Ein Hilfsprojekt in Kenia – eine Oase der Menschenwürde

von Eliane Perret

Wie geht es Kindern in anderen Ländern? Wie sieht ihr Lebensalltag aus? Fragen von Kindern, die interessiert ihren Eltern, Grosseltern oder Lehrpersonen zuhören, in der Schulklasse zusammen diskutieren, eine Landkarte erforschen, Fotos oder ein YouTube-Filmchen aus den entsprechenden Regionen anschauen. Das entspricht dem sozialen Wesen der Kinder (und der Menschen überhaupt): Sie möchten wissen, wie ihre «Gspänli» in anderen Teilen der Welt leben. Deshalb tragen Projekte in Familie und Schule, denen ein solches Anliegen zugrunde liegt, zur gefühlsmässigen Verbindung mit allen Menschen auf der Erdkugel bei. Das Interesse an dem, was auf der Welt passiert, wird geweckt, genauso wie der Wunsch und Wille, sich entschieden gegen Unrecht einzusetzen. Es geht um die Verankerung einer von zwischenmenschlicher Anteilnahme getragener Gefühlshaltung und ihrer Bedeutung für ein friedliches Zusammenleben, wie sie im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert ist: «Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.» Diesen Respekt gegenüber den Mitmenschen bei Kindern zu legen, muss gerade heute in unserer von Krieg geschüttelten Zeit eines der vorrangigen Erziehungsziele sein.

Sie heissen Emmanuel, Miriam,
Brigit, Schamim oder Favour

Das sind Kinder, die gemeinsam mit vielen anderen die KidStar Academy besuchen, eine Schule im grössten Slum Afrikas in Kibera, im Südwesten von Nairobi (Kenia) – seit mehr als zehn Jahren eine Oase, wo sie ihre Alltagssorgen für eine Weile vergessen und sich geborgen fühlen können. Denn viele dieser Kinder hatten einen schweren Start ins Leben. Dort, wo sie wohnen, reihen sich Wellblechhütten dicht aneinander, überall liegt Abfall. Für die Kinder geht es darum, den Alltag zu bestehen. Schulbildung für sie können sich die Familien nicht leisten, viele von ihnen sind des Lesens und Schreibens nicht mächtig. Die KidStar Academy – seit langer Zeit Partnerschule der Schulen an der Toblerstrasse in Zürich – wird von ungefähr 200 Kindern besucht.1 Um dazu beizutragen, dass auch die Freunde in Afrika gut lernen und eine Perspektive für ihr Leben erhalten, organisieren Kinder und Jugendliche in Zürich mit ihren Lehrkräften ein «Adventscafé» für Eltern und Freunde der Schule. Mit dessen Erlös möchten sie einen Beitrag leisten für ihre weit entfernt wohnenden Kameradinnen und Kameraden. In diesem Jahr ergab sich als glücklicher Zufall, dass Alex Weigel, der Gründer und Geschäftsleiter der KidStar Academy, genau zu dieser Zeit in der Schweiz weilte – ansonsten ist er in Afrika vor Ort – und sein Schulprojekt im Rahmen des Adventscafés vorstellen konnte.

Es begann mit dem «Hungerfranken»

Oft stellt man sich die Frage, wie Menschen – so wie Alex Weigel es tat – auf ein aus unserer Sicht angenehmeres Leben verzichten und ihre ganze Kraft für Menschen einsetzen, die sonst vergessen werden. – Schon als Jugendlicher führte er mit zwei Mitschülern an seiner Kantonsschule in Wattwil den bis heute existierenden sogenannten «Hungerfranken» ein: Sie wollten die Schüler und Schülerinnen und ihre Lehrpersonen dafür gewinnen, monatlich einen Franken in eine Kasse einzuzahlen, um damit verschiedene Hilfsprojekte zu unterstützen mit dem Ziel, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, unter welch schwierigen Bedingungen andere Menschen auf der Welt ihr Leben gestalten müssen. Ein tolles Projekt, das bis heute weiter bestehe, wie uns Alex Weigel erzählte. Wer hatte wohl bei ihm und seinen Kollegen das Bedürfnis gelegt, mitzuhelfen, dass es auch anderen Menschen gut gehen sollte?

Eine Idee nimmt Gestalt an

Einige Jahrzehnte später knüpfte Alex Weigel an das Projekt in seiner Jugend an, als er mit seiner 18jährigen Tochter und deren Freundin eine Reise nach Kenia plante. Dort war eine Bekannte in einem Hilfsprojekt engagiert. Seine Tochter sollte erleben, in welch anderen, prekären Verhältnissen viele Menschen auf unserer Welt leben. Im August 2008 war es soweit. Die drei Ferienwochen in Kibera, dem Slum von Nairobi, brachten sie mit täglich neuen Freunden in Verbindung. Für Alex Weigel war danach klar: Da musste etwas geschehen, und dafür wollte er sich engagieren. Er kündigte seine bisherige Arbeitsstelle und begann den Aufbau eines Hilfswerks zu planen. Schon einige Monate später, im Dezember 2008, reiste er erneut nach Nairobi, um vor Ort ein Netzwerk aufzubauen. Mit über einer Million Einwohnern ist der Slum von Kibera riesig, und es galt einen Teil zu finden, wo die Unterstützung der Menschen am dringendsten schien. Im Januar 2009 konnte er ein strom- und wasserloses Lehmhüttchen mieten und mit einer Lehrerin und einer freiwilligen Hilfslehrerin eine Schule eröffnen. Finanzielle Grundlagen ergaben sich mit einer Spendensammlung durch den 2009 zu diesem Zweck gegründeten, ehrenamtlich arbeitenden Schweizer Unterstützungsverein mit dem treffenden Namen Good Hearts.2Manuel gehörte zu den ersten Kindern, die in der Schule Aufnahme fanden. Er war damals zweieinhalb Jahre alt. Heute steht er vor der Abschlussprüfung der Sekundarschule, erzählte Alex Weigel zu Recht stolz.

Viele Hindernisse – mutig dranbleiben

Seither sind mehr als zehn Jahre vergangen. Heute kümmern sich unter Alex Weigels Leitung rund 30 Mitarbeiter um nahezu 200 Kinder vom Vorschulalter bis zum Übertritt in die Highschool. Erfreulicherweise lagen dieses Jahr die Leistungen der Kinder bei der Abschlussprüfung über dem Landesdurchschnitt und dem der Hauptstadt Nairobi, denn dieses Resultat entscheidet, welche weiterführenden Schulen sie besuchen können. In vielen Fällen gehört zum Kind auch eine Familie, die der Hilfe bedarf. So werden beispielsweise gut ein Dutzend ehemalige KidStar-Kinder unterstützt, die jetzt die Highschool besuchen oder eine weiterführende Ausbildung machen. – Aber das alles begann in kleinen Schritten und immer wieder mussten neue Probleme gelöst werden. So stellte sich schon zu Beginn heraus, dass viele Kinder hungrig in die Schule kamen, denn sie lebten von einer einzigen Mahlzeit pro Tag. Deshalb gehörte zum Schulalltag fortan eine unentgeltliche, nahrhafte Mahlzeit, denn wer hungrig ist, kann sich nur schwer aufs Lernen konzentrieren. Die Kinder sollten dazu von zu Hause einen Löffel mitbringen. Auch das war nicht immer möglich, weil zum Beispiel nur ein einziger in der Familie vorhanden war. Wie viele weitere Probleme musste und konnte auch dieses gelöst werden. Und nicht nur das, in diesem Jahr konnten anlässlich eines neuen Ferienprogrammes rund 300 Familien mit 10-kg- Essens-Paketen mit Mais, Reis, Linsen, Bohnen, Zucker, Salz und Speiseöl versorgt werden, die zuvor von einem engagierten Team abgefüllt worden waren. So war für die Ernährung der Familie in der noch verbleibenden Ferienzeit gesorgt.

Viele Rückschläge und
endlich eine neues Schulhaus

Bald wurden die Platzverhältnisse zu eng. Glücklicherweise konnte ein Müllberg begradigt und ein von einem irischen Pater erworbenes Wellblechgebäude mit vier Schulzimmern, Küche und Wassertank darauf aufgestellt werden, und so ging es weiter. Die jahrelange Aufbauarbeit wurde immer wieder durch Rückschläge belastet, und es brauchte Mut, Flexibilität und Zuversicht, dranzubleiben. Wer die Webseite der Hilfsorganisation besucht, findet dort die Meilensteine der letzten zwanzig Jahre. So wollte man zum Beispiel eine Autobahn genau da bauen, wo das Schulgebäude war. Es musste weichen, und einmal mehr stellte sich die Frage, wie weiter. Glücklicherweise erhielt die Schule ein neues Grundstück, dessen Besitz heute durch die notwendigen Bewilligungen und Papiere geklärt ist. Zur Sicherung des Schulgeländes mussten seither zwei Sturmwasserleitungen gebaut werden, so dass starke Regenfälle keinen grösseren Schaden anrichten können, und zur Erhöhung der Hangstabilität und als Grenzmarkierung wurden von den Kindern 200 Bäume gepflanzt. Aber immer wieder passierte scheinbar Unmögliches, so, als vor einem Jahr ein übermüdeter Lastwagenfahrer von der Autobahn aufs Schulgelände abkam und dabei zwei Schulzimmer zerstörte – glücklicherweise nachts, so dass keine Menschen zu Schaden kamen. Gleich nach dem Unfall startete man am anderen Ende des Schulgeländes mit dem Bau von drei neuen grosszügigen Klassenzimmern, wobei verschiedene bauliche Massnahmen einbezogen wurden, um die Lebensdauer des Gebäudes möglichst zu verlängern.

Mehr als eine Schule –
auch medizinische Unterstützung

Heute ist die KidStar Academy weit mehr als eine Schule. So können die Familienmitglieder eines KidStar-Kindes, die mit ihm unter einem Dach wohnen, sich bei einem medizinischen Notfall an die Good Hearts Organisation wenden. Deshalb werden die Kinder und ihre Familien beim Kauf von Medikamenten unterstützt, sofern sie diese aus eigenen Kräften nicht erwerben können, oder bei Bedarf wird auch der Transport in umliegende staatliche Spitäler oder ins nahe gelegene Coptic Hospital organisiert. So wird gleichzeitig das Problem gelöst, dass Kinder sonst in der Schule fehlen würden, weil sie Betreuungsaufgaben übernehmen müssten.

Vieles erreicht, und es geht noch weiter

Es gibt nach wie vor viel zu tun, um das Bestehende zu erhalten und das Projekt weiter auszubauen. Schon früh wurde erfreulicherweise die Arbeit von der Schweizer Botschaft in Kenia unterstützt. 2011 sagte der dort tätige Botschafter Jacques Pitteloud in einem Interview: «Ja, kleine Projekte, die wirklich gezielt und wirklich an die Leute gehen, und nicht irgendwie vor allem teure Seminare organisieren, das sind genau die Projekte, die dieses Land besser machen können, weil mit dem wenigen Geld, das investiert wird in ein solches Projekt, werden buchstäblich Dutzende von Kindern eine bessere Erziehung bekommen, abgesehen davon nicht nur Erziehung, sondern medizinische Hilfe und auch zu essen. […] Ich war das letzte Mal bei der Schule, als es diese fürchterliche Feuerkatastrophe gegeben hat in einem anderen Slum in Nairobi. Da hatte man wirklich das Gefühl ‹Gott sei Dank gibt es hier einen Menschen, der sich um diese Kleinen kümmert›. Es war ein Tag wie in Schottland im Herbst, es war kalt, es hat geregnet, die Kinder haben gefroren, sie kamen, es war Montagmorgen, sie hatten natürlich das ganze Wochenende nichts gegessen, und plötzlich waren sie da in der Schule, und ich konnte sehen: sie sind glücklich! Sie haben erstens einmal etwas gegessen und dann haben sie jemanden, der sich um sie kümmert und der ihnen eine Chance gibt, im Leben später zu bestehen. Das war extrem rührend – extrem rührend – also ich wurde fast bis zu den Tränen gerührt, und als ich am Abend nach Hause zurück gekommen bin und meine sechsjährige Tochter gesehen habe, wie sie ins warme Bettchen nach einem guten Essen ging und nach der phantastischen Schule, wo sie ist, endlich einfach eingeschlafen ist, da musste ich sagen ‹Gott sei Dank gibt es Menschen, die die Kleinen draussen nicht vergessen›.»3 Dem kann man sich nur anschliessen, denn das Projekt ist seither gewachsen und gibt vielen Kindern eine Zukunftsperspektive.

Den Samen der Menschlichkeit legen

Das Projekt in Kibera stösst bei jungen Menschen auf ein positives Echo. Das zeigt nicht nur das Engagement der Kinder und Jugendlichen im «Adventscafe» in den Schulen an der Toblerstrasse, sondern auch das von Julia Fleischmann und Tanisha Tinner originell gestaltete Bilderbuch mit dem sinnigen Titel «Nimm meine Hand und begleite mich ins Jamboland». Die beiden jungen Autorinnen gestalteten es im Rahmen ihrer Maturarbeit, nachdem sie während eines dreiwöchigen Besuchs die KidStar Academy persönlich kennengelernt hatten. – Ein nächstes Geburtstagsgeschenk? Eine Geschichte für eine gemütliche Erzählstunde am Abend? In jedem Fall eine Möglichkeit, den Samen der Menschlichkeit bei Kindern zu legen. Es ist ein Gebot der Zeit!4 •



1 www.goodhearts.ch. Auf dieser Webseite des Schweizer Unterstützungsvereins findet man sehr viele Informationen zur Geschichte, Organisation und aktuellen Themen, welche die Schule betreffen.
2 a.a.O.
3 www.goodhearts.ch/j/images/Medienspiegel/Tel_interview_JacquesPitteloud.pdf
4 Julia Fleischmann/Tanisha Tinner. Nimm meine Hand und begleite mich ins Jamboland. Erhältlich im Spendenshop von Goodhearts. Der ganze Erlös kommt vollumfänglich der Good Hearts Organisation zugute, da die Produktion von einem Spender übernommen wurde. goodhearts.ch/j/index.php/de/j2-store/spendenshop/kinderbuch-nimm-meine-hand-und-begleite-mich-ins-jamboland.

Spenden an:

GoodHearts Organisation
IBAN CH3481474000008554766

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