«In den arabischen Ländern hört niemand mehr auf das, was der Westen sagt», sagte ein algerischer Freund zu mir. Er hätte hinzufügen können: in den asiatischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern auch nicht. Der moralische Zusammenbruch und der Narzissmus der Medien haben dazu geführt, dass er jeden Kredit verspielt hat. In seinem neuesten Buch («La défaite de l’Occident», Gallimard) nennt Emmanuel Todd die historischen und materiellen Gründe dafür. Der Westen ist dabei zu implodieren, in sich zusammenzufallen, sich von innen heraus zu entleeren, um in der Leere zu versinken, fasziniert vom Nihilismus.
Der Krieg in der Ukraine ist ein Beispiel dafür: Russland wird diesen Krieg gewinnen, weil es zu Hause und für sich selbst kämpft. Es ist zwar eine autoritäre Demokratie (die Mehrheitsentscheidungen ohne Rücksicht auf Minderheiten durchsetzt), aber seine Wirtschaft und Gesellschaft sind stabil, ja, sogar im Fortschritt begriffen, wie seine Widerstandsfähigkeit in Landwirtschaft und Industrie, die jährliche Zahl von Ingenieuren, die es hervorbringt, ebenso zeigen wie die stetige Verbesserung seiner Lebenserwartung, die trotz der Bevölkerungsunterschiede höher ist als in den USA. Wir haben mehrfach darüber berichtet.
Ukraine – von Oligarchen und Ultranationalisten
dominiert am Tropf des Westens
Die Ukraine, ein von Stalin geschundenes, aber nach 1945 von den kommunistischen Machthabern gehätscheltes Land, erwies sich nach 1991 als unfähig, einen stabilen Staat aufzubauen. Es gelang ihr nie, sich von der Bevormundung durch die Oligarchen und der Korruption zu befreien. Nachdem die russischsprachigen und russlandfreundlichen Eliten aus dem Osten nach 2014 massenhaft ausgewandert waren, wurde die Macht nach und nach von der ultranationalistischen Minderheit im Westen (den «Neonazis» in der russischen Terminologie) und dem Anarcho-Militarismus im Zentrum in Beschlag genommen. Diese neuen Eliten hüteten sich davor, das Land weiterzuentwickeln und eine echte Demokratie einzuführen – Oppositionsparteien, Gewerkschaften und kritische Medien wurden verboten. Das heute radikalisierte Selenski-Regime lebt nunmehr am Tropf und hat ausser seinem Hass auf Russland keine weiteren Pläne.
Osteuropa – Berlin, Brüssel
und Washington statt Moskau
Osteuropa folgte dem gleichen Muster, nur ohne den Krieg. Die ehemaligen kommunistischen Eliten sind mit Sack und Pack ins liberale Lager übergelaufen. Sie haben einfach den Meister gewechselt und tauschten Moskau und seine Rubel gegen die Euros und Dollars von Berlin, Brüssel und Washington. Der Freund von gestern wurde zum neuen Feind, während die Länder der Region sich entvölkerten, um die deutschen Fabriken mit billigen Arbeitskräften zu versorgen, und ihre Regierungen ihre Befehle entgegennahmen und sich Wohnungen in London und Washington kauften. Die einzige Ausnahme ist Ungarn, das nach einem unermüdlichen Kampf um seine Souveränität gegen die Türken, Österreicher und dann die Sowjets darauf besteht, sie gegen das Diktat aus Brüssel zu bewahren.
Westeuropa – noch vermag das Orchester
den Untergang zu überspielen
Was Westeuropa betrifft, so ist es im Gefolge der Vereinigten Staaten sowohl Opfer seiner oligarchischen Entwicklung – seine Eliten haben sich von ihrem Volk abgespalten – als auch des endgültigen Niedergangs des Protestantismus, der für hohe Bildungsstandards und eine Arbeitsethik stand, die nun auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sind. Hier zählen nur noch Gier, kurzfristige Profite, Image und Kommerz. Die Demographie ist im Keller, die Demokratie in der Krise, die deutsche Industrie in der Rezession, die Verschuldung wächst, die Verteidigung liegt brach, und dem politischen Projekt Europa droht das Absterben. Der deutsche Motor kommt ins Stocken, die französische Gleichgewichtsdiplomatie zerfasert, während die englische Titanic untergeht, nachdem sie den erhofften Brexit-Schub verpasst und sein Schicksal in die Hände seiner ehemals von ihr Kolonisierten wie Kwazi Kharteng, Sadik Khan, Rishi Sunak oder Humza Yousaf gelegt hat. Doch niemand achtet darauf, da die europäischen Orchester die Musikanlage voll aufgedreht haben, um den Schiffbruch zu verbergen.
Was Skandinavien angeht, so hat es nach Jahrhunderten des Pazifismus und des vernünftigen Progressivismus jäh vom militanten Feminismus zur militärischen Kriegstreiberei umgeschwenkt, dank einer Reihe von Premierministerinnen, für die diese Entwicklung selbstverständlich zu sein schien.
Heimatlose, neoliberale Oligarchen
und Dekadenz beherrschen die USA
Die Vereinigten Staaten befinden sich in einem Prozess der Dekadenz, der ebenso nachhaltig wie unumkehrbar ist. Ihr Bildungsniveau sinkt. Sie müssen Zehntausende von Ingenieuren und Wissenschaftlern importieren. Die Lebenserwartung sinkt, während die Kindersterblichkeit steigt und die Gesundheitsausgaben – obwohl die höchsten der Welt – explodieren ebenso wie Fettleibigkeit, Massenschiessereien und Haftstrafen. Die Demokratie verkümmert, sie wird sowohl von den Demokraten (die Trumps Wahl ablehnten und zweimal versuchten, ihn durch ein Amtsenthebungsverfahren zu stürzen) als auch von den Republikanern (die versuchten, Bidens Sieg zu leugnen) angefochten. Die protestantische Meritokratie der WASP [White Anglo-Saxon Protestants, d.h. der weissen protestantischen Mittel- und Oberschicht] ist einer neoliberalen Oligarchie gewichen, die bunter, aber bindungs- und heimatlos ist. Die Wirtschaft, ist die Luft aus ihren hochbezahlten Bullshit-Jobs – Anwälten, Kommunikatoren, Lobbyisten, Werbefachleuten, Versicherern, Finanziers, Ökonomen – erst einmal abgelassen, produziert nur wenige reale Güter und lebt auf Pump, indem sie Dollars druckt und massiv Waren, Dienstleistungen und Humankapital importiert, zum Preis einer Verschuldung, die sich in Billionen von Dollars berechnet.
Schlimmer alles andere: Amerika hat keine Vision, keine Kultur und keine kollektive Intelligenz mehr. Es springt von einer Modeerscheinung zur nächsten (heute ist es die künstliche Intelligenz), von einem Krieg zum nächsten, von einer sinnlosen Innovation zur nächsten, von der antirussischen Hysterie zur chinesischen Besessenheit, in der Überzeugung, dass die Sozialen Netzwerke und die Jagd nach «fake news» es retten werden.
Der anthropologische Bruch
des Westens mit dem Rest der Welt
Markstein dieses Nihilismus? Der transgenderistische Wokismus. Todd datiert das Ende des Protestantismus – und des Katholizismus, seit der Heilige Stuhl Priestern erlaubt, gleichgeschlechtliche Paare zu segnen – und den Beginn des nihilistischen Zeitalters auf die Annahme der Ehe für alle und das Recht, das Geschlecht nach Belieben zu ändern. Wenn ein Mann unabhängig von seinem biologischen Geschlecht eine Frau und eine Frau ein Mann sein kann und diese Möglichkeit zur vorherrschenden Ideologie wird, kommt es zu einem anthropologischen Bruch mit dem Rest der Welt, der der Meinung ist, dass der Westen verrückt geworden ist.
Das ist der Kern von Todds Thesen, frei interpretiert und cum grano salis.
Es bleibt abzuwarten, ob sie zutreffen und welche Folgen sie haben werden. Das wird sich bald zeigen, vor allem nach dem Ausgang des Konflikts in der Ukraine, der für Klarheit sorgen wird.
«Star-Wars» vor 20 Jahren –
Allegorien auf westliche Zukunft und Gegenwart?
In der Zwischenzeit darf man diese Feststellung mit Hilfe der Geschichte und sogar der filmischen Fiktion beleuchten. Ist die Star- Wars-Saga von George Lucas nicht letztendlich eine Metapher für den Wandel der amerikanischen Republik zu einem autoritären planetaren Imperium? Eine korrupte galaktische Republik verwandelt sich durch einen Putsch ihrer herrschenden Eliten in ein tyrannisches Imperium – unterstützt von einer Handelsföderation, die nach neuen planetaren Märkten giert. Die Oligarchie hat die Macht übernommen. Die äusseren Formen der Demokratie – Institutionen, Senatoren, Konsuln – bleiben erhalten, nicht aber ihr Geist. Ein gesichtsloser Imperator – man denke an die Gnome in Davos, die den globalistischen Katechismus herunterbeten – führt das Ganze mit eiserner Hand, dank eines übertriebenen Militarismus und Legionen von Klonen, die gehorsam das Programm ausführen, während eine Handvoll ein wenig verrückter Rebellen mit Unterstützung einiger tapferer Jedi-Ritter versuchen, die helle Seite der Macht wiederherzustellen. Wie kann man 50 Jahre nach dem ersten Film darin nicht eine Allegorie auf die Entwicklung der Vereinigten Staaten sehen?
Wem vernünftige Einsicht fehlt,
den könnte die Geschichte lehren
Ist die römische Republik bei ihrer Umwandlung in ein oligarchisches und autokratisches Imperium nicht denselben Weg gegangen, obwohl Cicero versucht hat, sich dagegenzustellen? Unter dem Druck der Oligarchien, die sich durch die unaufhörliche Eroberung neuer Märkte in Griechenland, Gallien, Kleinasien und Nordafrika bereichert hatten, brachen die staatsbürgerliche Religion und die demokratischen Kräfte zusammen und mussten einer globalen Elite ohne Glauben und Gesetz weichen. Die traditionellen Werte – die des asketischen lateinischen Bauernsoldaten – wurden zugunsten von Gier, Missbrauch der Amtsgewalt, politischer Klientelwirtschaft und Bruderkämpfen zwischen plebejischen Populisten vom Typ Marius oder Caesar und senatorischen Oligarchen vom Typ eines Sulla und Lepidus ausgelöscht. Bis ein ehrgeiziger und begeisterter Tyrann die Autorität dauerhaft wiederherstellt mit Waffengewalt und dem Geschick, den Schein zu wahren, indem er vorgibt, nur ein bescheidener Primus inter pares zu sein.
Fake-Demokratie – auch das
kannten schon die alten Römer …
Auch hier blieben die republikanischen Formen – Wahlen von Senat und Volkstribunen, Senatssitzungen, Konsuln und Liktoren – bestehen. Doch die tatsächliche Macht konzentrierte sich in den Händen eines einzigen, eines Kaisers, der von einer dünnen Schicht von Patriziern unterstützt wurde, die die Finanzen, den Handel, die grossen Landgüter und sogar die Steuererhebung kontrollierten, während unaufhörlich Kriege gegen äussere Feinde geführt wurden, die als barbarisch beschrieben wurden. Man denke hier an die geschmähten Persönlichkeiten Putin und Xi Jinping.
Für weitere Einzelheiten siehe mein Buch «Le continent perdu» (Der verlorene Kontinent, Syrtes 2019) und meinen Beitrag «The Global World and the New Western Empire» (The 17th International Likhachov Scientific Conference, Saint-Petersburg, May 18–20, 2017).
Schliesslich sei noch ein letzter, amerikanischer und zeitgenössischer Historiker erwähnt: Paul Kennedy, der die Ursachen für «The Rise and Fall of the Great Powers» (Aufstieg und Niedergang der Grossmächte) analysiert hatte. Anlässlich einer Aktualisierung zum Jahrestag der Veröffentlichung seines Buches, die in The New Statesman veröffentlicht wurde, untersucht er erneut die Dilemmata, vor denen jede Hegemonialmacht steht, die von imperialer Überdehnung bedroht ist, während sie sich – wie die Vereinigten Staaten – in einem relativen Niedergang befindet. Washington hat nur noch zwei Optionen: seine Ressourcen zu bündeln, was bedeutet, weniger Menschen weniger Garantien zu bieten, oder seine Glaubwürdigkeit bei seinem grossen Kreis von Kumpanen zu stärken, was so viel bedeutet wie «festzustellen, dass das derzeitige System nicht mehr tragfähig ist und dass viel mehr in die nationale Sicherheit investiert werden sollte». So der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers gegenüber Bloomberg TV.
Biden zieht es vor, dieser schwierigen Wahl auszuweichen, indem er darauf verzichtet, seine Verpflichtungen zu reduzieren, zugleich aber auch darauf, genug auszugeben, um sie zu erfüllen. Das Problem: Die 886 Milliarden US-Dollar des Verteidigungshaushalts 2024 reichen trotz ihres kolossalen Umfangs bei weitem nicht aus, um dieses Ziel zu erfüllen. Trump befürwortet die umgekehrte Strategie: einen strategischen Rückzug auf verteidigungsfähige Ziele und damit eine Beschränkung auf unverzichtbare Verbündete. Daher seine Zurückhaltung gegenüber der Nato und der Fortsetzung des Krieges in der Ukraine und sein Interesse an einer gütlichen Einigung mit Russland.
Paul Kennedy: Game over
Für Paul Kennedy ist das Spiel zu Ende: Die USA haben nicht mehr die politischen und wirtschaftlichen Mittel, ihre Militärausgaben zu verdoppeln oder zu verdreifachen, um 50 Verbündete gleichzeitig zufriedenzustellen und an drei Fronten gleichzeitig zu kämpfen – in der Ukraine, in Israel und Taiwan oder Korea, falls es zu einem offenen Konflikt im Pazifik kommen sollte. In Zukunft «wird die amerikanische Sicherheitsabdeckung begrenzter, kleiner, auf die wohlbekannten Orte wie Nato-Europa, Japan, Australien, Israel, Korea, vielleicht Taiwan und nicht viel mehr beschränkt sein», beschied Kennedy.
Persönlich möchte ich hinzufügen, dass die Geschichte einen solchen Präzedenzfall kennt, nämlich den des Oströmischen Reiches. Als Kaiser Konstantin feststellte, dass das Römische Reich nicht in der Lage war, an allen Fronten gleichzeitig zu kämpfen, beschloss er, Rom zu verlassen und sich nach Konstantinopel zurückzuziehen. Der westliche Teil war nach einem Prozess, der immerhin eineinhalb Jahrhunderte gedauert hatte, zusammengebrochen. Doch auf diese Weise gelang es ihm, die Existenz des östlichen Teils um mehr als tausend Jahre zu verlängern. Eine Strategie, der es nicht an Weitsicht mangelte, wie man zugeben muss. •
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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