von Karl-Jürgen Müller
Vor zweieinhalb Wochen, am 1. März 2024, veröffentliche die Chefredakteurin des russischen Senders Russia Today über ihren Telegram-Kanal die Tonaufnahme einer Telefonkonferenz hoher deutscher Luftwaffenoffiziere1, unter ihnen auch der Inspekteur der Luftwaffe, der ranghöchste Soldat dieser Waffengattung, Generalleutnant Ingo Gerhartz. Datum des Gesprächs war der 19. Februar 2024, es dauerte rund 38 Minuten. Hauptthema waren detaillierte Überlegungen zu den Möglichkeiten eines Einsatzes des deutschen Marschflugkörpers Taurus im Ukraine-Krieg, insbesondere beim Beschuss russischer Munitionslager und der Kertsch-Brücke vom russischen Festland auf die Insel Krim.
In den Stellungnahmen deutscher Politiker und den Medienerzeugnissen des deutschen Mainstreams war diese Veröffentlichung zuerst nur wenige Tage Thema. Zwar wurde die Authentizität der Tonaufnahme offiziell bestätigt, doch zum Inhalt des Gesprächs wurde kaum etwas gesagt; es sei denn, dass behauptet wurde, der Inhalt sei eine ganz normale Sache: Die Bundeswehr habe stets die Aufgabe, verschiedene Szenarien möglicher Kriegsführung zu durchdenken. Oder: Das Gespräch belege, dass die Begründung für die Zurückhaltung des deutschen Kanzlers bei der Taurus-Lieferung an die Ukraine nicht stichhaltig sei. Schliesslich gebe es wohl doch Möglichkeiten, eine unmittelbare Beteiligung deutscher Soldaten an der Taurus-Bedienung in der Ukraine zu umgehen. Das liess diejenigen in der deutschen Politik und in den deutschen Medien, die den Krieg in der Ukraine mit aktiver deutscher Beteiligung eskalieren wollen, geradezu frohlocken.
Bezeichnend für die deutschen Reaktionen war die Stellungnahme des deutschen Verteidigungsministers Boris Pistorius vom 5. März2: Ausführungen zur Frage, wie es zur Tonaufnahme kommen konnte; massive Vorwürfe – aber nicht gegen die Luftwaffenoffiziere, sondern erneut gegen Russland; Betonung, dass die Reihen der westlichen Kriegsgegner Russlands fest geschlossen bleiben; … aber kein Wort zum Inhalt des Gesprächs.
Duktus, Inhalt und
Implikationen des Taurus-Gesprächs
Um so mehr gilt es, sich genauer mit dem Duktus, dem Inhalt und den Implikationen des Gesprächs zu befassen. Kernpunkte sind meines Erachtens:
Die Achillesferse des
Kriegsunwillens der deutschen Bürger
Am 8. März berichtete die Zeitung «Die Welt»4: «Eine Mehrheit der Bürger lehnt Lieferungen des Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine ab. Die Kriegsangst ist laut Deutschlandtrend ausgeprägt.» Eine Erhebung des demoskopischen Instituts Infratest Dimap für den März 2024 habe gezeigt, dass 61 Prozent der befragten Deutschen nein sagen zu einer Lieferung des Marschflugkörpers Taurus an die Ukraine, 9 Prozent mehr als im August 2023. Nur bei den Unterstützern der Grünen gebe es eine knappe Mehrheit für die Waffenlieferung. 62 Prozent der Befragten befürchten, dass Deutschland «direkt in den Krieg hineingezogen» werden könnte. Interessant in diesem Zusammenhang: 45 Prozent der Befragten gaben an, dass man den USA als Bündnispartner «nicht vertrauen» könne. Das sind 14 Prozent mehr als im März 2023. Dieselbe Umfrage zeigt aber auch, wie stark die antirussische Propaganda in Deutschland – bar jeglichen Belegs – gegriffen hat. 64 Prozent der Befragten glauben nämlich, dass Russland weitere Länder Europas angreifen werde. 74 Prozent sogar befürworten höhere Rüstungsausgaben. Das ist die Achillesferse des bislang mehrheitlich noch haltenden deutschen Kriegsunwillens.
Alle Deutschen, die ihr Land ernsthaft friedensfähig machen wollen, können deshalb nicht daran vorbeischauen, welches Hauptziel das penetrante Feindbild Russland in Deutschland hat: die Bürger «kriegstüchtig» zu machen. •
1 https://disk.yandex.ru/d/gBdLJGWEvOp9PA (Tondatei) und https://disk.yandex.ru/i/X_rRGzGtK9R19w (Transskript). Da für Leser und Hörer in der EU der Zugang zu diesem Telegram-Kanal eventuell erschwert ist, hier der Hinweis auf die Wiedergabe der Tonaufnahme und der Mitschrift grosser Teile des Gesprächs auf der deutschsprachigen Webseite Anti-Spiegel: https://www.anti-spiegel.ru/2024/die-aufzeichnung-des-gespraeches-zwischen-deutschen-generaelen-wurde-veroeffentlicht/ vom 1.3.2024 (Tonaufnahme) und https://www.anti-spiegel.ru/2024/das-transkript-des-gespraeches-der-luftwaffen-fuehrung/?doing_wp_cron=1710076696.9904379844665527343750 vom 2.3.2024 (Transskript)
2 https://www.bmvg.de/de/mediathek/aufklaerung-abhoerfall-alle-wichtigen-massnahmen-eingeleitet-5752852 vom 5.3.2024
3 https://www.zeit.de/politik/ausland/2024-03/ukraine-taurus-grossbritannien-cameron-unterstuetzung-deutschland vom 9.3.2024
4 https://www.welt.de/politik/deutschland/article250454902/Deutschlandtrend-Nur-Gruenen-Anhaenger-mehrheitlich-fuer-Taurus-Lieferungen-an-Ukraine.html
km. Der Taurus («Stier») ist ein deutsch-schwedischer Luft-Boden-Marschflugkörper, d.h., er kann nur von Flugzeugen aus gestartet werden. In Deutschland wird er von einer im bayerischen Schrobenhausen gelegenen Tochterfirma des Rüstungskonzerns MBDA montiert. Der Name ist ein Akronym für Target Adaptive Unitary and Dispenser Robotic Ubiquity System. Taurus wurde entwickelt, um massiv gehärtete und eingegrabene Ziele sowie sogenannte Hochwertziele zu zerstören. Er ist mit einer Sprengladung von rund 500 kg bestückt (grosse Zerstörungskraft), und die Reichweite beträgt mehr als 500 Kilometer. Der Marschflugkörper gilt als sehr zielgenau, wobei diese Zielgenauigkeit wiederum von der Qualität der einprogrammierten Zieldaten abhängt. Der Einsatz des Taurus setzt umfangreiche technische Kenntnisse voraus.
«Der eigentliche Skandal besteht darin, dass deutsche Offiziere den Kriegseintritt Deutschlands planen und den Eindruck erwecken, als sei das für sie ‹business as usual›. Um davon abzulenken, verweisen die deutschen Kriegshetzer in Politik und Journalismus darauf, wie unverschämt es ist, dass Russen deutsche Offiziere abgehört haben. Der brave deutsche kriegstüchtige Verteidigungsminister Pistorius […] sieht in der Tatsache, dass die Russen die Planung eines Terrorangriffs mit deutschen Taurus-Raketen als einen unerhörten Affront ansehen, ‹Putins Desinformationskampagne› am Werk. Die geistige Verwirrung unserer Kriegshetzer fand in der Erklärung des CDU-Politikers Kiesewetter ihren Höhepunkt, als der dazu riet, Taurus-Raketen zu liefern, um russische Ministerien zu zerstören. Diese Wahnsinnsidee führte zu keinem Aufschrei in Politik und Medien und auch nicht dazu, dass die CDU sich von diesem völlig durchgeknallten ‹Verteidigungsexperten› distanzierte. Es wird einem angst und bange, wenn man sich klarmacht, welche verantwortungslosen Hasardeure mittlerweile darüber entscheiden, ob Deutschland im Ukraine-Krieg zur Kriegspartei wird.» (Oskar Lafontaine in den Nachdenkseiten vom 5.3.2024)
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