Sich nicht damit abfinden, wenn Macht vor Recht gehen soll

Zum gewaltsamen Umsturz in Syrien

von Karl-Jürgen Müller

In seinem Leitartikel für die «Neue Zürcher Zeitung» vom 14. Dezember 2024 zeigte sich der Chefredakteur sehr angetan von der Politik Israels und dem «israelischen Triumph» im Nahen Osten. Israel zeige, «was sich mit einer klaren Strategie und Entschlossenheit erreichen lässt». Und mit Blick auf die Entwicklungen in Syrien fügte er hinzu: «Die gute Nachricht des machtpolitischen Revirements lautet: Die Zustände können sich unvermittelt zugunsten des bedrängten Westens wenden.»
  Zwei Tage zuvor hatte sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, «zutiefst besorgt» gezeigt über die «umfangreichen Verletzungen» der syrischen Souveränität durch die zahlreichen israelischen Luftangriffe auf Syrien.1 Am 11. Dezember hatte der Uno-Sonderberichterstatter für die Förderung der Menschenrechte, Ben Saul, mit Blick auf Israels Angriffe auf Syrien festgestellt, es gebe «absolut keine rechtliche Grundlage dafür, ein Land, das man nicht mag, präventiv […] zu entwaffnen». Israels Bombardierungen seien «völlig gesetzlos». Würde man Israels Vorgehen akzeptieren, sei dies «ein Rezept für weltweites Chaos.» Der Uno-Sonderberichterstatter für die Förderung einer demokratischen und gerechten internationalen Ordnung, George Katrougalos, charakterisierte das israelische Vorgehen in Syrien als «Teil eines Musters»: «Es ist ein erneuter Fall von Gesetzlosigkeit, den Israel in der Region demonstriert: Angriffe ohne Provokation gegen einen souveränen Staat.»2
  Die «Berliner Zeitung», die die beiden Uno-Sonderberichterstatter zitiert hat, fügte hinzu: «Weder Bundeskanzler Olaf Scholz noch Aussenministerin Annalena Baerbock haben sich bisher öffentlich zu diesen Vorwürfen und überhaupt zu Israels Bombardements in Syrien geäussert. Auf Anfrage der ‹Berliner Zeitung› wollte das Auswärtige Amt keine Stellung zu den Vorwürfen der Völkerrechtsverletzung seitens Israels beziehen.»

Das Mantra westlicher Machteliten …

Dies wirft erneut ein bezeichnendes Licht auf die deutsche Politik. Aber nicht nur Deutschland verfolgt diese Politik, sondern alle westlichen Israel-Unterstützer. Der Chefredakteur der «Neuen Zürcher Zeitung» spricht eben nicht für sich allein, sondern stellvertretend für den Grossteil der westlichen Machteliten.
  Er hat nichts anderes formuliert als das, was heute das Mantra dieser Machteliten ist: Unsere Interessen und unsere Machtpolitik stehen über dem Recht! Um Freiheit und Demokratie geht es uns nicht, auch wenn wir dies immer wieder öffentlich behaupten.

… hat barbarische
Verhältnisse geschaffen

Diese Ignoranz gegenüber dem Recht hat barbarische Verhältnisse geschaffen. Und das nicht erst heute, sondern schon lange Zeit und Schritt für Schritt, vor allem seit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts und dem Weltherrschaftsanspruch US-amerikanischer Machteliten und deren Kombattanten. Die Liste völkerrechtswidriger US- und Nato-Kriege und die Inszenierungen gewaltsamer Regime-Wechsel ist dabei die Spitze des Eisbergs. Hinzu kommt die völkerrechtswidrige westliche Sanktionspolitik, kommt die nicht selten mit Gewalt verbundene Plünderung von Staaten des Globalen Südens.3
  Nun ist es einer «Koalition der Willigen» mit unterschiedlichen Zielen (Türkei, USA und Israel) und mit ganz unterschiedlichen Frontsoldaten gelungen, einen Regime-Wechsel in Syrien gewaltsam zu erzwingen.

Mangel an Ehrlichkeit

Besonders stossend dabei ist der Mangel an Ehrlichkeit. Geht man nach den westlichen Mainstream-Botschaften, so wurde in Syrien ein brutaler Tyrann entmachtet, der die alleinige Verantwortung für all das Elend trägt, das das syrische Volk in den vergangenen mehr als zehn Jahren erleiden musste. Nun, nach seinem Sturz, würden alle Syrer im In- und Ausland jubeln. Ausgewogene Darstellungen findet man nirgendwo im westlichen Mainstream. Statt dessen Dämonisierung des «Feindes» und Geschichtsklitterung im Dienste der Macht.

Was unerwähnt bleibt

Was dabei unerwähnt bleibt: die verheerende Wirkung der völkerrechtswidrigen westlichen Sanktionen gegen Syrien und die dort lebenden Menschen. Die Uno-Sonderberichterstatterin zu den negativen Auswirkungen einseitiger Zwangsmassnahmen, Alena Douhan, hatte das Land im Herbst 2022 besucht und im Juli 2023 ihren schockierenden Bericht darüber vorgelegt.4
  Unerwähnt bleiben auch die lange vor 2011 gehegten US-Pläne5 für einen gewaltsamen Umsturz in Syrien, die zahlreichen völkerrechtswidrigen kriegerischen Akte der USA, der Türkei und anderer Nato-Staaten gegen das Land seit 2011, die massive westliche und türkische Unterstützung für gewalttätige Gegner der Assad-Regierung, die völkerrechtswidrige Besetzung grosser Landstriche im Norden Syriens durch die Türkei und die USA, die völkerrechtswidrige Plünderung syrischen Erdöls durch die USA.
  Der 2019 verstorbene ehemalige Schweizer Diplomat Kurt O. Wyss hat in seinem posthum veröffentlichten Buch «Die gewaltsame amerikanisch-israelische Neuordnung des Vorderen Orients»6 aus dem Jahr 2022 sehr genau dargelegt, dass die US-Politik und Israel schon seit vielen Jahren das Recht übergehen und statt dessen auf Rechtsbruch und Gewalt, Chaos und Zerstörung setzen, um ihre Ziele in Westasien und auch in Syrien zu erreichen.
  Dass die vergangenen Wochen keine Zeit des geordneten Übergangs der Regierungsgeschäfte waren, sondern eine Zeit des gewaltsamen Umsturzes – in der Hauptsache durch eine von der Türkei mobilisierte bewaffnete Gruppe, die selbst im Westen bis vor kurzem noch als Terrorgruppe bezeichnet wurde – hat also eine lange Vorgeschichte. Dass es für diesen Umsturz keinerlei Rechtsgrundlage gibt, wird von den westlichen Machteliten vollkommen ausgeblendet.

Warum kein rechtmässiger Übergang?

Mit Blick auf die Geschehnisse in Syrien sprechen westliche Machteliten, die sich ansonsten ganz bürgerlich geben, gerne von einer «Revolution» – so, als wenn dieser Begriff den Rechtsbruch rechtfertigen und die massive ausländische Einmischung vertuschen könnte. Wir kennen ähnliche Vorgänge aus anderen Ländern, zum Beispiel auch aus der Ukraine. Solch ein Regime-Wechsel ist allerdings keine Bagatelle. Mit den fortgesetzten gewalttätigen westlichen Rechtsbrüchen wurden und werden Dämme der Zivilisation gebrochen, und die Folgen davon sind schon jetzt verheerend.
  Die russische Politik, gegen die auch im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Regime-Wechsel in Syrien erneut polemisiert wird, hat in den vergangenen Jahren immer wieder betont, dass es auch für Syrien eine Weiterentwicklung geben muss – allerdings in rechtmässigen Bahnen und unter Einbezug aller politischen Kräfte des Landes. Die am gewalttätigen Umsturz Beteiligten haben diese Forderung in den Wind geschlagen.

Aufwachen vor einer
weiteren Menschheitskatastrophe

Gewalttätiger Rechtsbruch ist immer mit schweren Verletzungen der Menschenrechte verbunden. Die Charta der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945 und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 hatten die beiden Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unmittelbar vor Augen, als sie den Zusammenhang zwischen gewalttätigem Rechtsbruch und diesen grossen Menschheitskatastrophen beim Namen nannten.
  Heute muss man feststellen, dass die westlichen Machteliten die Lehren der Geschichte ignorieren. Es gibt keine Scheu mehr vor dem Rechtsbruch. Wird die Menschheit aufwachen, bevor es eine dritte Menschheitskatastrophe gibt? Es kann doch nicht das Ende der Geschichte sein, sich mit dem Rechtsbruch der Mächtigen abzufinden! •



1 zitiert nach https://www.zdf.de/nachrichten/politik/ausland/syrien-guterres-sorge-souveraenitaet-angriffe-israel-100.htmlvom 13.12.2024
2 zitiert nach https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/israel-bombardiert-syrien-laut-un-voelkerrechtswidrig-die-bundesregierung-schweigt-li.2280823 vom 12.12.2024
3 vgl. Perkins, John. Bekenntnisse eines Economic Hit Man, 2004
4 https://www.ohchr.org/en/documents/country-reports/ahrc5423add1-visit-syrian-arab-republic-report-special-rapporteur vom 3.7.2024
5 Pläne für einen gewaltsamen Regime-Wechsel in Syrien gab es schon in den neunziger Jahren unter US-Präsident Clinton. 2002 – unter der Präsidentschaft von George W. Bush – hatte die US-Aussenministerin Condoleezza Rice davon gesprochen, Syrien gehöre (neben Irak, Iran und Nordkorea) zur «Achse des Bösen». Deshalb brauche es auch dort einen Regime-Wechsel. Jeffrey Sachs hat in einem aktuellen Artikel für Consortium News (https://consortiumnews.com/2024/12/13/us-israel-destroyed-syria-called-it-peace/ vom 13.12.2024) die Geschichte US-amerikanischer und israelischer Aggressionen gegen Syrien noch einmal zusammengefasst.
6 vgl. zu Syrien insbesondere die Seiten 151ff.

Syrien als weiteres Opfer der amerikanisch-israelischen «Neuordnung»

von Kurt O. Wyss*

Der Krieg in Syrien ist zweifelsohne die schlimmste und opferreichste Katastrophe der letzten Jahre. Nach der in unseren Breitengraden vorherrschenden Sichtweise führt das verbrecherische Assad-Regime Krieg gegen das eigene Volk und wird dabei von den nicht minder skrupellosen Machthabern in Moskau und Teheran unterstützt. Deshalb sahen sich die Vereinigten Staaten von Amerika zum Eingreifen genötigt, um die syrische Opposition, die gerne als «gemässigt» bezeichnet wird, in ihrem verzweifelten Freiheitskampf zur Seite zu stehen.
  In Tat und Wahrheit ist der Krieg in Syrien Teil des bereits bekannten geostrategischen Plans der USA und Israels, um die Region nach ihren Interessen neu zu ordnen. Islamische Terrormilizen, die gezielt die Infrastruktur Syriens zu zerstören suchen, werden mit westlichen Waffen ausgerüstet. Dirigiert und finanziert werden diese Söldnertruppen von rivalisierenden arabischen Staaten wie Saudi-Arabien und Katar. Sie begehen kriminelle Terrorakte, um diese dann der syrischen Regierung zuzuschreiben. Bereitwillig wirken liberale westliche Medien, Nichtregierungsorganisationen und Politiker mit bei den False-flag-Machenschaften, um den syrischen Präsidenten als «Schlächter» seines Volkes und die syrische Armee schlechthin zu dämonisieren.

Quelle: Wyss, Kurt O.. Die gewaltsame amerikanisch-israelische «Neuordnung» des Vorderen Orients, 2022, Seite 151



* Kurt O. Wyss (1939–2019) war von 1972–2004 als Diplomat im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) tätig, mit mehreren Einsätzen in Staaten der nahöstlichen Region. 1992–1995 war sein Einsatzort die Schweizer Botschaft in Damaskus.

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