Weihnachten 2024?

«Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen»? Was sich derzeit in Nahen Osten zuträgt, ist nichts als gewalttätige Machtdemonstration. Bomben und Raketen, Mord und Totschlag, Verheerung und Verwüstung aus den Waffenschmieden des Westens – das Weihnachtsgeschenk 2024? Vor 75 Jahren unterschrieben alle Staaten die Genfer Konventionen, ein Jahr zuvor die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Wie viel Hoffnung war damals nicht mit diesen Friedenswerken verbunden! Doch der Westen unter Führung des Möchtegern-Hegemons trägt allem zum Hohn gerade zu Grabe, was einmal als Errungenschaft europäischer Geistestradition galt.
  Alles, was die Menschheit – manchmal nach bittersten Erfahrungen mit dem mörderischen Wahn gewaltsamer Machtausdehnung und Krieg – errungen hat, wird mit Stiefeln getreten und verhöhnt – von erstem Nachdenken über Ethik und Menschsein über die Naturrechtslehre und Grundlegungen des Völkerrechts, vom Westfälischen Frieden 1648 über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 bis hin zu den von allen Staaten unterzeichneten Genfer Abkommen von 1949, dem Humanitären Völkerrecht. Und von vielem mehr, was Menschen in aller Welt an humanistischer Tradition und Nachdenken zur Frage des menschlichen Zusammenlebens schon errungen haben.
  Auch wenn das, was wir gerade erleben, nicht ganz neu ist – was sich derzeit abspielt, spottet jeder Beschreibung: Die Bombardierung der Zivilbevölkerung, humanitärer Einrichtungen, von Schulen, Spitälern, diplomatischen Vertretungen, die Ermordung von Politikern, die Verseuchung und das Unbewohnbar-Machen ganzer Landstriche – alles verboten. Entsprechend hat der Internationale Gerichtshof auch den Völkermord unmissverständlich charakterisiert und verurteilt, und der Internationale Strafgerichtshof hat gegen die Verantwortlichen Haftbefehl erlassen.
  Noch ignoriert der «Weltbeherrscher» alles und verlängert das Blutbad mit Brachialgewalt. Recht ist das niemals. Mit blosser Brutalität wird alles dennoch zugelassen und geplant – alles gerechtfertigt im Namen der selbsternannten Sendung für die Segnungen einer Lebensweise, welche die kulturellen – menschlichen – Wurzeln ihrer Gründerväter vergessen und verloren hat. Das menschliche Mitgefühl wird erstickt mit manichäischen Beschwörungen von Guten und Bösen, Verzerrungen der Realität und längst widerlegten Schauergeschichten und Feindbildern, die den Bodensatz menschlicher Vorurteile aufwühlen, die alle durch permanente Wiederholung zwar nicht wahrer werden, aber das Gemüt betäuben und den Geist vernebeln sollen.
  Seit Jahrzehnten werden die Völker der westlichen Einflusssphäre schon auf Kriegskurs getrimmt – Hinweis darauf gibt u.a. die Studie «Millenials on war» des IKRK von 2020, welche «die wenig beruhigenden Einstellungen der Jugendlichen» zeigt: 41 Prozent der Befragten glaubten, dass Folter unter gewissen Umständen gerechtfertigt sei – und zwar mehrheitlich in Ländern ohne Kriegserfahrung. Hingegen lehnen 70 Prozent der syrischen jungen Leute Folter unter allen Umständen ab.1
  Machen wir uns keine Illusionen: Menschenrechte und Völkerrecht gelten für alle – oder sie gelten gar nicht. Auch wenn wir das in unseren Breitengraden noch nicht so zu spüren bekommen wie die Menschen in den Kriegsgebieten dieser Welt. Doch die Umfrage des IKRK zeigt deutlich: Stete Propaganda, stete Einflussnahme und Suggestion schaffen eine Stimmung und eine Atmosphäre, der sich der Einzelne nur schwer entziehen kann. Es ist auch bei uns kälter geworden.
  Im Grunde aber müssen die Kreise mit den Weltmachtphantasien seit einigen Jahren zunehmend zur Kenntnis nehmen, dass andere Länder keine Weltherrschaft akzeptieren und auf der Selbstbestimmung der Völker, Nationen und Kulturen bestehen. Der über Jahrzehnte offen verkündete Plan der USA, mit der Expansion der Nato und dem gewollten Krieg in der Ukraine Russland zu schwächen und dem eigenen Machtbereich unterzuordnen, ist am Widerstand Russlands gescheitert. China hat eine Entwicklung erreicht, die man in den Medien des Hegemons möglichst kleinredet – durch die man sich aber in seiner Dominanz so bedroht fühlt, dass man auch dort offen auf Kriegskurs fährt. Auch BRICS und andere Vereinigungen sind offenbar eine unerträgliche Herausforderung für Weltmachtgelüste.
  Nun demonstriert man im Nahen Osten, dass man nicht gewillt ist, sich mit friedlichen Mitteln in die Weltgemeinschaft einzureihen, sondern alles daran setzen will, die eigene Gier nach Macht und Geld für wenige aufrechtzuerhalten. Auch wenn bereits heute klar ist, dass das Konzept einer Weltherrschaft grundsätzlich unmöglich ist – das Klammern an Vorrechte, Vorherrschaft und Machtforderungen werden weiterhin unerträglich viele und völlig widersinnige Opfer fordern.
  Die Handlanger westlicher Plutokratie und Machtarroganz in Politik und Medien trumpfen – einmal mehr – auf, nennen es «Sieg» über ein «Regime», das seit mittlerweile Jahrzehnten auf ihrer Abschussliste stand. Die USA und ihre Handlanger in Nahost und Europa ersäufen die Länder Westasiens in Gewalt und nennen es «Frieden». Die «Eliten» beklatschen Macht und «Durchsetzungswillen» und gerieren sich als geistig und moralisch überlegen. 
  Die Lautstärke der Macht, ihr arrogantes Auftreten sind dazu angetan, die Stimme der Menschlichkeit, die Kraft des Mitgefühls, des vernunftgeleiteten Denkens zu übertönen und ins Abseits zu drängen. In Wirklichkeit feiern sie die gewalttätige Macht der grösseren Faust, die Gerissenheit des Kriminellen und eine moralische «Überlegenheit» im Stile eines Mafiabosses. In ihrer Machtanmassung und Selbstherrlichkeit sind sie unübertroffen. Einzelne tun das sehr offen. Sie finden ihre Bewunderer, wie sie die Gewalt zu allen Zeiten gefunden hat. Wer Gewalt ausübt und damit «Erfolg» hat, findet immer solche, die ihn bewundern, nachahmen, sich anschmiegen, einschmeicheln, gerne teilhaben an der Macht und profitieren. Und viele, die nichts sagen.
  Aber: Es ist eine kleine Minderheit, die diese grössenwahnsinnige Machtpolitik bewusst anstrebt. Man kann die Natur des Menschen ignorieren. Aber man kann sie nicht abschaffen oder sich unterordnen wollen – sie bleibt. Aller «KI» und allem Transhumanismus zum Trotz. Die überwiegende Mehrheit der Menschen sehnt sich nach einem Zusammenleben in Frieden und gegenseitigem Respekt. Und weiss im Grunde, dass das allen zusteht: Der Mensch ist fähig zu Mitgefühl. Wenn ihn etwas zum Menschen macht, dann ist es in erster Linie diese Fähigkeit, Not und Leid, aber auch die Freude des anderen mitzuempfinden. Es ist Teil unserer Sozialnatur. Ohne diese Fähigkeit hätte die Menschheit nicht überlebt. Diese Fähigkeit bildet auch die Grundlage für den Widerstand gegen die Gewalt, gegen Ungerechtigkeit, Machtanmassung und Arroganz.
  Die Machtgier ist eine Verirrung menschlicher Geistes- und Gesellschaftsentwicklung.

Erika Vögeli



1 von Mérey, Kay. «Der ‹Circle of Young Humanitarians›». In: Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. In Aktion. Dezember2024/Nr. 12. S. 5. Link zur Studie des IKRK: www.icrc.org/en/publication/millennials-war

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