zf. Der folgende Text wurde Ende Oktober 2023 das erste Mal veröffentlicht. Er ist das Ergebnis langer und intensiver Diskussionen der beiden deutschen Autoren. Es geht um die Frage, welche Auswege es für EU-Europa aus der Sackgasse der allzu engen Bindung an die Politik der Vereinigten Staaten gibt. Die beiden Autoren plädieren für eine strategische Autonomie der EU.
Die Souveränität und strategische Autonomie der EU umschliesst sowohl die Ökonomie und die mit ihr verbundenen Bereiche wie Wissenschaft und Technik als auch den der Aussen- und Sicherheitspolitik. Die nachstehenden Eckpunkte befassen sich im wesentlichen mit der Aussen- und Sicherheitspolitik:
- Der europäische Kontinent wurde seit Jahrhunderten von Gewalt, Krisen, Kriegen und mehreren Weltkriegen mit ungeheuren Menschenopfern und Zerstörungen durchschüttelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgten Entspannungs- und Ostpolitik kurze Zeit für Besinnung. Inzwischen droht der Ukraine-Krieg zum Vorboten neuen Unheils zu werden. Erster und oberster Grundsatz einer realistischen Sicherheitspolitik muss die Kriegsverhinderung sein. Es gilt mehr denn je: Der Frieden ist der Ernstfall. Jedes alternative Sicherheitskonzept hat die Kriegsuntauglichkeit der europäischen Industriegesellschaften in den Mittelpunkt zu stellen, denn im Falle eines grossen konventionell oder atomar geführten Krieges werden Industrie und überlebensnotwendige Infrastrukturen grösstenteils vernichtet und die Umwelt grossflächig vergiftet, zerstört und unbewohnbar. In industriell hoch verdichteten und bewohnten Hightech-Regionen ist der völlige Ausfall von Telekommunikationsnetzen zur leitungsgebundenen und drahtlosen Datenübertragung absehbar.
- Nach Auflösung des Warschauer Vertragsstaatensystems und dem Entstehen neuer Staaten in Osteuropa bot Wunsch und Willen für ein Gemeinsames Haus Europa einen Moment lang wieder eine der wenigen historischen Möglichkeiten, endlich und dauerhaft Frieden einkehren zu lassen. Fundament dafür bot die Charta von Paris (1990) als grundlegendes internationales Abkommen zur Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa. Europas Interessen liegen objektiv nicht nur in einem friedlichen, kooperativen Miteinander der Völker und Staaten auf dem eurasischen Kontinent, sondern auch mit denen Afrikas, Lateinamerikas und Nordamerikas. Nur auf diesem Wege ist der globale Aufbruch in eine multipolare Welt zukunftsfähig und friedlich möglich. Nur so lassen sich Bedrohungslagen verhindern und nicht mehr – wie oft auch ethnische und religiöse Differenzen – für Krisen und Kriege instrumentalisieren. Dazu wird es nicht nur zu einer völligen Änderung der EU-Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik kommen müssen, sondern auch der von vielen Mitgliedsstaaten bis hin zu deren Binnenpolitik. Anders lässt sich global kein Vertrauen aufbauen.
- Die Entwicklung seit der gescheiterten Umsetzung der Charta von Paris zeigt, dass sie trotz Mitunterzeichnung dem globalen Hegemonieanspruch der USA diametral zuwiderlief («Der unipolare Moment», Krauthammer 1990). Europas Interesse kann nicht verfolgt werden, so lange sich die EU dem amerikanischen unterordnet. Denn «Europas Interessen sind andere als die der USA» (Klaus v. Dohnanyi). Die Entwicklung seit 1990 mit der Nato-Ost-Erweiterung, der Indo-Pazifik-Strategie, dem Nato-EU-Kooperationsabkommen im Januar 2023 mit dem Vorrang der Nato sind schlagende Beweise dafür.
- Wir brauchen weltweite wirtschaftliche Kooperation zum gegenseitigen Vorteil, sowohl mit den USA als auch mit der Eurasischen Wirtschaftsunion, den BRICS- Staaten, den Staaten Afrikas und denen des Mercosur und kein Abkoppeln von China.
- Die Bemühungen Chinas um eine engere wirtschaftliche Kooperation mit der EU1 werden erfolglos bleiben, wenn sich die EU den globalen Hegemonialinteressen der USA weiterhin zum eigenen Nachteil unterordnet. Hegemonialbestrebungen, einseitige Abhängigkeiten und Handelsbeziehungen ohne gegenseitigen Vorteil sind abzulehnen. Sie widersprechen auch nach Geist und Inhalt den Grundsätzen der Uno.
- Kein friedliches Europa ohne Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft. Die europäische Wirtschaftspolitik muss befreit werden vom Shareholder Value und von den Vorgaben des neoliberalen Finanzsektors. Europäische Souveränität bedeutet auch mehr Eigenständigkeit in Hinsicht auf die Kontrolle und Verfügung über digitale Technologien, Kommunikations- und Zahlungssysteme.
- Die internationalistische Politik basiert auf vier Prinzipien: Frieden durch kollektive (Uno) und gemeinsame (Olof Palme, KSZE/OSZE2) Sicherheit, Abrüstung und strukturelle Nichtangriffsfähigkeit.
- Strukturelle Nichtangriffsfähigkeit auf EU-Ebene heisst Austritt der einzelnen Mitgliedsstaaten aus den militärischen Strukturen der Nato, strikte Verteidigungsdoktrin, absolute Bindung an das Völkerrecht und mithin strikte Einhaltung des in der UN-Charta fixierten Gewaltverbots in den internationalen Beziehungen, Einsetzen für Abrüstung, Rüstungskontrolle und Aufgabe von Atomwaffen.
- Längerfristig Ablösung des Nato-Militärbündnisses durch ein eigenständiges, nationalstaatlich organisiertes europäisches Bündnis- und Verteidigungssystem ohne die USA. Verteidigungsplanung, Ausrüstung und Struktur der (Teil-)Streitkräfte in den einzelnen Mitgliedsstaaten der EU folgen dem Prinzip struktureller Nichtangriffsfähigkeit (Prinzip Landwehr statt Kriegsheer3) und dem Grundsatz, dass die hoch industrialisierten Staaten letztlich nicht mit militärischen Mitteln, sondern nur gewaltfrei, zivil und sozial zu verteidigen sind. Ein Verteidigungssystem ohne die USA bedeutet deshalb nicht Aufrüstung in Europa, eine EU-Armee oder eine EU-Atommacht. Die Bundeswehr bleibt eine Parlamentsarmee, deren Einsatz nur mit Zustimmung des Bundestages möglich ist.
- Für ein souveränes Europa ist eine eigenständige, auf den eurasischen Kontinent gerichtete Friedens- und Sicherheitsarchitektur unabdingbar. Sie ist auf Grundlage einer erneuerten und erweiterten OSZE 2.0 ohne USA und Kanada, jedoch mit den übrigen bisherigen Mitgliedern nach dem Prinzip der gemeinsamen Sicherheit zu entwickeln. Die bisherige Orientierung der OSZE auf den eurasischen Kontinent ist um den angrenzenden Mittelmeerraum (Nordafrika, Naher Osten) zu erweitern.
- Vor dem Hintergrund der Macht- und Gewaltgeschichte auf dem europäischen Kontinent und den dafür verantwortlichen Grossmächten ist es unabdingbar, dass bei einer erneuerten und erweiterten OSZE 2.0 den Interessen der kleinen und mittleren Staaten in besonderem Masse Rechnung getragen wird und diese zum Ausgleich gebracht werden. Der Zusammenarbeit mit der «UN-Wirtschaftskommission für Europa» (UNECE)4 kommt hier eine wichtige Rolle zu.
- Das politische Ziel einer OSZE 2.0 richtet sich auf einen gemeinsamen Sicherheits- und Wirtschaftsraum «von Lissabon bis Wladiwostok». Im Laufe dieses Prozesses verlieren wechselseitige Bedrohungslagen, Militär und Rüstung sukzessive an Relevanz und werden bei Vollendung bedeutungslos.
- Das Gewaltmonopol auf der Erde muss auf die Uno konzentriert, d.h. nationalen oder Bündnisinteressen entzogen werden. Dafür muss die Uno demokratisiert werden, denn sie wird heute dominiert von Atomwaffenstaaten, von denen einzelne ökonomisch mächtig und die grössten Rüstungs- und Rüstungsexportmächte sind. Nachzudenken ist über eine Erweiterung des UN-Sicherheitsrats mit Blick auf die wachsende Rolle des globalen Südens. Die zentrale Aufgabe der Vereinten Nationen bleibt die Sicherung des Weltfriedens, das heisst Prävention, Streitbeilegung und nachhaltige zivile Konfliktlösung auf der Basis des Völkerrechts. Truppen zur Streitschlichtung werden nur auf Grundlage von Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats ohne Automatismus bereitgestellt.
- Die Vereinten Nationen und das Völkerrecht sind die wichtigste Institution für die friedliche Verständigung zwischen den Staaten und Gesellschaften der Erde. Konflikte sind Hindernis für eine gemeinsame Zukunft auf dem Globus, für Frieden, Sicherheit, Umwelt, Klima und eine dauerhafte Entwicklung (Brundtland-Bericht 1987). Es gilt die Erde gänzlich von Kriegen und Waffengewalt zu befreien. Der UN-Vollversammlung und den NGOs muss mehr Kompetenz übertragen werden. Die UN-Institutionen sind finanziell so durch staatliche Beiträge zu stärken, dass sie nicht von einzelnen Staaten oder privaten Institutionen abhängig werden.
- Derzeit ist noch nicht abzusehen, wie und wohin sich die EU politisch-strukturell in der Zukunft entwickelt. Denkbar ist ein Scheitern einer «immer engeren Union» auch vor dem Hintergrund möglichen globalen Einflussverlustes der USA und der Entwicklung einer polyzentrischen Weltordnung. Perspektivisch könnte sich dann die Frage ergeben, ob die EU in Form eines Nation-Centered Systems (Etzioni 2019) oder kooperativ-konföderal (Streeck 2021) strukturiert werden sollte. Diese Frage sprengt das vorliegende Papier und bleibt einer gesonderten Debatte vorbehalten. •
1 https://www.manager-magazin.de/politik/weltwirtschaft/g20-gipfel-china-will-mehr-zusammenarbeit-mit-der-eu-a-af4e746a-e50b-4f53-b6ff-f52bfeb93bfd
2 https://www.sipri.org/publications/1985/policies-common-security
3 Nicolai, Georg Friedrich. «Landwehr oder Kriegsheer», in: Die Biologie des Krieges, Wiederauflage, Darmstadt 1983
4 https://unece.org/
* Dr. Detlef Bimboes (geboren 1946) ist Verfasser zahlreicher friedenspolitischer Analysen. Jochen Scholz (geboren 1943) war als Oberstleutnant der Bundeswehr bei der Nato in Brüssel und bis zu seiner Pensionierung im deutschen Verteidigungsministerium beschäftigt. Beide sind Mitglieder im Gesprächskreis Frieden und Sicherheitspolitik der Rosa Luxemburg Stiftung in Berlin.