«Ich verstehe nicht, warum heute so viele Kinder psychische Probleme haben», meinte kürzlich eine Kollegin. «Man sagt immer, sie stehen so unter Druck, in der Schule und zu Hause, und dann der Klimawandel und unsere Weltlage. Ich weiss schon, dass sie auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben vor vielen Anforderungen stehen. Aber ist das nicht eine Aufgabe, die sich weltweit allen Kindern stellt? Und war es für uns nicht ebenfalls so, wenn auch mit anderen Themen?» fuhr sie weiter.
Die Frage meiner Kollegin ist leider begründet. Die dazu veröffentlichten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Eine Studie der Unicef berichtet von langen Wartelisten und einer Überbelegung der Kinder-und Jugendpsychiatrien. Sie verweist auf den Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst Zürich, der 2021 über eine Zunahme von 40 Prozent an Notfällen und mangelnden Plätzen im stationären Bereich berichtet. Es geht um Verhaltensprobleme (ADS/ADHS), Autismus-Spektrum-Störungen (ASS), Angststörungen, Depressionen, Suizidalität usw.1 – Diagnosen, wie sie im DSM 5, dem amerikanischen Handbuch Psychiatrischer Kriterien, aufgelistet sind. Ende 2022 vermeldete das Bundesamt für Statistik BSF einen beispiellosen Anstieg psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Sie waren die häufigste Ursache von stationären Spitalaufenthalten der 10–24jährigen, häufiger als Verletzungen, Unfälle oder körperliche Krankheiten.2
Sind psychische Probleme
heute häufiger geworden?
Das ist eine Frage, die zunehmend gestellt wird. Als Erklärung hört man oft, dass wir in einer Welt leben, in der psychische Probleme vermehrt angesprochen werden; man sei mehr sensibilisiert als früher und wolle die Kinder und Jugendlichen ernstnehmen. Das stimmt, auch in den Schulen werden sie bei bestimmten Unterrichtsprojekten eindringlich nach ihrer Befindlichkeit befragt. Sie sollen über ihre Gefühle nachdenken und diese mit Symbolkarten kundtun.
Unter manchen Jugendlichen ist es heute üblich geworden, ihre Gefühle auszubreiten, oft mit einer gewissen Dramaturgie verbunden. Einige finden dann ihre Aufgabe und auch ihre Geltung darin, Freunde zu beraten. Medien greifen die Thematik mit Berichten, Interviews, Filmen usw. auf und geben dabei gleichzeitig Anleitung für medienwirksame Rollenmodelle. Wichtig sind auch die Social Media, speziell TikTok, in denen man sich in problemspezifischen Gruppen austauscht, allenfalls im Negativen konkurrenziert und sich (meist fragwürdige) Tips gibt. (Wegen eines mutmasslich mangelhaften Jugendschutzes hat die Europäische Union zu Recht ein formelles Ermittlungsverfahren gegen TikTok eingeleitet!) Ein vermeintliches Zusammengehörigkeitsgefühl wird dadurch auf einer kranken Ebene gefördert.
Vergessen geht, dass Unglücklichsein zu den Lebenserfahrungen gehört und nicht automatisch in einer Depression enden muss. Auch steckt selten eine Angststörung dahinter, wenn ein Kind eine Aufgabe, die sich ihm stellt, nicht anpackt, sich dem Schulbesuch verweigert oder sich aus dem sozialen Umfeld zurückzieht. Ein heikles Essverhalten muss nicht der Anfang einer Magersucht oder Bulimie sein, und eine Jugendliche mit Weltuntergangsstimmung ist nicht nahe am Suizid. Selbstverständlich ist ein waches Interesse für die Probleme der Kinder richtig, speziell wenn sie länger andauern und deren Leben nachhaltig beeinträchtigen. Möglicherweise verstärkt und verfestigt aber eine allzu besorgte Aufmerksamkeit ungewollt das Verhalten des Kindes.
Die Übernahme der
Pädagogik durch die Psychiatrie
Es ist heute üblich geworden, auffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit psychiatrischen Diagnosen zu belegen – ein einschneidender Eingriff in deren Leben. Diese Entwicklung ist Folge eines Paradigmenwechsels, durch den die Deutungs- und Behandlungshoheit solcher Probleme von der Pädagogik zur Medizin verschoben wurde. Bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts stützte man sich bei uns zur Erklärung und Behandlung problematischer Entwicklungen von Kindern und Jugendlichen auf die sorgfältig erarbeiteten Forschungsergebnisse und Erfahrungen der personalen Humanwissenschaften, welche aus der europäischen Wissenschaftstradition hervorgingen. Diese sind in einem personalen Menschenbild verankert und stellen die individuelle seelische Befindlichkeit sowie die lebensgeschichtliche Entwicklung in den Mittelpunkt. Die mitmenschliche Beziehung wird zum Ausgangspunkt einer komplexen erzieherischen Arbeit.
Dann wurde aus den USA der Trend übernommen, psychische Probleme vorwiegend neurobiologisch zu erklären. Das leitete bei uns die bis heute anhaltende Psychiatrisierung der Pädagogik ein. Was damals kurze Zeit ein Diskussionspunkt sogar auf politischer Ebene war, wird heute kaum mehr angesprochen.
Im Jahr 2006 reichten im Zürcher Kantonsrat drei Kantonsrätinnen ein Postulat mit folgendem Wortlaut ein: «Die Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie im Kanton Zürich befindet sich in einem Paradigmenwechsel. Ein biologistisches Menschenbild löst das humanistische und sozialwissenschaftliche ab, und mit diesem verändern sich die Behandlungsweisen von Entwicklungsstörungen, Krankheiten und Verhaltensauffälligkeiten. Psychische Störungen werden vermehrt als biochemische Störungen im Hirn verstanden, und die Behandlung erfolgt zunehmend mit der Gabe von chemischen Substanzen, welche die neurobiologischen Hirnfunktionen so beeinflussen, dass das unerwünschte Verhalten verschwindet. Nach psychosozialen Ursachen und Umweltbedingungen, welche das Auftreten bestimmter Verhaltensauffälligkeiten und psychischer Störungen begünstigen, wird immer weniger gefragt.»3
Das Postulat stand in Zusammenhang mit der beunruhigenden Zunahme der Verschreibung von Methylphenidat (damals unter dem Markennamen Ritalin bekannt) an Kinder mit einer AD(H)S. Eine Entwicklung, welche auch die Nationale Ethikkommission (NEK) beschäftigte. 2011 warnte sie vor der Abgabe von Methylphenidat an Kinder: «Denn durch die Einnahme von pharmakologischen Wirkstoffen zu Zwecken des Enhancement wird das Verhalten des Kindes ohne jegliche Eigenleistung verändert. Darin liegt ein Eingriff in die Freiheit und die Persönlichkeitsrechte des Kindes. Weil pharmakologische Wirkstoffe zwar Verhaltensveränderungen verursachen, das Kind aber damit nicht lernt, wie es solche Verhaltensänderungen selbst erzielen kann, wird dem Kind eine wichtige Lernerfahrung für eigenverantwortliches Handeln vorenthalten: nämlich sein Verhalten durch eigene Entscheidungen – und nicht (allein) durch fremde Mittel – zu beeinflussen und damit Verantwortung übernehmen zu können. In diesem Sinne wird durch Enhancement die Freiheit des Kindes empfindlich eingeschränkt und es in seiner Persönlichkeitsentwicklung gehemmt.»4
Die bei der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften) in Auftrag gegebene Studie kam zu keiner abschliessenden Antwort, ob eine ungerechtfertigte Medikalisierung vorliege5, und die «Neue Zürcher Zeitung» berichtete keinen Handlungsbedarf, weil sich die meisten Eltern gut beraten fühlten und bereits der Bund nach mehreren Vorstössen im Parlament die Entwicklung der ADHS-Fallzahlen beobachten würde.6 Nicht beantwortet wurde hingegen die Frage nach dem Paradigmenwechsel im Menschenbild, der im Postulat der drei Kantonsrätinnen 2006 aufgeworfen war.
Ein Paradigmenwechsel
im Menschenbild – was heisst das?
Paradigmenwechsel meint einen veränderten Erklärungsansatz, hier für die psychischen Probleme von Kindern. In unserem Fall mag das folgende Beispiel erklärend und hilfreich sein. Es geht um Leona, ein Mädchen, wie wir es in unseren Schulen oft antreffen. Sie fiel bereits im Kindergarten auf. Leona konnte kaum ruhig bei einer Aufgabe verweilen, tigerte im Raum herum und störte die anderen Kinder. Dann kam sie in die erste Klasse, und ihr Problem wurde offensichtlicher. Man hatte zwar den Eindruck, sie sei ein kluges Mädchen. Gleichzeitig zeigte sie schwache Leistungen und fiel durch umtriebiges Verhalten auf. Der Unterricht war so organisiert, dass die Kinder selbständig nach Wochenplan arbeiten sollten. Im Schulzimmer war es oft unruhig, und Leona war Teil dieser Unruhe. Sie löste ihre Arbeitsblätter nur schludrig und schien überfordert. Schnell hatte sie Lücken im Lernstoff. Sie übte nicht gerne, verlegte sich oft aufs Raten oder schummelte. Die sehr bemühte Lehrerin versuchte alles, um Leona zu beruhigen. Ohne Erfolg. So vermutete sie nach einiger Zeit bei Leona eine ADHS und riet den Eltern zu einer Abklärung bei einem kinderpsychiatrischen Dienst. Es folgten verschiedene Gespräche, Fragebögen, die Eltern und Schule auszufüllen hatten, und eine Erkundung des sozialen Umfelds. Schliesslich wurde die vermutete Diagnose bestätigt und auf Grund des von den Eltern geäusserten Leidensdrucks auch die Einnahme von Methylphenidat empfohlen.
Leonas Problem –
aus biologistischer Sicht
Hinter diesem Vorgehen steht ein bestimmtes Menschenbild, das eine ADHS vor dem Hintergrund einer neurobiologisch-genetischen Theorie erklärt und die Symptome als Folge einer Störung biochemischer Regelkreise im Hirn einordnet. Eine Diagnose für eine ADHS zu stellen sei sehr anspruchsvoll und werde auch kontrovers diskutiert, stellt Oskar Jenni (Co-Abteilungsleiter und leitender Arzt der Entwicklungspädiatrie im Kinderspital Zürich und Ausserordentlicher Professor für Entwicklungspädiatrie an der Universität Zürich) fest. Zum einen bestehe Unsicherheit, weil es kein allgemein anerkanntes Störungsmodell gebe, kein zuverlässiger ADHS-Test zur Verfügung stehe und die Störung sich mit anderen Erkrankungen und reaktiven Verhaltensauffälligkeiten zum Teil erheblich überschneide. So falle es in der Praxis bisweilen schwer, zwischen unreifem Verhalten und einer Störung zu unterscheiden, und schliesslich seien ADHS-Symptome kontinuierlich in der Bevölkerung verteilt.7
Ein Mauerblümchendasein fristen in jedem Fall pädagogische Überlegungen, die sich an den Stärken der Kinder orientieren. Denn als wegleitend in der (heil-)pädagogischen Theorie und Praxis gilt heute die ICF-CY (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit für Kinder und Jugendliche). Sie teilt die Menschen auf in einzelne Bereiche (Körperfunktionen, Aktivitäten, Teilnahme, Umweltfaktoren und personenbezogene Faktoren), die beschrieben und therapeutisch angegangen werden sollen. Sie ist eng an das ICD-10 gebunden, die europäische Entsprechung des amerikanischen Klassifikationssystems DSM.
Die Problematik des Kindes wird nach ICF-CY in einem Förderplan-Zyklus festgehalten, welcher die obigen Bereiche umschliesst. Daraus werden durch Beobachten, Messen und Zählen festzustellende Förderziele definiert und eine Förderplanung erstellt. In Standortgesprächen wird überprüft, ob oder wie weit die Ziele erreicht wurden, und es werden neue vereinbart.
Die an technische Regelsysteme erinnernde Vorgehensweise wurde tatsächlich aus der Systemtechnik übernommen. Die ICF-CY wurde 2016 von der Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet. Damit war die Psychiatrisierung der Pädagogik Fakt geworden. Statt pädagogischer Überlegungen waren nun an verhaltenstherapeutischen Konzepten orientierte oberflächliche Massnahmen angesagt, mit denen man das ungünstige Verhalten der Kinder reduzieren wollte – was verständlicherweise selten erfolgreich war.
Zurück zum Beispiel: Als Weg für Leona wurde vorgeschlagen, ihr im Schulzimmer einen Platz zu geben, von dem aus sie sich problemlos aus dem Schulzimmer entfernen könne, wenn sie innere Unruhe oder Wut verspüre. Auch sollte sie durch eine Lernzielanpassung (das heisst durch eine Reduktion des Lernstoffes) vom Stoffdruck entlastet werden. In späteren Jahren würde sie mit einem Nachteilsausgleich rechnen können, zum Beispiel mit mehr Zeit zum Lösen von Prüfungen, allenfalls mit einem Arbeitsplatz in einem separaten Raum.
Das alles beruht auf dem biologistisch geprägten Menschenbild, welches den Blick (zu) eng nur auf das einzelne Kind und seine Symptomatik richtet. Diese Herangehensweise an psychische Probleme, die hier am Beispiel von ADHS dargestellt wurde, ist heute vielerorts Usus, wird in den Ausbildungsgängen in Heilpädagogik gelehrt und gelernt und kommt vergleichbar auch bei anderen seelischen Schwierigkeiten zur Anwendung.
Leonas Problem –
auf der Grundlage eines personalen Menschenbildes
Den theoretischen Bezugsrahmen für eine psychologisch-pädagogische Betrachtungsweise bilden dagegen die personalen Humanwissenschaften, dazu gehören u.a. die Tiefenpsychologie und die (Kultur-)Anthropologie. Gerade die vom Wiener Arzt Alfred Adler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründete Individualpsychologie eignet sich speziell gut dafür, Leonas Problem vertieft zu verstehen. Sie macht eine differenzierte, individuelle Anamnese ihres sozialen und auch kulturellen Umfeldes möglich und wie Leona sich darin bewegt. Alfred Adler hat es Lebensstil genannt. Kernpunkte sind Leonas Beziehungen im familiären Umfeld, ihre Geschwistersituation, der Erziehungsstil der Eltern und die bisherige (Lern-)Biographie. Wie hat Leona diese Gegebenheiten verstanden und welche inneren Schlüsse hat sie für sich daraus gezogen? Wie ist sie innerlich mit ihren Mitmenschen verbunden? Eine solche Anamnese eröffnet einen anderen Zugang zum Verständnis eines Problems, wie es Leona hat, und sie war auch lange Zeit Grundlage (heil-)pädagogischer Arbeit.
Ein wissenschaftlich
fundiertes Arbeitsmodell
Das personale Menschenbild, das der Individualpsychologie eigen ist, aber auch zu den Grundlagen der Pädagogik Johann Heinrich Pestalozzis gehört, führte in der Schweiz zur Entwicklung einer wertgeleiteten (Heil-)Pädagogik. Sie verstand sich als eigenständige Wissenschaft und grenzte sich von der Medizin ab. Pioniere waren eng mit der Praxis verbundene Persönlichkeiten wie Heinrich Hanselmann, Paul Moor, Hermann Siegenthaler, Emil E. Kobi u.a. – Doch die Forschungsarbeit ging weiter. Was Alfred Adler, seine Schüler und die Wegbereiter der Heilpädagogik entwickelt hatten, ist heute durch Befunde der Anthropologie und der Entwicklungspsychologie und durch die psychotherapeutische Praxis bestätigt und erweitert. Sie erforschten die evolutionär bedingte, soziale Natur des Menschen, richteten den Blick auf die sozialen und kulturellen Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes und untersuchten die für die sozial-emotionale und intellektuelle Entwicklung entscheidende Qualität von Bindungserfahrungen. Deshalb steht uns heute für die pädagogische Praxis ein wissenschaftlich fundiertes Arbeitsmodell zur Verfügung, dass sich an den neuesten Forschungsergebnissen orientiert.8
Zurück zu Leona
Es zeigte sich, dass sie in ihren familiären Beziehungen wenig Rückhalt hatte. Geschwächt durch einen verwöhnenden Erziehungsstil, fehlte ihr der Mut, sich den Anforderungen des Lernstoffes zu stellen. Mit ihrem unruhigen Verhalten überdeckte sie ihre Unsicherheit. Sie griff dabei auf frühkindlich vorgebildete Bewältigungsmuster zurück und erwartete von den umgebenden Mitmenschen Entlastung.
Für die Lehrerin war deshalb eine verstärkt emotional korrigierende Beziehungsarbeit angezeigt. Das bedeutete, ihr ermutigend und anleitend beizustehen, sie zu fördern und zu fordern und an den Schwierigkeiten und Erfolgen beim Lernen Anteil zu nehmen. Voraussetzung dafür war ein gut strukturierter, anleitender Unterricht, in dem sich die Kinder den Lernstoff gemeinsam erarbeiteten – eine Unterrichtsform, die hohe Ansprüche an die Person des Lehrers stellt. Aber damit war die Grundlage für motivierenden schulischen Erfolg gegeben und ein Umfeld, in dem Austausch gepflegt und Freundschaften mit Gleichaltrigen möglich wurden. So öffnete sich für Leona der Weg zu mehr innerer Flexibilität. Sie nutzte die Chance, einen konstruktiven Beitrag zum Klassengeschehen leisten zu können. Ein Prozess, der erfolgreich war, aber Zeit brauchte.
Am Ende der sechsten Klasse schrieb sie ihrer Lehrerin: «Bald sind Ferien, und die Schulzeit bei Ihnen geht zu Ende. Als ich vor zwei Jahren neu in diese Schule kam, war ich ein rechter Wirbelwind und habe sehr viel Ärger gemacht. Ich habe manchmal die Welt nicht verstanden, wenn Sie mich gestoppt haben und mit mir nicht einverstanden waren. Doch wenn ich jetzt darüber nachdenke, muss ich lachen. Ich sehe die jüngeren Kinder und erinnere mich, wie wir damals waren. Ich bin Ihnen heute sehr dankbar, was Sie für mich gemacht haben, und werde das, was ich gelernt und erlebt habe, in die Oberstufe mitnehmen.»
Nachtrag: eine Diskussion,
die nach wie vor ansteht
Das eben Ausgeführte wäre eine mögliche Antwort gewesen auf die Frage der drei Kantonsrätinnen, wie wir Problemen, die sich in der Entwicklung von Kindern ergeben können, begegnen wollen. Es geht um den Paradigmenwechsel, der eine Psychiatrisierung der Heilpädagogik nach sich gezogen hat. Müssen unsere Problemkinder sich mit einer als neurobiologisch-genetisch bedingt bezeichneten «Störung» abfinden (die mancherorts als neuroatypische Variante des Menschseins hochstylisiert wird)? Oder haben sie das Glück, auf Menschen zu treffen, die ihre Auffälligkeit als geworden im Rahmen ihrer Lebensgeschichte verstehen, sich auf die neuesten, gut validierten Forschungsergebnisse abstützen und daraus einen Weg entwickeln, der den Kindern und ihren Beziehungspersonen Wege in eine optimistischere Zukunft eröffnet? Die Frage nach dem Sinn und Ziel eines Paradigmenwechsels darf nicht «vergessen» werden. Die (heil-)pädagogischen Hochschulen müssten sich die Frage nach Grundlage und Inhalt ihrer Ausbildungsangebote gefallen lassen. Denn heute ist eine Wende zu einer Pädagogik nötig, die sich am personalen Menschenbild und einem wissenschaftlich fundierten Arbeitsmodell orientiert. •
1 Hadatsch, Florian. «Psychische Gesundheit von Jugendlichen. Studienergebnisse. Unicef Schweiz und Liechtenstein». 2023. https://www.unicef.ch/de/unsere-arbeit/schweiz-liechtenstein/psychische-gesundheit
2 Bundesamt für Statistik. Medienmitteilung. «Behandlung von psychischen Störungen bei jungen Menschen in den Jahren 2020 und 2021. Psychische Störungen: beispielloser Anstieg der Hospitalisierungen bei den 10- bis 24-jährigen Frauen». https://www.bfs.admin.ch/asset/de/23772011
3 KR-Nr. 202/2006. Postulat Abgabe von Psychopharmaka in Kinder- und Jugendlichentherapien. Eingereicht von Silvia Seiz-Gut (SP Zürich), Gabriela Winkler (FDP Oberglatt), Heidi Bucher-Steinegger (Grüne Zürich), 25.10.2006.
4 NEK-CNE. «Über die Verbesserung des Menschen mit pharmakologischen Wirkstoffen. Schweizerische Ärztezeitung». 2011; 43. https://www.nek-cne.admin.ch/inhalte/Themen/Stellungnahmen/NEK-CNE_Enhancement_d.pdf
5 Rüsch, Peter et al. «Behandlung von ADHS bei Kindern und Jugendlichen im Kanton Zürich». ZHAW 2014, S. 71 f. https://www.zhaw.ch/de/gesundheit/ueber-uns/news/news-detailansicht/event-news/adhs-studie-der-forschungsstelle-gesundheitswissenschaften-ist-veroeffentlicht/
6 Müller, André. «1 von 40 Schulkindern in Zürich nimmt Ritalin». In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.4.2014, S. 17
7 Jenni, Oskar. «Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung: Warum nicht ADHS-Spektrum?» In: Monatsschrift Kinderheilkunde. Zeitschrift für Kinder- und Jugendmedizin. Volume 164 Number 4, (2016) (https://www.zora.uzh.ch/id/eprint/182694/1/ADHS-Spektrum.pdf)
8 Mit diesen Forschungen verbunden sind Namen wie Michael Tomasello, Lew Vigotsky, John Bowlby, Mary D. S. Ainsworth, Karin und Klaus Grossmann, Colwyn Trevarthen, Peter Hobsen, Paul L. Harris, Henri Julius u.a.
ep. Die ICF wurde im Jahr 2001 von der Generalversammlung der Weltgesundheitsorganisation WHO verabschiedet. Mit der Ratifizierung der ICF hatten sich alle Mitgliedsländer (auch die Schweiz) verpflichtet, die Einführung und Anwendung der ICF in ihren Ländern voranzutreiben. Bereits während der Erarbeitung und Revision der neuen Klassifikation setzte die WHO von 1998 bis 2001 eine Arbeitsgruppe ein, um eine Version für Kinder und Jugendliche – die ICF-CY – auszuarbeiten. Die Pädagogische Hochschule des Kantons Zürich PHZH gehörte zu den Bildungsinstitutionen, die sich an der Erarbeitung der ICF-Kinderversion beteiligten. Zusammen mit der Firma RehabNET AG entwickelte das PHZH-Projektteam eine Computer-Software für die Förderplanung in Bildungssystemen, die auf der ICF-CY beruht. Mit Bildungsratsbeschluss vom 4. September 2006 wurde für den Kanton Zürich ein vor deren Hintergrund ausgearbeitetes Verfahren für die Arbeit mit Kindern mit «besonderen Bedürfnissen» für verbindlich erklärt. Die WHO hat schliesslich im Oktober 2006 in Tunis die erste Fassung der Sonderversion für Kinder und Jugendliche gutgeheissen. Sie wurde seither an unterschiedliche Verfahren und Bedürfnisse von Institutionen angepasst und ist heute im schweizerischen und im restlichen deutschsprachigen Bildungswesen sowie in den Institutionen der Gesundheitsversorgung dieser Länder für die Förder- und Massnahmenplanung bei Kindern und Jugendlichen mit sogenannt «besonderen Bedürfnissen» üblich.
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