Russland und die westlichen Oligarchien

Mehr Frieden gibt es wohl nur mit vielen kleinen Schritten

von Karl-Jürgen Müller

Vor fast 20 Jahren, vom 2.–4. September 2005, hat die Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» ihren Jahreskongress unter das Thema «Was braucht es für mehr Frieden auf der Welt?» gestellt. Mehr als 50 Experten aus der ganzen Welt diskutierten mit mehreren hundert Teilnehmern die äusserst facettenreiche Frage nach den Bedingungen für mehr Frieden. Wer den 500seitigen Kongressband durchblättert1, erkennt schon im Inhaltsverzeichnis: erstens, dass die Frage nach diesen Bedingungen nahezu alle Lebens- und Politikbereiche umfasst. Und zweitens, dass wir heute noch viel weiter vom Frieden entfernt sind als damals. Obwohl das Jahr 2005 und die Jahre vorher keineswegs friedlich waren: völkerrechtswidriger Angriffskrieg der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999, völkerrechtswidriger Angriffskrieg der Nato auf Afghanistan seit 2001, völkerrechtswidriger Angriffskrieg der US-geführten «Koalition der Willigen» auf den Irak seit 2003.
  Schon damals zeigte sich, dass die westlichen Oligarchen keine Skrupel hatten, die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel einzusetzen, um ihre Herrschaftsansprüche auszuweiten und durchzusetzen. Und dass diese Herrschaftsansprüche der Oligarchen eben auch alle Lebens- und Politikbereiche erfassen – von der Infragestellung der Familie bis hin zum brutalsten Waffeneinsatz in völkerrechtswidrigen Kriegen.
  Den Begriff «Oligarch» benutze ich hier in Anlehnung an den französischen Historiker und Anthropologen Emmanuel Todd, der in seinem Buch «Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall» (2024, ISBN 978-3-86489-469-5) mit Blick auf die westlichen Staaten von «liberalen Oligarchien» spricht. Diese Staaten seien nach ihren Verfassungen zwar liberale Demokratien, in der Realität aber schon seit vielen Jahren Systeme, in denen das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben weitgehend von nur wenigen Mächtigen bestimmt wird. «Liberalität» gebe es vor allem gegenüber Minderheiten: den wenigen sehr Reichen und allem «Woken». Dem stellt er für Russland den Begriff «autokratische Demokratie» gegenüber, weil das Land zwar zentralistisch geführt werde, aber diese Führung die Interessen der Bürger des Landes im Auge habe.

Putins Widerspruch und die Folgen

Knapp eineinhalb Jahre nach diesem Kongress «Mut zur Ethik» erlebte das westliche Herrschaftsgebaren einen signifikanten öffentlichen Widerspruch: die Rede des russischen Präsidenten Wladimir W. Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar 2007.2
  Bis 2007 hatte die westliche Politik darauf gesetzt, die Herrschaft über Russland schleichend und ohne offene Kriegsbeteiligung an sich zu ziehen. Die Kapitel über Russland in Zbigniew Brzezinskis 1997 im englischen Original erschienenen Buch «Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft»3 legen beredt Zeugnis davon ab. Das Streben nach einer solchen Herrschaft gab es seit dem Ende des Kalten Krieges; es reichte von der direkten Steuerung der russischen Politik durch US-Abgesandte in Moskau, über die gezielte Verelendung des Volkes, die Plünderung russischer Rohstoffe und die verdeckte Unterstützung separatistischer Kräfte (zum Beispiel in den beiden Tschetschenien-Kriegen) bis hin zur Nato-Ost-Erweiterung, der Aufkündigung von Abrüstungsverträgen und den Plänen für eine Stationierung sogenannter Raketen«abwehr»-Stellungen in Osteuropa. 
  Nach 2007 ging man zur offenen Konfrontation über, vor allem in Form von Sanktionen und Stellvertreterkriegen: schon 2008 zum Beispiel – kläglich gescheitert – in Südossetien. Der 2014 im Osten der Ukraine begonnene Krieg und die Eskalation im Februar 2022 lagen ganz auf dieser Linie. Es gibt zahlreiche Belege dafür, wenn gesagt wird, der Westen habe diesen Krieg provoziert, um Russland international zu isolieren, wirtschaftlich zu ruinieren und eine entscheidende «strategische Niederlage» zuzufügen, einen Regime change durchzuführen und das Land vielleicht sogar in viele unregierbare, aber gut auszubeutende Teile zu zerlegen – ähnlich wie die Pläne für die «Neuordnung» Westasiens.4

Es ging niemals nur um die Ukraine

Es ging also niemals nur um die Ukraine und schon gar nicht um deren Schicksal, sondern um grundlegende Interessen westlicher Oligarchen. Dies erklärt die Heftigkeit des Krieges in der Ukraine («bis zum letzten Ukrainer») und die ständige westliche Eskalation mit aggressiven Narrativen über die eigene Unschuld und Opferrolle.5 Exemplarisch und aktuell dafür stehen die «Gemeinsame Erklärung der Aussenministerinnen und -minister Deutschlands, Frankreichs, Polens, Italiens, Spaniens und des Vereinigten Königreichs in Warschau» und die «Entschliessung des Europäischen Parlaments zu der Verstärkung der unerschütterlichen Unterstützung der EU für die Ukraine angesichts des Angriffskriegs Russlands und der zunehmenden militärischen Zusammenarbeit Nordkoreas und Russlands».6 Dies erklärt auch das grosse russische Misstrauen gegenüber den nun zu hörenden westlichen Reden über einen Waffenstillstand.
  Mit der nun drohenden Niederlage im ukrainischen Stellvertreterkrieg drohen die langfristigen westlichen Pläne zu scheitern. Das Machtstreben der westlichen Oligarchen aber ist noch ungebrochen. Am 27. November sprach der ehemalige Oberst der US-Armee Douglas Macgregor in einem Video-Interview7 mit Blick auf die Haltung der jetzigen, aber auch der kommenden US-Verantwortlichen von Ignoranz und Arroganz – welche die Welt an den Rand eines dritten Weltkrieges führten. – Und es ist zu befürchten, dass die aktuellen Entwicklungen in Syrien den westlichen Kriegstreibern wieder Auftrieb geben werden.

Reden über Waffenstillstand
genau unter die Lupe nehmen

Die nun vermehrt zu hörenden offiziellen westlichen Rufe nach einem Waffenstillstand müssen deshalb sehr genau unter die Lupe genommen werden. Wo geht es um ein wirkliches Interesse an einem Ende des Krieges in der Ukraine und eine Einigung gleichberechtigter Verhandlungspartner? Wo geht es darum, ein Fundament für eine Sicherheitsordnung in Europa zu schaffen, welche die Sicherheitsinteressen aller europäischen Staaten achtet? Sind die US-Oligarchen wirklich bereit, die Jahrzehnte der gar nicht friedlichen pax americana zu beenden? Wo erkennen wir eine Mogelpackung, die dazu dienen soll, das offensichtliche Scheitern der westlichen Kriegsanstrengungen zu kaschieren und langfristig doch auf Krieg bzw. weitere westliche Vorherrschaft zu setzen?
  Untersucht man mit diesen Fragestellungen zum Beispiel die neuen Vorschläge von Wolodimir Selenski, aber auch die des von Donald Trump benannten kommenden Ukraine-Beauftragten Kellogg, so neigt sich die Waagschale bislang noch in Richtung Mogelpackung.

Den Krieg beenden, aber wie?

Für die Soldaten an der Front in der Ukraine, für die Menschen im Land, in Europa und auch in der Welt insgesamt wäre es ein Segen, wenn die Waffen ruhen – besser heute als morgen. In Richtung Westen muss man allerdings hinzufügen: Die russische Politik ist zwar keine Politik des Alles oder Nichts. Aber die Verantwortlichen des Landes wissen, was sie wollen, und sie wissen auch, was die westlichen Oligarchen antreibt. Russland handelt mit offenem Visier. Faule Kompromisse wird das Land nicht eingehen. Und dies liegt nicht nur im russischen Interesse.
  Ja, Russland demonstriert derzeit auch seine militärische Überlegenheit! Aber verstehen die Oligarchen des Westens denn bislang eine andere Sprache?
  Russland wird auf seiner conditio sine qua non bestehen: eine Ukraine, von der keine Kriegsgefahr für Russland mehr ausgeht. Eine Ukraine, die ihren Anspruch auf die Gebiete, in denen sich die Menschen mehrheitlich für Russland entschieden haben oder entscheiden, aufgibt. Eine Ukraine, die keinem gegen Russland gerichteten Militärbündnis angehört, weder offiziell noch anderweitig. Eine Ukraine, die russischsprachige Bürger nicht weiterhin diskriminiert. Frieden kann es nur geben, wenn dem Waffenstillstand eine nachhaltige Sicherheitsordnung folgt.
  Am Beginn echter diplomatischer Bemühungen um eine Friedenslösung werden die Ziele der Verhandlungspartner nicht identisch sein. Es wird wohl so sein, dass der westliche Verhandlungspartner anfangs noch ganz andere Ziele verfolgt als der russische. Das ist keine Tragödie. Mit bleibender Ignoranz und Arroganz wird es allerdings keine Verhandlungslösung geben.

Feindbild Russland aufgeben

Die russlandfeindliche Hetze der vergangenen Jahre in der Ukraine wie auch in fast allen westlichen Ländern hat das westlich-russische Verhältnis vergiftet. Dies wird nicht mit einem Waffenstillstand oder Friedensschluss zu heilen sein. Aber das Beispiel der deutsch-französischen Geschichte zeigt, dass daraus keine ewige Feindschaft resultieren muss. Wenn die Verantwortlichen im Westen wirklich auf Frieden umstellen, ergibt sich daraus auch sehr viel Gegengift.
  Dem Frieden am meisten gedient wäre allerdings, wenn die Bürger der westlichen Staaten – mit vielen kleinen Schritten – aus ihren Ländern (wieder) echte liberale Demokratien machen würden. •



1 Verlag Menschenkenntnis (Hg.). Mut zur Ethik. Was braucht es für mehr Frieden auf der Welt? XIII. Kongress vom 2. bis 4 September 2005 in Feldkirch/Vorarlberg, Zürich 2006,  ISBN 3-906989-57-7
2 in deutscher Übersetzung zum Beispiel bei https://www.infosperber.ch/wp-content/uploads/2017/02/Putin-Muenchen-Rede-2007.pdf
3 Brzezinski, Zbigniew. Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft. Frankfurt a. M. 1999, S. 130ff.
4 vgl. zum. Beispiel Kurt O. Wyss. Die gewaltsame amerikanisch-israelische «Neuordnung» des Vorderen Orients. Aarau 2022, ISBN 978-3-033-09019-4
5 Unschulds- und Opfer-Narrative sind insbesondere auch in den Staaten Mittel- und Osteuropas, die zum ehemaligen Einflussbereich der Sowjetunion gehörten, weit verbreitet. Die Völker dieser Staaten waren Opfer sowjetischer Politik, vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Allerdings ist es eine Beugung der historischen Tatsachen, wenn die sowjetische Politik als russische Politik charakterisiert wird. Dies dient vor allem der antirussischen Propaganda. Das heutige Russland ist keine neue Sowjetunion.
6 https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/2685616-2685616 vom 19.11.2024; Beschluss des EU-Parlaments in deutscher Übersetzung: https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/RC-10-2024-0191_DE.htmlvom 26.11.2024; vgl. zum Beschluss des EU-Parlaments auch den Kommentar des EU-Parlamentsabgeordneten Michael von der Schulenburg auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=125590 vom 2.12.2024
7 https://www.youtube.com/watch?v=gVshqS0UvXE

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