von Dr. phil. René Roca, Forschungsinstitut direkte Demokratie (www.fidd.ch)
Die Bürgerinnen und Bürger der Schweiz haben die Demokratie in den letzten 200 Jahren zu einem weltweit einmaligen Modell entwickelt. Die direkte Demokratie ist fester Bestandteil der politischen Kultur und das entscheidende Fundament für den wirtschaftlichen Erfolg des Landes. Der Artikel «Geschichtsforschung und direkte Demokratie» (siehe Zeit-Fragen, Nr. 16 vom 28. Juli 2020) fasste als Überblickstext die bisherigen Forschungen zusammen. Im Anschluss daran erschienen in loser Folge Texte, welche die Forschungsresultate anhand einzelner Themen vertiefen. Den Anfang dazu machte der Artikel zum Thema des Katholizismus und dessen Bedeutung für die Demokratiegeschichte der Schweiz (siehe Zeit-Fragen, Nr. 2 vom 26. Januar 2021). Anschliessend erschien ein Text zur Bedeutung des Liberalismus für die Entstehung und Entwicklung der direkten Demokratie in der Schweiz (siehe Zeit-Fragen, Nr. 18 vom 10. August 2021). Mit einem Artikel zur Bedeutung des Frühsozialismus wird nun die Reihe, welche die politischen Bewegungen untersucht, abgeschlossen. Danach sollen Artikel zur Theorie der direkten Demokratie publiziert werden, die speziell das Genossenschaftsprinzip und das Naturrecht untersuchen.
Frühsozialismus in der Schweiz
Der schweizerische föderalistische Bundesstaat ab 1848 ist nicht nur eine Frucht der Liberalen, auch die Katholisch-Konservativen haben – besonders mit ihrem Beharren auf der kantonalen Souveränität – viel zu dieser konstruktiven dezentralen Lösung nach dem Sonderbundskrieg beigetragen. Bezeichnend ist beispielsweise, dass in der Schweiz der Ausbau des Volksvetos zum modernen obligatorischen Referendum 1844 im konservativen Kanton Wallis (siehe Teil 1) vorangetrieben und später in modifizierter Form von anderen Kantonen übernommen wurde.
Auch Frühsozialisten in der Schweiz leisteten entscheidende Beiträge, um die direkte Demokratie in der politischen Kultur zu verankern und weiterzuentwickeln. So brachten sie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verstärkt das föderalistische Modell der Schweiz in die europäische Diskussion mit ein. Auch die direkte Demokratie war immer wieder ein Thema. So flossen erstmals in der waadtländischen Revolution von 1845 frühsozialistische Gedanken im Zusammenhang mit direktdemokratischen ein. Henry Druey (1799–1855) postulierte das obligatorische Referendum, wie es 1844 bereits im konservativen Wallis eingeführt worden war. Er kam damit zwar nicht durch, vermochte dann aber doch zwei weitere wichtige demokratische Neuerungen für die Verfassung im Kanton Waadt durchzusetzen. Zum einen stellte Druey im Wahlrecht Niedergelassene und Eingesessene einander gleich – ein Novum in der Schweizergeschichte – und verankerte als weitere Pioniertat die Gesetzesinitiative erstmals in einer Kantonsverfassung.
Neben dem Föderalismus und der direkten Demokratie förderten die Frühsozialisten in der Schweiz auch die Genossenschaftsbewegung, die an das Genossenschaftsprinzip des Ancien Régimes anknüpfte. Damit schufen sie eine wichtige Grundlage, um die politischen Instrumente der direkten Demokratie mit der Genossenschaftsidee zu verknüpfen und die demokratische Kultur in der Schweiz zu stärken. Wichtig dabei waren verschiedene frühsozialistische Theorieansätze.
Die Ideen der französischen Frühsozialisten Étienne Cabet (1788–1856), Henri de Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) fanden in der Schweiz eine relativ weite Verbreitung. Weniger explizit findet man Bezüge zu Robert Owen (1771–1858), aber seine genossenschaftlichen Ansätze flossen in die Gewerkschaftsbewegung und später in die Sozialdemokratische Partei ein. Der einzige bedeutende Frühsozialist, der in der Schweiz eine gewisse Zeit wirkte, war der deutsche Schneidergeselle Wilhelm Weitling (1808–1871). So wurde sein «Evangelium des armen Sünders», das frühkommunistische Gedanken mit dem Neuen Testament verknüpfte, ab 1845 in Bern gedruckt und propagiert. Weitling überwarf sich 1846 mit Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895), da er andere Methoden anwenden wollte, um den Kommunismus in die politische Praxis umzusetzen. Weitling war einer der ersten Sozialisten, der die Arbeiterschaft dazu aufrief, selbst aktiv zu werden und für eine gerechtere Gesellschaftsordnung zu kämpfen.
Nach 1848 erhielten die Ideen von Marx und Engels auch in der Schweiz in sozialistischen Kreisen immer mehr Zuspruch. Marx und Engels brachten die Erfahrungen der englischen Arbeiterbewegung in die Diskussion ein und unterstützten explizit im Gegensatz zu vielen Frühsozialisten Streiks und weitere politische Aktionen. Die marxistische Theorie wurde in der Schweiz vorerst nur selektiv aufgenommen und konnte sich lange nicht durchsetzen.
Die frühsozialistische Bewegung mit ihren Ideen war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entgegen der Behauptung von Marx eine wichtige Voraussetzung für die spätere marxistische Doktrin. Die marxistische und teilweise westliche Geschichtsschreibung übernahmen allerdings das diffamierende Diktum von Marx, die Frühsozialisten seien lediglich «Utopisten» und «Kleinbürger» und erst sie – Marx und Engels – hätten einen «wissenschaftlichen Sozialismus» begründet.
Grütliverein und
Demokratische Bewegung
In der Schweiz war im Gegensatz zum Marxismus der «Grütliverein» wichtiger für die Arbeiterbewegung und vor allem für die soziale und nationale Integration der arbeitenden Bevölkerung. Der Name «Grütliverein» wurde laut den Gründungsvätern mit der Perspektive gewählt, «dass aus dieser Vereinigung von Schweizern ohne Unterschied der Kantone dereinst etwas Grossartiges entstehen kann, wie einst die Schweiz aus dem Grütli [Rütli] hervorgegangen ist». Als erste dauerhafte Organisation der schweizerischen Arbeiterbewegung entstand der Grütliverein 1838 in Genf als patriotischer Verein, der sich 1843 nationale Strukturen gab. Zentrales Anliegen der organisierten Handwerksgesellen – im Laufe der Zeit kamen immer mehr Arbeiter dazu – war neben der Geselligkeit und der gegenseitigen Hilfe der Bildungsgedanke. Die Einrichtung von gemeinsamen Kassen sollte die Bildung und Weiterbildung der Handwerker und Arbeiter unterstützen und deren Berufsstand absichern und verbessern. Die Grütlivereine waren die «Wegbereiter des Sozialismus» in der Schweiz und stellten eine wichtige Grundlage für die spätere Gründung von Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) dar. Zudem hatten sie eine zentrale Bedeutung in der Demokratischen Bewegung der 1860er und 1870er Jahre mit ihrem Konzept, die soziale Frage auf dem nationalen Boden der schweizerischen Republik mithilfe der direkten Demokratie zu lösen.
Die beiden Frühsozialisten, der Zürcher Karl Bürkli (1823–1901) und der Basler Emil Remigius Frey (1803–1889), unterstützten die Demokratische Bewegung und sorgten in ihren Kantonen (Frey für Baselland) für den Ausbau der direkten Demokratie. Sie förderten in der Schweiz damit auch die Einführung des fakultativen Referendums (1874) und der Verfassungsinitiative (1891) auf der bundesstaatlichen Ebene und leisteten letztlich so auch eigenständige Beiträge zu einer internationalen Debatte rund um Fragen der Demokratie und des Rechtsstaats. In diesem Sinne gab es in der Schweiz keine eigentlichen frühsozialistischen Schulen, dafür waren die Schweizer zu sehr «Macher» und keine Theoretiker respektive Ideologen.
Die Übergänge zwischen Radikalismus und Sozialismus waren in der Schweiz fliessend (siehe Teil 2). Wo auch immer in den ab 1830 sich rasch folgenden kantonalen Verfassungsrevisionen die Volksrechte erweitert wurden, stand für die Radikalen respektive die Frühsozialisten stets der Gedanke der klassenübergreifenden Volksgemeinschaft im Mittelpunkt, und nicht die klassenkämpferische Attitüde.
Anarchismus in der Westschweiz
Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) vertrat als französischer Frühsozialist einen libertären Ansatz und setzte sich für föderalistische Strukturen ein, welche die politische Macht dezentral verteilen sollten. In der Schweiz fand er mit dem Bundesstaat von 1848 solche Strukturen und diese nahm er sich zum Modell, um sie mit anderen Frühsozialisten in der Schweiz und im übrigen Europa zu diskutieren.
Die Konsequenz aus Proudhons Föderalismuslehre war nebst seinem Ansatz eines Genossenschaftssozialismus das Prinzip der direkten Demokratie, auch wenn Proudhon nicht explizit auf das schweizerische Demokratiemodell, sondern auf ein anarchistisch geprägtes Rätemodell Bezug nahm. Er sah als Basis politische Organisationen in Form von Föderationen («Bund der Kommunen»), die staatliche Gewalten und Gesetze unnötig machen würden, wollte die «fortschreitende Föderation» als Verschränkung der Politik mit der Wirtschaft in Europa vorantreiben und letztlich die ganze Welt in «Konföderationen» verwandeln. Für Proudhon war der schweizerische Bundesstaat der praktische Beweis, dass sich seine Idee der Föderation umsetzen liess.
Obwohl der Marxismus auch in der Schweiz auf dem Vormarsch war, fielen hier die Ideen Proudhons auf fruchtbaren Boden. Der Schweizer Anarchist und Schriftsteller James Guillaume (1844–1916) war stark von Proudhon und seinen Ideen beeinflusst. Als 1864 von der in London gegründeten Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA) ein Aufruf zum Zusammenschluss aller Arbeiter ausgesandt wurde, gründeten auch in der Westschweiz Unterstützungskomitees Sektionen, und zwar vor allem Uhrenarbeiter aus dem Berner und Neuenburger Jura. Guillaume legte in Le Locle zusammen mit Gleichgesinnten 1866 den Grundstein für eine Sektion und förderte 1871 den Zusammenschluss von einzelnen Sektionen zur sogenannten «Juraföderation» (Fédération jurassienne). Die Mitglieder dieser Föderation sahen sich anfangs als Radikale und Freidenker und näherten sich in den folgenden Jahren kollektivistischen und anarchistischen Positionen immer mehr an. Damit wuchs aber auch der Gegensatz zu autoritären Vorstellungen, wie sie Karl Marx in der IAA vertrat. Schliesslich wurde Guillaume 1872 mit anderen Gleichgesinnten aus der IAA ausgeschlossen. Er gründete daraufhin in St. Imier zusammen mit anderen Landesföderationen die antiautoritäre Internationale, die ihr Zentrum fortan im Jura hatte. Die Internationale zerfiel aber bald in einzelne Sektionen und vermochte keine grosse Wirkung zu erzielen.
Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS)
und direkte Demokratie
Ein Grund für diesen Zerfall war auch, dass 1888 die Sozialdemokratische Partei der Schweiz (SPS) gegründet wurde. Sie strebte vorerst Reformen an und bekannte sich erst später zu marxistischen Grundsätzen, so im zweiten Parteiprogramm von 1904 zum «Klassenkampf» und im dritten von 1920 zur «Diktatur des Proletariats». Die Programme trugen aber immer den schweizerischen Verhältnissen der direkten Demokratie Rechnung und widersprachen in diesem Punkt der marxistischen Doktrin. So heisst es im Arbeitsprogramm, einem Anhang zum zweiten Parteiprogramm von 1904, unter Punkt 1: «Ausbau der Demokratie: Proportionales Wahlverfahren. Wahl der gesetzgebenden, administrativen und richterlichen Behörden durch das Volk. Obligatorisches Referendum. Gesetzgebungs-Initiative. Dezentralisation der Bundesverwaltung. Autonomie der Gemeinde.» Das Arbeitsprogramm als Teil des dritten Parteiprogramms von 1920 hiess dann unter Punkt 1 nur noch «Entwicklung der Demokratie» und liess bezeichnenderweise das «Obligatorische Referendum» und die «Autonomie der Gemeinde» weg. 1921 spaltete sich die Parteilinke von der SPS ab und gründete die Kommunistische Partei der Schweiz (KPS). Die SPS entwickelte sich in der Folge wieder mehr zu einer reformorientierten Partei und unterstützte den Erhalt und den weiteren Ausbau der direkten Demokratie. So heisst es im aktuellen Parteiprogramm: «Wir halten die direkte Demokratie für die der Schweiz angemessene Herrschaftsform. Wir verteidigen sie gegenüber jenen, die sie als ineffizient, zu langsam oder gar zukunftsuntauglich bezeichnen.» •
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