Schweizer Parlament weicht einmal mehr vom neutralen Weg ab

Konfiskation russischen Staatsvermögens ist völkerrechts- und verfassungswidrig

von Dr. iur. Marianne Wüthrich

Der Ständerat nahm am 7. März 2024 mit knappem Mehr fünf gleichlautende Motionen aus dem Nationalrat an, denen dieser in der Herbstsession 2023 mit 123 Ja zu 54 Nein zugestimmt hatte. Nach dem Willen des Parlaments soll sich die Schweiz international für völkerrechtliche Grundlagen einsetzen, damit russische Staatsvermögen konfisziert werden können. Der nicht ganz leicht verständliche Vorstoss gibt dem Bundesrat kein grünes Licht, russische Staatsvermögen in der Schweiz zu enteignen. Zudem stehen Vermögenswerte privater Eigentümer nicht zur Diskussion, seit das Bundesamt für Justiz BJ klargestellt hat, dass deren Enteignung gegen das Völkerrecht und gegen die Bundesverfassung verstossen würde. Aber das Ja beider Räte bestärkt den Bundesrat in seinem unhaltbaren aussenpolitischen Aktivismus, der die Schweiz weit weg von der Neutralität und der Besonnenheit unserer Vorväter führt.

Motionstext: «Der Bundesrat wird beauftragt, Massnahmen zu ergreifen, um auf internationaler Ebene die Grundlagen für einen Reparationsmechanismus zugunsten eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates und zu Lasten des Staatsvermögens des kriegführenden Aggressors zu erarbeiten. In internationaler Koordination sind die völkerrechtlichen Grundlagen zu klären und ein konkreter Mechanismus vorzuschlagen, der es erlaubt, die durch die Sanktionen eingefrorenen staatlichen (u.a. Zentralbankgelder) oder staatsnahen Gelder (u.a. Vermögen von Staatsbetrieben) rechtmässig an das angegriffene Land zu überweisen.» (Motion 23.3264. Andrey Gerhard. Völkerrechtliche Grundlagen für Reparationszahlungen an die Ukraine)

«Die völkerrechtlichen Grundlagen
 klären» meint, sie ausser Kraft zu setzen

Im Klartext geht es darum, dass die USA und ihre Trabanten die russischen Zentralbankvermögen und Vermögen von Staatsbetrieben (zum Beispiel der Energiekonzerne Gazprom und Rosneft), die auf westlichen Bankkonten liegen, stehlen und das gestohlene Geld für den «Wiederaufbau» der Ukraine verschleudern wollen. Die «völkerrechtlichen Grundlagen klären» meint in Wirklichkeit, diese in bezug auf Russland ausser Kraft zu setzen und die Angelegenheit gemäss der «regelbasierten Ordnung» des «Wertewestens» zu erledigen. Hier müsste das Schweizer Parlament dem Bundesrat «die Knöpfe eintun» – statt dessen bestärkt es ihn darin, dass er auf seinem rechts- und neutralitätswidrigen Irrweg am Gängelband von Biden & Co. weiterstolpert. 
  Einer der Motionäre, Gerhard Andrey (Grüne Partei, FR) erklärte zum Beispiel am 28. September 2023 im Nationalrat locker vom Hocker: «Rund 300 Milliarden Dollar der russischen Nationalbank, auf welche Russland wegen des Embargos keinen Zugriff hat, sind im Westen blockiert, allein in der Schweiz sind es schätzungsweise 5 Milliarden Dollar [nach anderen Schätzungen über 7 Milliarden, mw.]. Der Zusammenhang zwischen dem Verursacher des Schadens und dem Eigentümer solcher Vermögen ist hier ganz klar gegeben. Ich bin sicher, dass Ihnen wie auch mir deshalb folgende Herleitung völlig logisch und stringent erscheint: Russland zerstört, Russland muss bezahlen.»
  Andrey und die meisten anderen Votanten in beiden Räten geben zu: Erstens gibt es keine völkerrechtliche Grundlage für eine derartige Plünderung von Konten anderer Staaten und zweitens sei das Unterfangen «sehr komplex», das Völkerrecht – und das eigene Landesrecht! – in die vom «Wertewesten» gewünschte Richtung zu verbiegen (pardon, «anzupassen»).

Ständerat verpasst knapp seine
Bedeutsamkeit als «chambre de réflexion»

Leider hat der Ständerat am 7. März diesen bedenklichen Entscheid des Nationalrates knapp bestätigt, mit 21 zu 19 Stimmen bei drei Enthaltungen, obwohl seine Rechtskommission die Vorlage mit 7 zu 5 Stimmen zur Ablehnung empfohlen hatte. Immerhin gab eine Reihe von Ständeräten aus verschiedenen Parteien Voten ab, die uns wieder freier atmen lassen, und am Schluss stimmten Ratsmitglieder quer durch die Parteien gegen die Motion. Jammerschade, dass es nicht gereicht hat. Es folgen einige bemerkenswerte Auszüge.

«Staatliches Vermögen ist
 durch die vom Völkerrecht garantierte
Staatenimmunität geschützt»

Pirmin Schwander (SVP, SZ), für die Kommission: «Staatliches Vermögen ist durch die vom Völkerrecht garantierte Staatenimmunität geschützt. Staatsvermögen, dazu gehören unter anderem auch die Zentralbankgelder, darf nach den heute geltenden völkerrechtlichen Grundlagen und nach der schweizerischen Rechtspraxis nicht beschlagnahmt und zugunsten eines Drittstaates eingezogen werden. Es steht dem neutralen Kleinstaat Schweiz und der Reputation der Schweiz nach der Mehrheit der Kommission schlecht an, Massnahmen zu diskutieren und zu ergreifen, um völkerrechtswidrige Zustände mit völkerrechtswidrigen Massnahmen zu beheben.» Ständerat Schwander zitiert den Bundesrat bei dessen Genehmigung des Uno-Übereinkommens über die Immunität der Staaten und ihres Vermögens von der Gerichtsbarkeit von 2004: «Da sich zahlreiche internationale Konferenzen und Organisationen im Hoheitsgebiet der Schweiz niedergelassen haben, hat unser Land ein besonderes Interesse an der Rechtssicherheit, die durch eine weltweit anwendbare Regelung über staatliche Immunitäten erzielt wird.»

«‹Reparationszahlungen› ist immer
 das Wort des Siegers gegenüber dem
 Verlierer» (Versailler Verträge)

Der Walliser Ständerat Beat Rieder (Mitte) schlägt einen Bogen zur Geschichte: «Die Staatenimmunität ist eines der ältesten und grundlegendsten Prinzipien des Völkergewohnheitsrechts.» Die Schweiz habe an der Vorbereitung des genannten Uno-Übereinkommens von 2004 mitgearbeitet: «Die Schweizer Diplomatie war damals sehr stolz auf dieses Übereinkommen. Wieso? Die Regeln basieren im wesentlichen auf den vom Bundesgericht der Schweiz seit 1918 angewandten Grundsätzen.» Rieder stellt die Frage in den Raum: «Was soll der Bundesrat nun vor diesem völkerrechtlichen Hintergrund, den die Schweiz massgebend mitgeprägt hat, neu machen? Er soll ein Konzept entwickeln, um in einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg das Staatsvermögen und auch das Zentralvermögen des kriegführenden Aggressors zu konfiszieren und für Reparationen zu verwenden […]. Das können Sie natürlich machen. Aber abgesehen davon ist das Wort ‹Reparationszahlungen›, das Sie in den Mund nehmen, eigentlich schon vorbelastet. Das haben auch die damaligen Schöpfer dieses Uno-Übereinkommens so festgestellt; es ist in einem Krieg nämlich immer das Wort des Siegers gegenüber dem Verlierer. Ich erinnere an die Versailler Verträge und daran, was dann aus den Reparationszahlungen der Versailler Verträge entstanden ist.» Kommentar: Allerdings ist Russland weit davon entfernt, den Krieg zu verlieren.

Die mächtigen Staaten
 dieser Welt werden ein solches
 Abkommen nie unterzeichnen

Rieder bevorzugt das «System der absoluten Staatenimmunität gegenüber einem System, das zwangsläufig völkerrechtliches Chaos auslösen wird und bei dem wir schon jetzt sicher sein können, dass es von den mächtigen Staaten dieser Welt […] sicher nie unterzeichnet wird. Wieso? Weil es gerade diese Staaten sind, die sehr oft Kriege und oftmals völkerrechtswidrige Kriege führen; erwähnt seien insbesondere die Vetomächte des Uno-Sicherheitsrates.» [Hervorhebung mw]
  Kommentar: Ein stossendes Beispiel ist Afghanistan. Dort leidet heute die Hälfte der Bevölkerung Hunger, während die USA und ihre Mitkrieger keinerlei Reparationen leisten für die Hunderttausende von Toten und Verwundeten sowie die enormen Schäden, die sie mit ihrem jahrzehntelangen Angriffskrieg verschuldet haben. Ganz im Gegenteil belegen die USA das Land mit Sanktionen und weigern sich, sein geraubtes Zentralbankvermögen herauszurücken.
  Ständerat Beat Rieder kommt zum Schluss: «Diese Motionen schaden der Schweiz als neutralem Staat und tragen nichts zur Lösung von Kriegen bei, weder in der Ukraine noch an anderen Orten.» [Hervorhebung mw]

«Das sind die Fakten»

Bevor wir uns den staatsmännischen Ausführungen von Ständerat Daniel Jositsch zuwenden, müssen wir einmal mehr Kenntnis nehmen von der unwürdigen Haltung (und dem einfachen Horizont?) des leider für die Schweizer Aussenpolitik zuständigen Bundesrates.
  Bundesrat Ignazio Cassis: «Die Fakten sind in der Tat sehr klar: Russland hat das internationale Recht schwer verletzt. Daher muss es den entstandenen Schaden ersetzen, das ist geltendes Recht. Der Europarat hat im Mai 2023 ein Register eingerichtet, um die entstandenen Schäden festzustellen. Diesem Register hat sich der Bundesrat angeschlossen.
  Derzeit laufen internationale Diskussionen über Entschädigungsmechanismen, woran sich die Schweiz mit ihrem Wissen, mit ihren Fähigkeiten und mit ihrer gesamten Geschichte in diesem Bereich beteiligt. Das sind die Fakten.»
  Cassis erzählt erstens von «Fakten», die keine sind: «Das ist geltendes Recht» – eben nicht, deshalb will der «Wertewesten» ja «neues» Recht nach seinem Gusto erfinden. Zweitens benutzt er die Kostbarkeiten der Schweiz, um sich aufzuplustern: «Die Schweiz beteiligt sich mit ihrem Wissen, mit ihren Fähigkeiten und mit ihrer gesamten Geschichte daran.»
  Warum nur, warum hat das Parlament Ignazio Cassis anlässlich der Bundesratswahl im Dezember 2023 nicht durch Beat Rieder oder Daniel Jositsch ersetzt?  •

Muss uns der russische Botschafter erklären, was Recht und was Unrecht ist?

mw. Sergei Garmonin, Botschafter Russlands in der Schweiz, am 7. März 2024 auf X (früher Twitter). Er bestätigt mit seinen Worten die genannten Stellungnahmen im Ständerat und warnt gleichzeitig vor den Auswirkungen auf das internationale Finanzsystem und auf den Ruf der Schweiz.

«Es ist unsere Aufgabe, Verantwortung wahrzunehmen» (Ständerat Daniel Jositsch, SP, ZH)

«Ich glaube einfach, wir müssen vorsichtig sein. Das internationale Recht schützt die kleinen Staaten, nicht die grossen; diese brauchen es nicht. Sie sehen ja auch, dass diese es zeitweise ignorieren. Das heisst, je stärker das internationale Recht ist, desto stärker werden Kleinstaaten wie wir geschützt. Was wir machen müssen, ist, das internationale Recht stärken. Dieser Vorstoss und auch die Bemühungen des Bundesrates zusammen mit anderen Staaten gehen in die andere Richtung. Deshalb mahne ich zur Vorsicht. Aus meiner Sicht ist den Motionen nicht nur deshalb nicht zuzustimmen, weil der Bundesrat das Anliegen schon verfolgt. Vielmehr muss man dem Bundesrat auch das Zeichen setzen: Diskutieren kannst du immer, lieber Bundesrat, aber sei bitte vorsichtig. Denn das Völkerrecht schützt eben Staaten, auch wenn wir es nicht gerne haben. Nun können Sie sagen – Herr Caroni hat das wortgewaltig ausgeführt –, dass die Ukraine und Russland ein Spezialfall ist. Es ist eine Aggression und so weiter.
  Ich sage Ihnen einfach, in der internationalen Politik ist die Definition von Aggression und davon, wer wen angegriffen hat und warum und wer im Recht ist, nicht immer so klar wie hier. Im übrigen ist es sehr häufig auch eine Interpretationsfrage. Wie gesagt: Je stärker wir uns auf internationale Prinzipien stützen können, wie es hier der Kommissionsberichterstatter ausgeführt hat, und je stärker die Akzeptanz für solche internationalen Grundsätze ist, desto stärker werden auch wir geschützt.
  Wenn Sie damit beginnen zu sagen, wir wollen einen solchen rechtlichen Rahmen, um Gelder von anderen Staaten einzuziehen, dann kommt irgendwann auch mal jemand und findet, wir hätten irgend etwas getan und es rechtfertige sich, unsere Gelder einzuziehen.
  Im übrigen: Wir sind zwar besonders betroffen durch den Überfall Russlands auf die Ukraine – ich auch –, aber es gibt noch hundert andere Konflikte, wo auch irgend jemand irgendeinen anderen angegriffen hat. Wir können uns dann jedes Mal überlegen, ob wir auch dort wieder die Gelder einziehen wollen. Ich habe nichts dagegen, wenn der Bundesrat sich darüber Gedanken macht, wie man das machen könnte. Ich mahne einfach zur Vorsicht und empfehle Ihnen daher – ungern – Ablehnung der Motion. Ich sage ungern, weil ich genau weiss, dass nachher wieder die Journalisten kommen und sagen, Herr Jositsch, warum wollen Sie der Ukraine nicht helfen? Aber es ist nicht unsere Aufgabe, uns hier einfach wohlzufühlen, sondern eine gewisse Verantwortung wahrzunehmen und ein bisschen auch zu versuchen, Politik und Gesetzgebung auf die lange Frist zu machen und nicht wie ein junges Kätzchen jedem Ball nachzurennen. Nur weil die Journalisten jetzt schreiben, man muss etwas machen, machen wir das, und nächstes Jahr machen wir es dann wieder anders, weil wir plötzlich merken, dass es doch nicht so schlau ist. Wir sollten gerade hier im Ständerat mit einer gewissen Zurückhaltung agieren, und deshalb empfehle ich Ihnen schweren Herzens, diese Motionen abzulehnen.»

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