Erziehungsgeheimnisse aus Paris

Ein Buch von Pamela Druckerman für Eltern und Erzieher

von Susanne Wiesinger

zf. Das folgend besprochene Buch beschreibt eine in Frankreich fast schon vergangene Zeit, und viele Beobachtungen der Buchautorin geben vor allem die klassische Erziehung einer bürgerlichen Schicht wieder. Auch in Frankreich hat sich die Situation verändert. Bestimmte «amerikanisierte» Verhaltensweisen, die bei unseren Schülern schon fester Bestandteil des Repertoires sind, setzen sich auch bei den französischen Schülern langsam durch. Zum Beispiel: Das dauernde Zwischendurch-Futtern war Mitte der neunziger Jahre noch ein absolutes Tabu. Anfang der 2000er Jahre kam es auch bei den Franzosen in Mode – obwohl es in den Familien immer noch eine ziemlich deutliche Regelung gibt, das Essen auf die drei Hauptmahlzeiten zu begrenzen. Aber an der Supermarktkasse findet man nach wie vor wesentlich weniger quengelnde Kinder als in anderen US-geprägten europäischen Ländern. Die französischen Kleinkinder sind in der Regel viel besser gelaunt, ausser denen, die eindeutig eine 68er Erziehung geniessen. Nichtsdestoweniger gilt: Das besprochene Buch enthält interessante und sehr gute Anregungen für die Kindererziehung, die Eltern auch heute – mit ein wenig Unterstützung – wieder umsetzen könnten.

Das Buch «Warum französische Kinder keine Nervensägen sind», erschienen in amerikanischer Originalausgabe im Jahr 2012, in deutscher Übersetzung im Jahre 2013, wurde von der US-Amerikanerin Pamela Druckerman verfasst, die bis dahin ausschliesslich Erfahrung als Reporterin für wirtschaftliche Themen aus dem Raum Südamerika hatte – auf der Grundlage von Gesprächen und Interviews mit Freunden in Paris, wohin sie mit ihrem Ehemann umgezogen war. Sie hat selber Kinder, darunter Zwillinge.
  Bei ihren Beobachtungen von Familien in Paris fiel ihr auf, wie gut sich französische Kinder im Restaurant benehmen, wie ruhig sie auf das Essen warten, und dass sie sich bei Einladungen bei befreundeten Familien nicht auf dem Boden wälzen, sondern fröhlich spielen und die Erwachsenen ruhig ihre Gespräche führen lassen … Pamela Druckerman beobachtete, dass sich US-amerikanische Kinder ganz anders verhalten und amerikanische Väter ihren vierjährigen Kindern auf dem Boden bis unter den Tisch nachkrabbeln, um Spielzeug zu suchen, und dass amerikanische Eltern nicht «nein» sagen.
  Professor Mischel, der in den USA in den sechziger Jahren Forschungen zum Belohnungsaufschub bei fünfjährigen Kindern durchgeführt hatte, ist der Meinung:
  «Die Kinder in Frankreich sind disziplinierter, sie werden eher so erzogen wie ich früher. Kommen französische Freunde mit ihren Kindern auf Besuch, kann man in Ruhe das Abendessen geniessen. Bei französischen Kindern geht man einfach davon aus, dass sie sich benehmen und das Essen geniessen können.» (zit. nach Druckerman, S. 87)

Ein Kind, das früh durchschläft,
 scheint in Frankreich die Norm zu sein 

Die Eltern in Frankreich sind der Auffassung, das Kind könne intuitiv lernen und sich auf die Tagesrhythmen der Eltern einstellen, und sie stören das Kind nicht, indem sie es – ohne sich dessen bewusst zu sein – ständig nachts wach halten, im oftmals irrigen Glauben, das Kind sei erwacht, weil es hungrig sei oder aus dem Bett genommen werden wolle.
  In Frankreich ist die biologische Tatsache bekannt, dass sich Babys im Schlaf viel bewegen, dass sie viel wimmern, weinen und seufzen und murmeln und dass all diese Äusserungen nicht unbedingt bedeuten, dass das Baby überhaupt aufgewacht ist oder hungrig ist. Das Baby sollte, so meint die berühmte Pariser Kinderärztin De Leernsnyder, die Chance haben, selber mit dem Alleinsein im Schlaf zurechtzukommen und selber zu lernen, die einzelnen Schlafphasen zu verbinden.
  Das Baby lerne das Durchschlafen so, wie es später lernt, mit dem Fahrrad zu fahren, so lautet die Meinung eines französischen Kinderarztes. Hat das Baby eine Nacht gut durchschlafen können oder konnte es sich bald wieder in den Schlaf hineinbegeben, nachdem es kurz erwacht war oder gewimmert hatte, wird dies am nächsten Tag vermutlich schneller gehen. Die Eltern sollen eine kurze Pause (la pause) einlegen, so lautet eine französische Weisheit, sie sollen das Baby nicht sofort, wenn es Laute von sich gibt, aus dem Bett nehmen, sondern bis zu fünf Minuten warten und beobachten, ob das Kind überhaupt die Augen öffnet… Wer es sofort herausnimmt aus dem Bett, kann es nicht beobachten!
  Gemäss Pamela Druckermans Schilderungen aus französischen Elternhäusern ist es eine Mär zu glauben, dass sich Eltern von Babys auf ein chronisches Problem einstellen und ständig oder sogar jahrelang auf ihren Schlaf verzichten müssten.
  Magazine für werdende Eltern verbreiten oft solchen Unsinn, so dass die US-amerikanischen Eltern schon von vornherein auf ein chronisches Problem mit dem Durchschlafen eingestellt sind.
  Französische Eltern halten vor allem die «kleine Pause» ein, bevor sie reagieren, und sie reagieren in der Regel nicht reflexartig. Und die Babys in Frankreich schlafen in der Regel nach vier Monaten durch.
  Professor Mischels Meinung: «Ich glaube, dass in der Erziehung oft unterschätzt wird, welch aussergewöhnliche […] kognitive Fähigkeiten schon sehr kleine Kinder haben, wenn man sie aktiviert.» (S. 90)

Wie erkläre ich einem Dreijährigen,
 dass man Bücher nicht herumwirft
und wie man sie ins Regal einordnet? 

Im Buch wird geschildert, wie eine junge Französin einem dreijährigen Kind erklärt, dass Bücher nicht aus dem Regal herausgerissen werden: In aller Ruhe sagt sie zu dem Kind, neben dem Kind auf den Boden kniend «So macht man das nicht» und mit netten, sanften Worten befiehlt sie dem Dreijährigen, dass es die Bücher wieder in das Regal stellt. «Doucement» (sanft), dieses Wort kehrt dabei ständig im Munde der jungen Frau wieder, und das Dreijährige protestiert keineswegs, es lernt, dass man mit Büchern «sanft» umgeht und sie nicht umeinander wirft. Ein Buch neben das andere wird in das Regal gestellt, und das Kind hat das nun gelernt, … es protestiert keineswegs, denn es versteht nun, wie mit Büchern umgegangen wird.
  Ohne auch nur im geringsten am Verständnis der Dreijährigen für den Vorgang zu zweifeln, wie man die Bücher in das Regal stellt, bringt die junge Frau dieses «Wunder» zustande! Mit dem Kind zusammen stellt sie die Bücher zurück in das Regal. Sie zeigt ihm, wie das geht. Das Dreijährige ist aufmerksam dabei und macht, was die Frau sagt.

Das Kleinkind immer hochnehmen?

Die Situation, dass eine Mutter mit dem Kochen beschäftigt ist und das Kleinkind von zwei oder drei Monaten nicht hochnehmen kann, kommt häufig vor: Das in dem Buch zitierte Kindermädchen aus Frankreich sagt hier, sie nehme das Kind dann nicht hoch, sondern sie erklärt dem zwei oder drei Monate alten Kind, dass sie nun mit Kochen beschäftigt ist, und sie lässt das Kind dann weinen. Nicht acht Stunden lang, sicher nicht! Aber sie lässt zu, dass es seine Gefühle zum Ausdruck bringt, sie nimmt es zur Kenntnis, geht aber nicht auf seine Wünsche ein … und sie macht nicht das, was das Kind unbedingt will… So kann das Kind lernen, dass andere Menschen da sind und auch ihre eigenen Bedürfnisse haben und dass diese Bedürfnisse auch ein Anrecht auf Beachtung haben.
  Auch in ähnlichen Situationen wird das Kleinkind nicht hochgenommen – und vor allem nicht sofort hochgenommen! – und darf weinen. Das in solchen Situationen unvermeidbare Protestgeschrei von Kleinkindern beziehen die französischen Eltern nicht auf sich, sie denken dann nicht, dass sie als Eltern versagen oder schlechte Eltern seien. Den Hass und die vorübergehende Wut des Kleinkindes mal auszuhalten, sehen sie als Teil ihrer Aufgabe als Eltern an.
  Französische Eltern sehen es nicht als falsch an, dass sie dem Kind ein «Nein» entgegenstellen. Sie halten im Gegenteil tägliche kleine Frustrationen für eine gute Vorbereitung auf das spätere Leben. Sie sind der Auffassung, dass es nicht schadet, wenn der Wunsch des Mädchens nicht erfüllt wird, ein Schokoladecroissant zum Mittagessen zu bekommen.

Unterschiedliche Auffassungen
 zum Nein des Erziehers 

Die US-Amerikaner und die Deutschen dagegen meinen, jedes Bedürfnis des Kindes sei zu erfüllen, denn ein «Nein» könne auf das Kind und den späteren Erwachsenen sein Leben lang traumatisierend wirken, und sie meinen dies auf Grund von falschen Theorien. Ergebnis: In den USA (und in anderen Ländern) ist es gang und gäbe, dass Kinder sich draussen auf dem Boulevard auf den Boden werfen, dass sie hysterische oder Angstanfälle kriegen, wenn ihnen ein Wunsch versagt wird, und dass die Mütter dann versuchen, mit Snacks die Kinder von ihrer Hysterie abzulenken. Ohne ständiges Geben von Snacks können viele Mütter in den USA sich den Alltag oft gar nicht mehr vorstellen!
  Französische Kinder dagegen haben nicht ständig das Bedürfnis nach einem Snack, sie lernen mit Liebe und Geduld, dass sie vier Stunden auf die nächste Mahlzeit warten müssen, und dann greifen sie recht beherzt und hungrig zu.
  Dass die Kinder es mit Liebe und Geduld lernen, heisst zum Beispiel: Eine Mutter gewöhnt ihr Kind dadurch an feste Essenszeiten, dass sie es in der Bauchtrage herumträgt und mit ihm in der Stadt einkaufen geht. So ist das Kind durch den Körperkontakt beruhigt und ausserdem durch das Einkaufen abgelenkt. Es spürt den Hunger nicht und bleibt ruhig.
  Auch für andere häufige Situationen, wenn es z.B. darum geht, ein bestimmtes Spielzeug nicht zu kaufen, haben die Franzosen ein Rezept: Die Mutter erklärt dem Kind im Geschäft, dass am heutigen Tage nicht auf dem Programm steht, ein Spielzeug zu kaufen – mit Liebe (sie nimmt das Kind auf den Arm) erklärt sie ihm das und erzählt ihm – dann ist es optimal – eine Anekdote aus ihrer eigenen Kindheit dazu.
  Kinder lieben solche Anekdoten ihrer Eltern!
  Französische Eltern erkennen, dass es sich bei vielen «Bedürfnissen» ihrer Kinder um «caprices» handelt, kindliche und unrealistische «Launen», und für sie ist es vorrangig, dass Kinder keine Allmachtsgefühle haben und dass sie lernen, dass auch ihre Eltern ein Eigenleben haben. Auch damit lernen sie, dass  die anderen Menschen auch eigene Bedürfnisse haben, die zu respektieren sind.
  Den Müttern in Frankreich ist die US-amerikanische Auffassung fremd, dass es um «total motherhood» geht. Dass sie als Mütter auf Freundschaften verzichten, nur noch für ihre Kinder da sind, dass sie sie ständig herumkutschieren zu ihren ehrgeizigen Sport-, Chinesisch- oder Französisch-Kursen, (in den USA schon für Vierjährige!) – für Französinnen kommt das (in der Regel) nicht in Frage! In Frankreich behält die Mutter ihr Eigenleben, sie zeigt sich vor den Kindern als Partnerin ihres Mannes, als attraktive Frau, oft arbeitet sie schon drei Monate nach Geburt des Kindes wieder, und die Kinder lernen in der Kinderkrippe, sich in das gesellschaftliche Zusammenleben einzufügen, experimentieren mit Freundschaften, lernen den Umgang mit anderen Kindern – dies steht in den Kinderkrippen (ab neun Monaten) im Zentrum –, und auch in der «école maternelle» (Kindergarten) (ab drei Jahren) werden nicht etwa das Alphabet oder geschwungene Spazierstöcke im Heft geübt, sondern höfliche Umgangsformen eingeübt. Malen, Singen, Kreativität und das «Entdecken der Welt» stehen im Vordergrund. Die Kinder in den USA müssen sich ständig durch besondere Glanzleistungen hervortun, nichts davon in Frankreich! Die Eltern in Frankreich nehmen es gelassener, und die Gesundheitsstatistiken geben ihnen recht.
  Inwieweit die Erziehung in Frankreich in den letzten Jahren von diesen Rezepten des «bon sens» abgewichen ist, vermag ich als Aussenstehende nicht zu beurteilen. Was einen jedoch aufmerksam macht, ist, dass von vielen Franzosen in den letzten Jahren zu hören ist, ihr Land habe sich sehr zu seinem Nachteil verändert. Um so mehr sollte über die französische Erziehung nachgedacht und vieles wieder in Erinnerung gebracht werden, denn es hat Erfolg!  •

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