«Die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit in die Tat umsetzen»

Der belarussische Gewerkschaftsbund – kein Erbe der Sowjetunion

Interview mit Michail Sergeyewitsch Orda, Vorsitzender des belarussischen Gewerkschaftsbundes

ef. Im Oktober besuchte der Vorsitzende des belarussischen Gewerkschaftsbundes, Michail Sergeyewitsch Orda, die Schweiz. Über Belarus erfährt man in der westlichen Presse fast nichts, es sei denn, es werden wieder neue Sanktionen verhängt oder das «Regime» hat wieder etwas «Böses» gemacht. Stimmen direkt aus dem Land kommen sowieso nicht zu Wort, und Medienvertreter reisen lieber woanders hin. So bleibt in der Öffentlichkeit das Stereotyp von Belarus als einer Diktatur wie in den Zeiten des Kalten Krieges bestehen. Es war deshalb eine gute Gelegenheit, sich im Gespräch mit Herrn Orda direkt zu informieren, und auch wir waren erstaunt, was wir erfahren konnten. So entstand das folgende Interview.

Zeit-Fragen: Können Sie uns den Gewerkschaftsbund in Belarus kurz vorstellen? Wie viele Mitglieder hat er und welche Bedeutung hat er für Belarus?
Michail Orda: Der Gewerkschaftsbund ist das nationale Zentrum unseres Landes. Wir vereinen 15 sektorale Gewerkschaften und vertreten die Interessen der Arbeitnehmer in allen Wirtschaftssektoren – von Kultur und Bildung bis hin zu Industrie und Handel. Insgesamt sind das etwa vier Millionen Menschen. Und dadurch, dass wir alle gemeinsam auftreten, haben wir ein ziemlich grosses Gewicht in der Gesellschaft.

Es wird immer wieder behauptet, die Gewerkschaften in Ihrem Land seien ein Erbe der Sowjetunion. Wodurch unterscheidet sich Ihr Gewerkschaftsbund von den Gewerkschaften der damaligen sowjetischen Länder?
Die Sowjetunion besteht seit über 30 Jahren nicht mehr. Also hat es mit dem sowjetischen Erbe nichts zu tun. Ausserdem waren damals alle Unternehmen in Staatsbesitz. Heute sind in Belarus nur noch etwa 12 % aller Organisationen staatlich. Der Rest ist privat, ein-schliesslich Joint Ventures und ausländischer Unternehmen. Das heisst, es handelt sich heute um neue Unternehmen und völlig andere gesellschaftliche Verhältnisse. In vielen postsowjetischen Ländern haben die Gewerkschaften übrigens stark an Boden verloren: In einigen Staaten liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad bei nur etwa 6–10 %.

Das leisten die Gewerkschaften

Was ist Ihrer Meinung nach der Grund dafür, dass sich so viele Menschen in Belarus in Gewerkschaften organisieren?
Wir können unsere Position vor allem deshalb halten, weil wir das Beste aus unserer Praxis in unserer Arbeit beibehalten. Im Gegensatz zu vielen anderen ausländischen Gewerkschaften haben wir zum Beispiel Gewerkschaftssanatorien beibehalten und entwickeln sie weiter, d.h. Einrichtungen, in denen sich die Beschäftigten erholen, untersuchen lassen und ihre Gesundheit verbessern können. Und durch Tarifverträge erhalten die Menschen einen Rabatt auf Gutscheine. Ist das eine Aufgabe für die Gewerkschaften? Natürlich, denn es ist eine zusätzliche soziale Unterstützung und ein Schutz der Gesundheit der Arbeitnehmer.
  Wir haben die Tarifverträge sehr ernsthaft weiterentwickelt. Und auf gesetzgeberischer Ebene haben wir dafür gesorgt, dass die Normen, die in Tarifverträgen festgelegt sind und die Situation der Arbeitnehmer verbessern, ihnen zusätzliche Garantien und Zahlungen bieten, verbindlich sind. Auch wenn es nicht im Arbeitsgesetzbuch steht. All das ist der Grund, warum Menschen Gewerkschaften beitreten.
  Im allgemeinen sind die Gewerkschaften in Belarus sowohl für die Behörden als auch für die Arbeitgeber ein vollwertiger Partner. Und dies ist in einer Reihe wichtiger Dokumente verankert. Erstens ist es die Verfassung unseres Landes, in der eindeutig festgelegt ist, dass die Bürger das Recht haben, sich in Gewerkschaften zu organisieren, um ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen zu schützen. Zweitens handelt es sich um spezielle Rechtsakte, die eindeutig festlegen, dass die Entwicklung der Sozialpartnerschaft zwischen den Behörden, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften die wichtigste Aufgabe in diesem Bereich des Staates ist. Im internationalen Rechtsverständnis wird dies als Tripartismus bezeichnet.

Gewerkschaften werden
 nicht von jedem Unternehmen begrüsst

Sie haben vorher erwähnt, dass umgerechnet 88 % der Unternehmen in Belarus private Unternehmen sind. Gibt es Probleme, wenn sich die Menschen in der Privatwirtschaft gewerkschaftlich organisieren möchten?
Wir haben unsere Strategie klar definiert: Wo immer es Arbeitsbeziehungen gibt, muss es auch eine Gewerkschaft geben, damit der Arbeitnehmer nicht mit dem Arbeitgeber allein gelassen wird, der von vornherein mehr Macht und Möglichkeiten hat. Daher arbeiten wir sehr aktiv und beharrlich an der Gründung von Gewerkschaftsorganisationen. Es gibt unterschiedliche Situationen. Es gibt einige Unternehmen, mehrere tausend an der Zahl, in denen die Arbeitgeber verschiedene Methoden anwenden, um die Gründung einer Gewerkschaft zu verhindern. Es gibt ein solches Problem, an dem wir fast täglich arbeiten. Wir überreden, beweisen und erreichen das notwendige Ergebnis. Denn die Stärke und das Gewicht jeder öffentlichen Organisation hängt in erster Linie von der Zahl der Menschen ab, die ihr angehören, sie also unterstützen und ihre Grundsätze teilen. Und es ist klar, dass dadurch der Einfluss der Organisation in der Gesellschaft geprägt wird.

Sozialpartnerschaft

Wie wird die Sozialpartnerschaft, wie Sie sie beschrieben haben, in der Praxis umgesetzt?
Objektiv betrachtet ist das in Belarus aufgebaute System der Sozialpartnerschaft eines der besten der Welt. Ich möchte nur einige Fakten nennen. Auf nationaler Ebene haben wir den Nationalen Rat für Arbeits- und Sozialfragen. Dies ist eine Plattform, auf der wir und unsere Sozialpartner Vereinbarungen zu den wichtigsten sozialen und wirtschaftlichen Fragen ausarbeiten. Sie werden im Allgemeinen Abkommen verankert, das alle drei Jahre zwischen der Regierung, den Arbeitgebern und den Gewerkschaften geschlossen wird. Diese dreiseitige Vereinbarung ist verbindlich. Auf seiner Grundlage werden auf regionaler und branchenspezifischer Ebene lokale und tarifliche Vereinbarungen getroffen und auf betrieblicher Ebene Tarifverträge abgeschlossen – davon habe ich vorhin gesprochen.
  Der nächste wichtige Punkt: Alle Entwürfe für Rechtsakte, die sich mit arbeits-, sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen befassen, werden den Gewerkschaften zur juristischen Prüfung vorgelegt. Das ist unsere Errungenschaft, und sie ist im Reglement unserer Regierung verankert. Dieser Ansatz gibt uns die Möglichkeit, proaktiv zu arbeiten. Und selbst in der Phase der Ausarbeitung von Dokumenten können wir Beschlüsse korrigieren und ablehnen, die in irgendeiner Weise die Garantien für die Menschen einschränken könnten. Und in den meisten Fällen hat die Regierung ein offenes Ohr für unsere Kommentare. Es gibt in der Welt praktisch keine vergleichbaren Beispiele für eine solche systematische Zusammenarbeit zwischen Gewerkschaften und Behörden.
  Darüber hinaus haben wir durch eine spezielle Rechtsverordnung das Recht, die Einhaltung der Arbeitsgesetzgebung und des Arbeitsschutzes in allen Organisationen laufend zu überwachen. Auch in solchen, in denen es keine gewerkschaftliche Grundorganisation gibt. Wir führen diese Arbeit laufend durch. Und wenn wir Verstösse feststellen, ist der Arbeitgeber verpflichtet, darauf zu reagieren und über die Anstrengungen zur deren Beseitigung zu berichten.
  Es gibt noch eine andere wirksame Form der Tätigkeit – die Kommissionen für Arbeitsstreitigkeiten. Dabei handelt es sich eigentlich um eine Mediation. Wenn direkt vor Ort, in Arbeitskollektiven, mit Hilfe der Gewerkschaft ein Dialog aufgebaut wird und Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern beigelegt werden.
  Und falls ein Arbeitgeber sich weigert, den Verstoss zu beheben, verteidigen wir die Interessen der Arbeitnehmer vor Gericht. Und hier ist unsere Arbeit sehr effektiv. Über die Gerichte stellen wir diejenigen wieder ein, die unrechtmässig entlassen wurden, helfen den Menschen, nicht gezahlte Löhne einzutreiben, und so weiter.

«Grundsätze der sozialen
 Gerechtigkeit mit Taten umsetzen»

Kommt es dabei auch zu Meinungsverschiedenheiten mit den Sozialpartnern, die nicht überwunden werden können?
Natürlich gibt es unterschiedliche Situationen. Und die Meinungen der Parteien können unterschiedlich sein, denn jede von ihnen – Arbeitnehmer und Arbeitgeber – hat andere Interessen. Aber die Hauptsache ist, dass wir gelernt haben, einander zuzuhören. Und die Wirksamkeit dieses Ansatzes wird durch die Praxis bestätigt.
  Es ist weitgehend dem etablierten System der Sozialpartnerschaft zu verdanken, dass unser Land in vielen wichtigen Fragen erhebliche Fortschritte erzielt hat. So liegt Belarus beispielsweise bei der Umsetzung der UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung auf Platz 34 von 163 Ländern. Wir haben eine der niedrigsten Quoten an tatsächlicher Arbeitslosigkeit – nur 3,6 Prozent. Laut dem Index des sozialen Fortschritts für das Jahr 2022 liegt Belarus auf Platz 61 von 168 Ländern. Unser Land ist auch in der Kategorie der Länder mit einem sehr hohen Niveau der menschlichen Entwicklung vertreten – Platz 60 von 191 Ländern. Darüber hinaus hat Belarus eine der niedrigsten Raten der Einkommensschichtung in der Gesellschaft.
  All dies zeigt, dass Belarus die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit und einer gerechten Weltordnung nicht nur mit Worten, sondern mit Taten umsetzt. Wir sind immer offen für eine Zusammenarbeit und bereit, Ideen und Initiativen zu verwirklichen, die den Menschen zugutekommen.

Herr Orda, vielen Dank für das Interview.  •

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