von Winfried Pogorzelski
«My subject is War, and the pity of War,
The Poetry is in the pity …
All a poet can do today is warn.»1
Wilfred Owen
In Zeiten des Krieges erhält das «War Requiem», ein Oratorium für Gesangssolisten, Chor und Orchester des britischen Komponisten Benjamin Britten (1913–1976) besondere Aktualität. Es zählt zu den bedeutendsten Chorwerken des 20. Jahrhunderts und wurde am 30. Mai 1962 zur Einweihung der wieder aufgebauten Kathedrale von Coventry in England unter dem Dirigat des Komponisten uraufgeführt. Das Gotteshaus war im November 1940 von der deutschen Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt worden; nur der Turm und ein Teil der Aussenmauern blieben stehen. Das neue Gebäude wurde an die Ruine angebaut – ein beeindruckendes Mahnmal.2 Als Zeichen der Versöhnung gewann Britten für die Uraufführung den englischen Tenor Peter Pears und den deutschen Bariton Dietrich Fischer-Dieskau; die russische Sopranistin Galina Pawlona Wischnewskaja erhielt von der sowjetischen Regierung keine Ausreiseerlaubnis und wurde durch eine nordirische Sängerin ersetzt.
Benjamin Britten –
Komponist, Pianist, Dirigent
Benjamin Britten erhält schon im Alter von fünf Jahren von seiner Mutter Klavierunterricht. Bereits als Achtjähriger schreibt er seine ersten Kompositionen. In den dreissiger Jahren studiert er am Royal College of Music in London Klavier und Komposition. 1937 lernt er den Opernsänger und späteren Lebensgefährten Peter Pears kennen, für den und mit dem er zahlreiche Werke schreibt, vor allem Kunstlieder und Titelrollen für seine Opern, die sie über Jahrzehnten in den grossen Konzertsälen der Welt aufführen. 1939 begibt sich der erklärte Pazifist und Kriegsdienstverweigerer mit Pears in die USA.
Nach seiner Rückkehr wird er in zweiter Instanz als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Mit dem Geiger Yehudi Menuhin gibt er Konzerte in Lagern, die von den Westalliierten und der Sowjetunion für sogenannte Displaced Persons (traumatisierte Erwachsene, Jugendliche und Kinder) eingerichtet wurden. 1954 gehört er zu den Unterstützern des neu gegründeten antikolonialistischen Movement for Colonial Freedom. Nach dem Motto «Keeping the cultural door open» verbindet ihn während des Kalten Krieges eine enge Künstlerfreundschaft mit Dmitri Schostakowitsch. Wegen seines gesellschaftskritischenEngagements wird er mehrfach vom englischen Inlandgeheimdienst überwacht.
Brittens umfassendes Werk enthält Orchesterwerke, Chorwerke, Opern, Solo-Vokalmusik, Kammermusik und Kantaten, zahlreiche Kompositionen sind geistlicher Natur. Für sein Werk erhält er viele Auszeichnungen im In- und Ausland. Auch als Pianist und Dirigent ist er sehr erfolgreich.
Das «War Requiem»: Die Musik …
Zahlreiche Komponisten nahmen sich der Vertonung des Requiems, der Totenmesse für einen Verstorbenen an, darunter Wolfgang Amadeus Mozart, Giuseppe Verdi, Anton Bruckner, Gabriel Fauré bis hin zu Vertretern der Neuen Musik im 20. Jahrhundert wie Igor Strawinski und György Ligeti. Das «War Requiem» ist ein besonderes Requiem, vom Komponisten vier Freunden gewidmet, die im Krieg fielen: Es betrauert die Millionen Toten der zwei Weltkriege und bedarf deshalb besonderer Formen der Musik und des Textes.
Der kompromisslose Pazifist Britten komponierte das eineinhalbstündige Werk als Ausdruck grosser Trauer, ja Verstörung angesichts der Monstrosität beider Weltkriege. Die aufwendige Besetzung: Sopran-, Tenor- und Bariton-Stimmen, gemischter Chor und Knabenchor, Orgel, Glocken, grosses Orchester und Kammerorchester. Die Musik hat nichts Trostspendendes, Opernhaftes und keine eingängigen Melodien wie im traditionellen Requiem, sondern klingt über weite Strecken monoton, dissonant, Kriegsgeräusche nachempfindend.
Der traditionelle lateinische Text der Totenmesse, vom gemischten Chor und vom Solo-Sopran vorgetragen, und neun Antikriegsgedichte des Dichters und Soldaten Wilfred Owen (1893–1918), gesungen von Bariton und Tenor, werden einander gegenübergestellt, was hier nur exemplarisch dargelegt werden kann. Owen ist in der englischen Literatur der wichtigste Zeitzeuge des Ersten Weltkriegs, der sich nicht scheut, die durchlebten Greuel und die Absurdität des Krieges drastisch darzustellen. Von der Propaganda irregeführt wie unzählige andere junge Männer, war er mit der Erwartung eingerückt, Abenteuer zu erleben und bald wieder siegreich nach Hause zurückzukehren. Wie alle jungen Soldaten trifft ihn die grausame Realität des modernen Krieges völlig unvorbereitet; er fällt wenige Tage vor dem Waffenstillstand in Frankreich.
… und die Texte
Die klassische Form des Requiems beginnt mit den Worten:
«Ewige Ruhe schenke ihnen, o Herr,
Und es leuchte ihnen das ewige Licht! […]
Dir, o Gott, gebühret Lobpreis in Zion.»
Zwei Männerstimmen (Tenor, Bariton), Soldaten von zwei Kriegsgegnern verkörpernd, intonieren anschliessend ein Gedicht von Owen, das – wie die übrigen Gedichte auch – den traditionellen Text konterkariert:
«Was für Totenglocken gebühren denen, die wie Vieh sterben?
Nur die ungeheure Wut der Geschütze,
Nur das schnelle Knattern der ratternden Rohre
Kann ihre hastigen Gebete für sie herniederprasseln.
Kein Hohn für sie in Litaneien oder Glocken,
Und keine einzige Stimme der Trauer, bis auf die Chöre,
Die gellenden, irren Chöre von heulenden Granaten […]»
Und an anderer Stelle singt das Duo:
«Da draussen gingen wir ganz freundlich
Auf den Tod zu.
Setzten uns hin und assen mit ihm,
Kühl und nüchtern
[…] Wir haben den grünen, schweren Geruch
Seines Atems eingesogen, unsere Augen weinten, aber unser Mut
Wankte nicht.
Er spie uns an mit Kugeln und er hustete
Schrapnell. Wir machten den Chor, wenn er sang;
Wir pfiffen, während er mit seiner Sichel über
Uns hinwegfuhr.»
Die beiden Stimmen intonieren auch die alttestamentarische Parabel von Abraham, den Gott auf seinen Gehorsam geprüft, indem er verlangt, ihm seinen einzigen Sohn zu opfern. Abraham will umgehend gehorchen – doch im letzten Moment fordert ihn ein Engel auf, nicht Hand an den eigenen Sohn zu legen. Abraham werden daraufhin elf weitere Söhne geschenkt. Owen ändert den Schluss radikal: Nach der Aufforderung des Engels, einen Widder und nicht den eigenen Sohn zu opfern, heisst es:
«Doch der alte Mann wollte nicht, sondern
Schlachtete seinen Sohn
Und die halbe Saat Europas, einen nach dem Anderen.»
Abraham wird zum Stellvertreter der Politiker, die ihren Stolz nicht überwinden können, um dem Krieg ein Ende zu setzen, sondern ohne Skrupel alle ihre Soldaten opfern.
Owen unterstreicht zum Schluss noch einmal, dass nichts als der endgültige Tod auf die Soldaten wartet. Tenor:
«Ich bin der Feind, den du getötet hast, mein Freund.
Ich erkannte dich in dieser Dunkelheit;
Denn mit diesem finsteren Blick
Durchbohrtest du mich auch gestern, als du
Zustiesst und tötetest.
Ich parierte; aber meine Hände waren unwillig
Und kalt.»
Das Duett singt abschliessend:
«Lass uns nun schlafen.»
Knabenchor, Chor und Sopran beschliessen das Requiem hingegen traditionell:
«Die Engel mögen dich in das Paradies führen;
Bei deiner Ankunft sollen die Märtyrer dich
empfangen […].»
Während und nach der Uraufführung in der Kathedrale von Coventry applaudiert nach Brittens Wunsch niemand. Vielmehr herrscht betroffene Stille. Dieses Requiem verheisst keine paradiesischen Zustände, sondern warnt vor den Konsequenzen ungelöster Konflikte, ist ein Mahnmal gegen jeglichen Krieg und ein Appell für den Frieden.
Instrumentalisierung der Kunst
Angesichts der aktuellen Weltlage und der vielen Konflikte, die mit Waffengewalt ausgetragen werden, liegt es nahe, das Werk aufzuführen. Während des zu Ende gehenden Jahres haben die Konzerte des SWR Symphonieorchesters unter der Leitung von Teodor Currentzis (*1972) Aufsehen erregt. Der gebürtige Grieche mit russischer Staatsbürgerschaft amtete als Chefdirigent an der Oper in Nowosibirsk und gründete dort 2004 das Ensemble MusicaAeterna, das sich besonders der Musik des 18. und 19. Jahrhunderts annimmt, inzwischen in St. Petersburg domiziliert ist und zu den gefragtesten Ensembles gehört. Bekannte Werke des klassischen Repertoires interpretiert es auf eine bislang nicht gehörte Art und Weise, was bei Publikum, Ausführenden und Fachwelt grosse Anerkennung findet. MusicaAeterna wird von der sanktionierten russischen VTB-Bank unterstützt; das zuletzt gegründete, aus 128 Mitgliedern aus aller Welt bestehende Ensemble «Utopia» kann auf westliche Geldgeber zählen.
Weder die Intendanz der Salzburger Festspiele noch diejenige des SWR Symphonieorchesters verlangten im Umfeld der diesjährigen Aufführungen des Requiems von Currentzis eine Distanzierung von der Politik Russlands oder einer Verurteilung des Ukraine-Krieges. In Stuttgart betonte man allerdings, man verurteile natürlich den Angriffskrieg Russlands. Die Kölner Philharmonie lud das Orchester mit dem Hinweis auf russische Sponsoren kurzerhand aus. Die Intendanz der Wiener Festwochen nahm auf Druck der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und der Musiker des Sinfonieorchester Kiew die Aufführung des War Requiems wieder aus dem Programm: Man könne sich nicht vorstellen, neben Currentzis und dem SWR Symphonieorchester aufzutreten, als wenn nichts wäre … ein Affront ohnegleichen, dem sich die Intendanz beugte.3 Ein Jahr nach dem Beginn des Ukraine-Krieges fanden an diversen Orten Gedenkveranstaltungen statt, auch mit der Intonierung der ukrainischen Nationalhymne, gerade so, als wäre dieser Krieg der einzige, der gerade ausgetragen wird … In dieselbe Kerbe hauen regelmässig auch viele Medien, in dem sie den Druck aufrechterhalten. So fragt die «Neue Zürcher Zeitung»: «Wie laut kann man zu Russland schweigen?» Oder man stellt Forderungen wie z.B., Currentzis solle endlich sein Verhältnis zu Wladimir Putin, seine Einstellung zum Ukraine-Krieg und «seine unklaren Russlandverbindungen offenlegen», mit letzterem ist vor allem das Sponsoring gemeint, auf das jedes Orchester angewiesen ist.
Es ist wahrlich nicht das erste Mal, dass Kunst für propagandistische politische Zwecke instrumentalisiert und damit missbraucht wird. Currentzis und seine Orchester lassen sich nicht einspannen, sondern sie tun das, was sie am besten beherrschen und was man von Musikern erwartet: Sie sprechen durch die Musik; Fachwelt und Publikum danken es ihnen nach wie vor. •
1 Diese Worte des britischen Dichters und Soldaten Wilfred Owen (1893–1918) setzte Britten vor die Partitur. «Mein Thema ist der Krieg und das Leid des Krieges. Die Poesie liegt im Leid … Alles, was ein Dichter heute tun kann, ist warnen.»
2 Dasselbe Konzept wurde bei den Ruinen der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Berlin realisiert, die 1943 von der britischen Luftwaffe als Vergeltung bombardiert wurde, sowie bei der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg, die der «Operation Gomorrha» genannten Luftschlacht um Hamburg 1943 zum Opfer fiel.
3 Das Kiewer Orchester brachte das Kaddish Requiem «Babyn Jar» des zeitgenössischen ukrainischen Komponisten Jevhen Stankovych (*1942) zur Aufführung, das ein Massaker nationalsozialistischer Soldaten an 30 000 ukrainischen Juden (1941) thematisiert.
Weitere Quellen:
Abels, Norbert. Benjamin Britten, (Rowohlt Monografien), Reinbek 2008
«Benjamin Brittens ‹War Requiem›: Ergreifend, damals wie heute», https://www.ndr.de/kultur/musik/klassik/Brittens-War-Requiem-Ergreifend-damals-wie-heute-,warrequiem566.html
«Nach sechs Jahren mit dem SWR Symphonieorche-ster, Standing Ovations zum Abschied: Currentzis dirigiert Brittens ‹War Requiem›», https://www.swr.de/swrkultur/musik-klassik/bewegender-abschied-currentzis-dirigiert-brittens-war-requiem-100.html
Offizielle Webseite der Kathedrale in Coventry, https://www.coventrycathedral.org.uk
Programmheft der Aufführung des SWR Symphonieorchesters unter Teodor Currentzis im Konzerthaus Freiburg und in der Stuttgarter Liederhalle vom Juni 2024, https://www.swr.de/swrkultur/index.html
Programmheft der Elbphilharmonie in Hamburg vom Juni 2024, https://www.elbphilharmonie.de/de/programm/britten-war-requiem-teodor-currentzis/20224
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