von Eliane Perret
Lebensgeschichten geben uns Einblick in die Erlebnisse eines Menschen. Wir lernen eine Lebenswelt kennen, die uns in vielem vielleicht fremd ist, oder wir finden Parallelen zu eigenem Erleben. Sie ermöglichen uns die Identifikation mit diesem Menschen, schaffen eine gefühlsmässige Verbindung – wir rücken einander näher. Das erlebte ich auch beim Lesen der erstmals 2011 erschienen und 2022 neu aufgelegten Autobiographie «Ich werde nicht hassen» von Izzeldin Abuelaish. Im Gaza-Streifen aufgewachsen, war er später ein gefragter Gynäkologe und der erste palästinensische Arzt, der in einem Krankenhaus in Israel arbeiten durfte und viele Freunde in Israel hatte, darunter Journalisten und Politiker. Heute lebt der mehrfach für den Friedensnobelpreis Vorgeschlagene in Kanada und lehrt als Professor an der Universität in Toronto.
Oh Gott, was haben wir getan
Es ist der 16. Januar 2009, als eine israelische Rakete ins Schlafzimmer der Töchter im Haus von Izzeldin Abuelaish in Jabalia einschlägt. Drei von ihnen werden getötet, ebenso die bei ihnen zu Besuch weilende Cousine. Erst einige Wochen zuvor war seine Frau an akuter Leukämie erkrankt und innerhalb von zwei Wochen gestorben. Er blieb mit acht Kindern ohne Mutter zurück. Das jüngste war erst sechs Jahre alt. Eine Welt brach zusammen. Minuten nach dem Angriff erfuhr die Weltöffentlichkeit: «Unser Haus wurde bombardiert, meine Töchter sind tot. Oh Gott, was haben wir getan?» Der israelische Fernsehsender Channel 10 hatte täglich Interviews mit Abuelaish geführt, nachdem das israelische Militär Journalisten den Zugang in den Gaza-Streifen verboten hatte. Auch an diesem Nachmittag war es so, und das furchtbare Geschehen wurde öffentlich. Viele Israeli waren bis dahin vor allem wütend über die Raketenangriffe aus Gaza, nun erfuhren sie zum ersten Mal etwas über deren Gründe und was dort eigentlich geschah, erklärte der zuständige Journalist Shlomi Eldar später.
Vorübergehend nach Gaza umsiedeln
Doch bis zu diesem denkwürdigen Tag war schon vieles im Leben von Izzeldin Abuelaish passiert, an dem er uns in seiner Autobiographie teilnehmen lässt.
Er wurde am 3. Februar 1955 im Flüchtlingscamp von Jabalia in Gaza als ältester von sechs Brüdern und drei Schwestern geboren. «Wie die meisten palästinensischen Kinder hatte ich keine echte Kindheit», schreibt er. «Bis ich zehn war, wohnte meine Familie, die inzwischen elf Mitglieder zählte, in einem Raum, der drei mal drei Meter mass. Es gab keinen Strom, kein fliessendes Wasser, keine Toiletten im Haus. Unsere Mahlzeiten assen wir von einem gemeinsamen grossen Teller.» (S. 69) Doch das war nicht immer so gewesen. Izzeldin Abuelaish stammte aus einer angesehenen Familie, die im Dorf Houg im südlichen Teil Israels gelebt hatte. Nach den Spannungen, welche die Gründung Israels mit sich brachte, entschied sich der Grossvater 1948, das Dorf und seinen Hof zu verlassen und vorübergehend nach Gaza umzusiedeln. Es gab Gerüchte von Massakern, und der Grossvater wollte seine Familie in Sicherheit wissen. Nun wohnten sie einige Fussstunden weg von ihrem ehemaligen Zuhause, immer in der Hoffnung auf eine Rückkehr. «Meine Kindheit verging im Schatten eines Versprechens: Wir kehren bald zurück. Vielleicht in zwei Wochen, vielleicht zwei Wochen später.» (S. 61) Bis dahin war Gaza noch kein Flüchtlingscamp gewesen, sondern ein Platz, der dem palästinensischen Volk vorbehalten war nach der Gründung des israelischen Staates. «Mein Vater gab die Besitzurkunde des Hofes nie auf. […] Ich bewahre sie nicht als Beweisstücke auf, um auf Grund irgendwelcher internationaler Verträge das Land zurückzubekommen, sondern um nicht zu vergessen, was einst unser war.» (S. 63)
Mein wertvollster Besitz
Die Armut war ein prägendes Element der Kindheit von Izzeldin. «Ich weiss wirklich nicht, wie mein Vater die Bedingungen, unter denen wir lebten, ertrug – wenn man bedenkt, dass er den ersten Teil seines Lebens auf dem Gehöft seiner Familie gelebt hatte, wo es reichlich zu essen und einen grossen Familienstolz gab.» (S. 71) Aus dieser belasteten Situation heraus entwickelte sich Izzeldin zu einem hervorragenden Schüler: «Schon als Kind wusste ich, dass Bildung ein Privileg war, etwas Heiliges und ein Schlüssel zu vielen Möglichkeiten. Ich erinnere mich, wie ich meine Bücher fest an mich drückte und meinen wertvollsten Besitz mit meinem Leben schützte, inmitten der Zerstörung, die um mich herum stattfand.» (S. 38) Eine wichtige Bedeutung hatte einer seiner Lehrer, «der sich so verhielt, als hätte er einen echten Studenten in mir entdeckt. Er widmete mir so viel Aufmerksamkeit, dass er mich, einen Erstklässler, am Ende des Jahres vollständig überzeugt hatte, dass ich alles lernen konnte, was ich lernen wollte, und alles werden konnte, was ich werden wollte. Er war ein aussergewöhnlicher Mann.» (S. 73) Erstaunlich, war die Schule doch völlig überfüllt, mit sechzig Kindern in der Klasse und drei Kindern pro Pult.
Seinen Teil beitragen
Doch Izzeldin hatte auch seinen Teil zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Er stand morgens um drei Uhr auf und verkaufte vor Schulbeginn Milch, um Geld für die Familie beizusteuern. Nach der Schule pflückte er Orangen und schleppte Ziegel. Hausaufgaben machte er abends inmitten seiner lärmenden Geschwister. Als ältester Sohn lastete eine spezielle Verantwortung auf ihm, und seine Mutter war sehr streng. Aber immer wieder traf er auf Menschen, die seine Sicht von der Welt und den Mitmenschen positiv prägten. «Es waren die Lehrer, die mir Türen öffneten und mich wissen liessen, dass es jenseits der drückenden Armut, in der wir lebten, eine Zukunft gab.» (S. 77) Als er fünfzehn Jahre alt war, ergriff er die Möglichkeit, während des Sommers auf einem Bauernhof in Israel zu arbeiten. Er verdiente dort gut und wunderte sich, warum diese Familie ihn, einen palästinensischen Jungen, überhaupt genommen hatte. Offenbar waren nicht alle Israeli seine Feinde, stellte er fest. Diese Erfahrung machte er auch später, als er Arzt war. Viele israelische Kollegen halfen ihm, dass er bei ihnen in einer israelischen Klinik seinen Facharzt machen konnte.
Mein Traum, Arzt zu werden
Doch die starke Belastung forderte ihren Preis, und Izzeldin Abuelaish wurde wegen Entzündung der Gelenke seiner Beine ins Gesundheitszentrum Al-Shiva in Gaza-Stadt eingeliefert. «Dort entstand mein Traum, Arzt zu werden. Ich sah, dass ich als Arzt die Möglichkeit hätte, die Lebensbedingungen meiner Familie zu verbessern und gleichzeitig dem palästinensischen Volk zu dienen.» (S. 88) In den folgenden Jahren erfüllte er sich diesen Traum dank eines Stipendiums und harter Arbeit. Er besuchte die medizinische Fakultät in Kairo und erwarb einen Abschluss in Geburtshilfe und Gynäkologie an der University of London. Später, ab Juni 1997, machte er seinen Facharzt in Geburtshilfe und Gynäkologie am Soroka Medical Center in Israel und war damit der erste palästinensische Arzt im Personal einer israelischen Klinik. Dann studierte er Medizin und Genetik am Vittore-Buzzi-Kinderkrankenhaus in Mailand sowie am Erasmus-Krankenhaus in Brüssel, wo er zum Spezialisten für Unfruchtbarkeitsbehandlungen wurde. Die Medizin, seinen Beruf als Arzt sah er als Brücke zwischen den Menschen: «In meinem ganzen Leben als Erwachsener stand ich mit einem Bein in Palästina und mit einem anderen in Israel, ein ungewöhnlicher Umstand in dieser Region. Ob ich nun Babys entbunden, unfruchtbare Paare beraten oder wissenschaftliche Untersuchungen angestellt habe, immer spürte ich, dass die Medizin eine Brücke zwischen den Menschen bauen kann und dass Ärzte Botschafter des Friedens sein können.» (S. 39)
Bande, die unser beider Wunden heilen
Wer sich in das Buch von Izzeldin Abuelaish vertieft, erfährt viel über die Geschichte Palästinas und seiner Bewohner. Man kann den schwierigen Alltag in Gaza nachfühlen, das stundenlange Warten an der Grenze, die Schikanen an den Checkpoints, die den Alltag prägen, das Leben in einem besetzten Land. Trotzdem blieb Izzeldin Abuelaish offen für menschliche Begegnungen, die ihn stärkten: «Als ich Mitte der neunziger Jahre wöchentlich die Grenze überquerte, waren die Soldaten ruppig und arrogant, aber mit der Zeit und viel Geduld meinerseits lernten sie, mich zu akzeptieren, und sie fragten mich sogar um medizinischen Rat.» (S. 56) So erfährt man auch, wie er Freundschaften mit seinen israelischen Kollegen aufbaute, die er an den Wochenenden in den Gaza-Streifen einlud. Seine Töchter schickte er jeweils in Camps in den USA, zusammen mit israelischen Mädchen: «Ich wollte, dass meine Töchter israelische Mädchen kennenlernten und ihre Zeit mit ihnen in einer neutralen Umgebung verbrachten, damit sie entdecken konnten, mit welchen Banden unser beider Wunden geheilt und verbunden werden konnten.» (S. 48)
Nicht Hass und Rache
Und dann kam der 16. Januar 2009. Kurz zuvor hatte er eine Einladung der Universität in Toronto erhalten. Er wollte nach dem schmerzlichen Verlust seiner Frau nach vorne schauen, den Kindern eine positivere Zukunft möglich machen. Die Armee gestand später ein, dass die Raketen auf sein Haus ein Versehen waren. Eine Entschuldigung blieb aus. Aber nicht Rache und Hass – was angesichts der Ereignisse verständlich gewesen wäre – wollte er sein Leben bestimmen lassen: «Seit ich ein kleiner Junge war, habe ich in allem das Gute zu erkennen gesucht, und das ist meine Haltung geblieben – auch gegenüber beträchtlichen Hindernissen, die mir zu Herausforderungen wurden. So gelang es mir, von einer Grenze zur nächsten zu gelangen, als hätte ich bei der einen Kräfte gesammelt, um mich für die nächste vorzubereiten.» (S. 49)
Bildung als Rettungsring
In Toronto nahm er die zuvor begonnene und gelebte Aufgabe als Friedensvermittler wieder auf. Im Wissen darum, was Bildung für einen Menschen bedeutet, und im Gedenken an seine getöteten Töchter gründete er die Stiftung «Daughters For Life», die Gesundheits- und Bildungsprogramme für Mädchen im Nahen Osten verwirklicht: «In diesem Meer von Ungerechtigkeit, Gewalt und Hass ist Bildung ein Rettungsring. Bildung bedeutet Freiheit und Unabhängigkeit.» (S. 15)
Mein Glaube an das Recht, die
Würde und den Wert jedes Menschen
Die Lebensgeschichte von Izzeldin Abuelaish ist differenziert dargestellt und eindrücklich. Seinem Buch sind deshalb viele Leserinnen und Leser zu wünschen. Aktuell ist seine Meinung natürlich gefragt für Interviews. Trotz teilweise befremdlicher Fragen, die von ihm eine politisch korrekte Stellungnahme erzwingen wollen, bleibt er dabei: «Mein Glaube an das Recht, die Würde und den Wert jedes Menschen ist unerschütterlich, und diesen Glauben werde ich verteidigen, egal, was man über mich sagt. Ich setze diese Reise fort in dem festen Glauben, dass ich, dass unser Volk, dass wir ein Recht auf Freiheit haben.» (S. 11)
Für seine Arbeit wurde Izzeldin Abuelaish immer wieder geehrt, und 2010 und 2011 wurde er für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Von mir hätte er ihn erhalten! •
Abuelaish, Izzeldin. Ich werde nicht hassen. Meine Töchter starben – meine Hoffnung lebt weiter. München: Langen Müller 2022
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