwächt, ist ein riesiger Bürokratiemoloch geworden. Das einzige, was in Europa so richtig funktioniert, ist die Regulation. Immer neue Gesetze und Vorschriften. Der Green Deal umfasst 14 000 Seiten Vorgaben! Das EU-Gesetz zur Künstlichen Intelligenz fast 500 Seiten. Diese Regulierungswut führt dazu, dass auch die Unternehmungen unter diesem gigantischen Bürokratieapparat zunehmend leiden und dann letztlich an Innovationskraft und an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit verlieren. Deshalb ist die EU im Gegensatz zu den USA und China auch in Sachen Innovation ins totale Hintertreffen gefallen. Statt dessen kümmert man sich in Brüssel um Pet-Flaschen-Deckeli, die nicht mehr abfallen dürfen – also völlig wahnsinnige, unglaublich bürokratische Vorschriften, die nichts bringen. Ich glaube, es ist gerade für die Schweiz als Exportnation extrem wichtig, dass sie auch wirtschaftlich weiterhin eigenständig bleiben kann.

Die Unternehmergruppe Kompass Europa hat eine Initiative lanciert gegen diesen EU-Vertrag, über 2000 Unternehmer sind wie Sie der Meinung, der Schweiz gehe es besser, wenn sie auch in Zukunft eine eigenständige und demokratisch kontrollierte Wirtschaftspolitik verfolgt. 
Ja, es freut mich sehr, dass es Organisationen gibt wie Kompass Europa. Sie sind ja nicht die einzigen. Es gibt auch andere, zum Beispiel die Organisation autonomiesuisse, ebenfalls mit erfolgreichen Unternehmern wie Hans-Jörg Bertschi und Hans Peter Zehnder, die dort führende Kräfte sind. Und es ist interessant, dass plötzlich Menschen, Persönlichkeiten, Unternehmer, die mit Politik normalerweise nichts am Hut haben, den Mut haben, hinzustehen und zu sagen: Wir dürfen das nicht unterschreiben. Ich muss sagen, ich habe grossen Respekt vor diesen Leuten. Dazu gehören auch Persönlichkeiten wie Bernhard Russi oder Kurt Aeschbacher, die ja keine Politiker sind. Aber sie spüren, dass es in die falsche Richtung geht, wenn wir uns der EU unterwerfen würden. Sie kämpfen für ein Anliegen, das enorm wichtig ist, und erzielen auch Wirkung. 

Die Initianten von Kompass Europa wollen ja auch, dass über wichtige Staatsverträge zwingend mit einem obligatorischen Referendum mit Ständemehr abgestimmt werden muss.
Das ist so. Mit einem obligatorischen Referendum wäre nicht nur das Volksmehr, sondern auch das Kantonsmehr erforderlich. Und dann kommt ein Nationalrat Simon Michel [FDP, Pharma-Unternehmer] und sagt, es könne doch nicht sein, dass kleine Kantone wie die beiden Appenzell das Zünglein an der Waage spielen, wenn es um eine solche Entscheidung geht. Was für eine Arroganz! Es ist doch genau unser Staatsmodell, dass eben nicht nur die grossen Kantone bestimmen können. Dass man dieses Modell gerade bei dieser wichtigen Frage aushebeln möchte, das ist verwerflich. 

Wenn ich Ihnen zuhöre, geht es mir noch weniger in den Kopf, dass der Wirtschaftsverband economiesuisse weiter daran festhält, diesen Vertrag abzuschliessen.
Bei economiesuisse bestimmen Grosskonzerne, die fast ausschliesslich von Ausländern geführt werden. Diese haben wenig persönlichen Bezug zur Schweiz und interessieren sich nicht unbedingt für unsere direkte Demokratie und andere Besonderheiten unseres Landes. Aber ich stelle fest, dass die Begeisterung für die EU bei den grossen Firmen deutlich nachgelassen hat. Sie sehen ja, wie die Regulierungswut der EU den Wirtschaftsnationen Deutschland und Frankreich schadet. Vor allem im weltweiten Wettbewerb.

Der Ständerat hat einem Gasabkommen mit Deutschland und Italien zugestimmt, wonach die drei Staaten sich in Gasmangellagen gegenseitig unterstützen wollen. Sollte die Schweiz nicht mehr solche Verträge mit einzelnen Ländern, gerade auch Nachbarstaaten, abschliessen?
Ja, das ist ein gutes Beispiel, dass man wichtige Fragen für unser Land auch direkt mit anderen Staaten lösen kann. Ich plädiere für gute Beziehungen mit ganz Europa. Europa ist nicht nur die EU. Wir sollten gute Beziehungen pflegen, wir wollen im gegenseitigen Interesse Handel betreiben. Wir können auch einzelne Verträge abschliessen. Aber diese Verträge sollten auf Augenhöhe sein, sie müssen kündbar sein, und wir lassen uns nichts aufzwingen. Schon gar nicht eine automatische Übernahme von EU-Recht. Dieser Gasvertrag ist ein Super-Beispiel für echte bilaterale Verträge, wo beide einen Nutzen haben. So stelle ich mir eigentlich die Zukunft vor.

Vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Nationalrat Grüter. •

Ein Moloch-Paket mit über 1000 Seiten

Zeit-Fragen: Wie geht es nun weiter mit dem EU-Abkommen?
Franz Grüter: Es ist geplant, dass sich am 20. Dezember Ursula von der Leyen und Bundespräsidentin Viola Amherd treffen. Wie ich gehört habe, wird an diesem Tag quasi bekanntgegeben, dass die Verträge fertig verhandelt seien. Anfang 2025 prüfen die Juristen noch einmal alles, dann gibt es im Frühling eine Vernehmlassung, und dann geht dieser Vertrag ins Parlament. Aber es kommt nicht nur der Vertrag ins Parlament. In der Bundesverwaltung sind rund 100 Beamte daran, alle notwendigen staatlichen Gesetzesanpassungen vorzubereiten. Man spricht von dreissig nationalen Gesetzesanpassungen und von 150 EU-Gesetzen, sogenannten Richtlinien, die wir direkt übernehmen müssten. Das Ganze kommt in die Botschaft des Bundesrates zuhanden des Parlaments. Total rund 1000 Seiten! Dieses Moloch-Paket wird dann im Parlament behandelt und kommt am Schluss zur Volksabstimmung.

Kann das Parlament überhaupt noch etwas daran ändern?
Das Parlament könnte theoretisch sagen, wir akzeptieren das nicht.

Aber inhaltlich ändern können Sie nichts?
Doch, wir könnten natürlich bei den nationalen Gesetzen etwas ändern. Aber letztlich ist der Vertrag so verhandelt. Das Parlament könnte nein sagen dazu, wird es aber nicht. Da müssen wir den Realitäten schlicht und einfach in die Augen schauen. Wir werden diesen Unterwerfungsvertrag nur mit einer Volksabstimmung bekämpfen können. Und das wird die Mutter aller Schlachten. Das wird – neben der Neutralitätsinitiative – die wichtigste Volksabstimmung der letzten dreissig Jahre sein, die für unser Land wegweisend sein wird. Und ich hoffe, dass die Schweizer Bevölkerung Sorge trägt zu dem, was unser Land ausmacht, und sich nicht einem solchen inakzeptablen EU-Vertrag unterwirft.

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