Der Artikel von Dr. Perret, «Das Menschenbild entscheidet – Psychiatrie vs. Pädagogik», in Zeit-Fragen Nr. 5 vom 5. März 2024 erläutert hervorragend den theoretischen Hintergrund der dramatischen Verschlechterung des pädagogischen «Outputs» der Schulen, wie man heute sagt. Wir sind aufgeschreckt, wenn wieder einmal durch eine Studie dokumentiert wird, wie schlecht die tatsächlichen Leistungen der Schüler im deutschsprachigen Raum ausfallen. Aber wird ernsthaft Ursachenforschung betrieben?
Zwei Grundschulklassen an der gleichen Schule, im vorletzten Jahr eingeschult, entwickeln sich folgendermassen:
Die eine Klasse:
Der Unterricht findet in einem Raum statt, der durch Raumteiler und separierte Tische eine ruhige Arbeitsatmosphäre schaffen soll. Trennwände wie im Sprachlabor und Kopfhörer, wie in einer Werkstatt üblich, stehen zur Verfügung.
Die Klassenlehrerin beobachtet die Kinder aufmerksam und stellt fest, dass viele Kinder nicht auf die Schule vorbereitet sind. Sie reagiert z. B. auf das kleinkindliche Verhalten von Mario schnell. Sie leitet alles in die Wege, damit dieses Kind möglichst bald einen Lernbegleiter erhält. Sie ist sich nach einer Schulwoche sicher, ohne einen Lernbegleiter wird es mit Mario nicht gehen. Sie versucht ihr Bestes, im Rahmen des Unterrichts positiv Einfluss zu nehmen. Sie interpretiert Marios Verhalten als Wahrnehmungsstörung und stellt weniger Anforderungen an ihn. Die Sonderschulpädagogen, die im Unterricht zeitweise dabei sind, nehmen sich dieses Kindes ebenfalls besonders an. Die Lehrerin pflegt intensiven Kontakt mit den Eltern und berät sie, Abklärungen vornehmen zu lassen und sich Hilfe bei Fachleuten zu holen. Eltern, die sich gegen die Behauptung wehren, etwas würde mit ihrem Kind nicht stimmen, sind ein Problem. «Kooperative» Eltern gehen auf Anraten der Lehrerin zur Ergotherapie, zur Abklärung auf ADHS, LRS, Autismus, Dyskalkulie, usw.
Ergebnis:
Vier der insgesamt 18 Schüler wiederholen nun die Klasse. Zwei weitere Schüler sind Mitte des 2. Schuljahres zurück in die 1. Klasse gegangen.
Die andere Klasse:
Die Lehrerin hat alle Tische so gestellt, dass jeder jeden sehen kann, und führt die Schüler stets gemeinsam durch die Unterrichtsstunde.
Diese Lehrerin sieht ebenfalls Defizite bei mehreren eingeschulten Kindern und versucht, sie sich im familiären und gesellschaftlichen Umfeld und in ihrem Geworden-Sein zu erklären. Warum stiert z.B. Alexandra im Unterricht glasig vor sich hin und nimmt keine Erklärung des Lehrers auf? Das Gespräch mit der sehr jungen alleinerziehenden Mutter von zwei Kindern, die selbst noch in der Ausbildung ist, ergibt, dass sie die ältere Tochter regelrecht vor dem Bildschirm «parkt», weil sie sich überfordert fühlt. Nach Gesprächen über die Folgen fürs Kind und sein Lernen und nach der gemeinsamen Entwicklung von Alternativen blüht dieses Mädchen auf. Mitte des 2. Schuljahres ist ihr Finger im Unterrichtsgespräch regelmässig oben, und sie findet wieder Anschluss an den Unterrichtsstoff.
Ergebnis:
Alle 21 Schüler dieser Klasse sind auf einem Niveau, das Zweitklässler Mitte des Schuljahres haben sollten.
Das Tragische ist, dass ein wirklich pädagogisch arbeitender Lehrer sich heute dafür rechtfertigen muss, dass er nicht die ganze Armada an sogenannten Fachleuten herbeiruft. Der oberflächliche Betrachter sieht die anspruchsvolle tägliche Beziehungsarbeit nicht und kann nicht ermessen, wie sehr die Haltung des Lehrers, sein Menschenbild und sein Einfühlungsvermögen über die Entwicklung des Kindes entscheidet.
Sigrid Brand, Hamburg
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