15. März 2024
Sehr geehrte Frau Präsidentin von der Leyen,
sehr geehrter Herr Präsident Michel,
sehr geehrter Herr Hoher Vertreter Borrell
Das Internationale Friedensforschungsinstitut Genf kommt auf unsere Frage nach einem Waffenstillstand in Gaza zurück, auf die wir noch keine zufriedenstellende Antwort erhalten haben.
Seit unserer letzten E-Mail vom 23. Februar hat das GIPRI eine akademische und mediale Kampagne zur Sensibilisierung und öffentlichen Debatte gestartet. Unser Direktor Dr. Gabriel Galice und der Vorstand sind entsetzt über die Untätigkeit der europäischen Staats- und Regierungschefs angesichts des anhaltenden Völkermords und der mehrfachen Verstösse gegen das Humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte durch die israelische Regierung. Es ist dringend notwendig, einen dauerhaften Waffenstillstand im Gaza-Streifen durchzusetzen, und weiter, die illegale Blockade gegen die unglückliche Bevölkerung des Gaza-Streifens aufzuheben, den Beschluss des Internationalen Gerichtshofs vom 26. Januar 2024 vollständig umzusetzen und humanitäre Hilfe für die hungernde Bevölkerung unverzüglich und wirksam bereitzustellen.
Sie haben den Vorschlag von Dr. Galice am 27. Februar dieses Jahres erhalten, in dem eine multinationale Truppe zur Durchbrechung der illegalen israelischen Blockade des Gaza-Streifens gefordert wird. Wir fügen das Dokument hier noch einmal zu Ihrer Information bei.1
Das Dokument wurde in gutem Glauben verbreitet, als Aufruf an die internationale Gemeinschaft, die belagerte Bevölkerung des Gaza-Streifens durch die Bildung unilateraler staatlicher Partnerschaften mit internationalen humanitären Organisationen zu unterstützen, um die illegale Blockade zu durchbrechen. Es war jedoch nicht dazu gedacht, von der EU und der US-Regierung vereinnahmt zu werden.
Der GIPRI-Vorschlag wurde am 29. Februar in der belgischen Zeitung «Le Soir» veröffentlicht, und wir wissen aus zuverlässiger Quelle, dass er am nächsten Morgen auf den Schreibtischen der Ministerpräsidenten in einigen europäischen Hauptstädten lag.
Er wurde am 5. März auch in der «Tribune de Genéve» veröffentlicht.
Durch eine wundersame Verkettung von Zufällen kündigte die US-Regierung eine Woche nach dem «Le Soir»-Artikel an, dass sie nach fünf Monaten unerbittlicher israelischer Bombardierung einen Pier in Gaza bauen und über einen Seekorridor von Zypern aus Hilfsgüter nach Gaza schicken würde. All dies würde sie tun, während sie gleichzeitig Waffen liefert und Israel politisch deckt, damit es seinen mörderischen Feldzug gegen die Zivilbevölkerung von Gaza unvermindert fortsetzen kann. Die kognitive Dissonanz einer solchen Situation ist ungeheuerlich, wenn wir Bilder eines Schleppers sehen, der einen Kahn mit ein paar hundert Tonnen Hilfsgütern nach Gaza zieht, während die Bilder der blutigen Folgen der israelischen Luftangriffe weiterhin live übertragen werden. Es ist unethisch und zynisch, sich an einem Völkermord mitschuldig zu machen und dann mit all dem damit verbundenen Medienrummel so zu tun, als sei man ein barmherziger Samariter. Am vergangenen Wochenende kündigte die EU eine ähnliche Initiative an, obwohl die europäischen Regierungen der israelischen Regierung bei ihrer ethnischen Säuberungskampagne weiterhin Hilfe und Trost spenden, während sie sich für Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit entschuldigen.
Das moralische Vakuum und die Ideenlosigkeit in Brüssel und Washington, ganz zu schweigen von der schockierenden Apathie, scheinen so gross zu sein, dass der GIPRI-Vorschlag ganz offensichtlich von den Bürokraten in beiden Ländern übernommen wurde, um den Anschein zu erwecken, dass sie etwas tun, um den Menschen in Gaza zu helfen, während es ihnen in Wirklichkeit egal ist.
Der von der EU beschlossene Mechanismus ist nutzlos, da es weder einen Hafen in Gaza noch eine im voraus geplante Möglichkeit für die Lieferung von Hilfsgütern ins Landesinnere gibt, statt dessen unterstützt die EU weiterhin stillschweigend die israelische Blockade, die Bombardierung und das Aushungern der Bevölkerung sowie die Fortführung des langsamen und quälenden israelischen Hilfsinspektionsverfahrens.
Durch die Öffnung eines Seekorridors über Zypern gibt die EU effektiv jede verbliebene moralische Autorität an die Israeli ab, indem sie das Szenario so darstellt, als gäbe es keine andere mögliche Alternative, obwohl es in Wirklichkeit viele Alternativen gibt.
Mit diesem Ansatz unterstützt die EU weiterhin die israelische Blockade; sie weigert sich standhaft, zu einem Waffenstillstand aufzurufen, und fordert Israel nicht auf, die Landesgrenzen zu öffnen, damit die Hunderte von Hilfslieferwagen, die bereits vor Ort sind, in den Gaza-Streifen gelangen können. Dies ist das einzige wirksame Mittel, über das die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz und andere internationale Partner und Organisationen ihre Hilfe an die Bevölkerung verteilen können. Diese Organisationen fordern seit Monaten einen raschen und ungehinderten Zugang für die Lieferung von Hilfsgütern und stossen damit weiterhin auf taube Ohren.
Bei diesem Angriff auf Gaza ging es nie um den 7. Oktober oder um die Hamas oder um Israels fiktives Recht, sich zu verteidigen. Es ist jetzt klar, dass es sich um nichts Geringeres als um einen im voraus geplanten Völkermord handelt, eine Landnahme für die Schaffung eines grösseren Israels, eines sichereren Apartheid-Ethnostaats. Die EU hat ihn unterstützt, und Sie alle sind schuldig, diesen Völkermord in aller Öffentlichkeit zu ermöglichen. Es gibt keine Worte mehr, die den Schrecken dessen ausdrücken können, was wir in den letzten fünf Monaten erlebt haben. Erst gestern Abend wurden wir wieder Zeuge eines «Mehlmassakers», bei dem über 60 Menschen von israelischen Panzern und Maschinengewehren ermordet wurden, während sie auf Nahrungsmittelhilfe warteten.
Dies ist eine schockierende Schande, und wieder einmal hat die EU diese kaltblütigen Massaker, die wir in den letzten zwei Wochen erlebt haben, nicht verurteilt.
Als Gruppe europäischer und amerikanischer Bürgerinnen und Bürger haben wir genug: Wir machen Sie für Ihre Unterstützung der Zerstörung des Gaza-Streifens durch Israel und die Ermordung der Bevölkerung verantwortlich. Wir sind entsetzt, dass die EU in den letzten fünf Monaten auf diese undemokratische Weise gehandelt und Israel unterstützt hat, während die Bürgerinnen und Bürger der EU seit Monaten mit überwältigender Mehrheit ein Ende des sinnlosen Gemetzels und der Zerstörung fordern.
Wir fordern, dass die EU ein sofortiges und bedingungsloses Ende der israelischen Bombardierung des Gaza-Streifens verlangt, und wir fordern, dass die EU auch eine Öffnung der Grenzen fordert, die eine rasche und ungehinderte Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Unterkünften und medizinischen Hilfsgütern ermöglicht.
Alles andere ist inakzeptabel und verstösst gegen das Völkerrecht, das Sie alle zu verteidigen vorgeben, gegen das Sie aber ganz offensichtlich verstossen.
Andernfalls werden wir auf öffentlicher Ebene die Forderungen nach Ihrem sofortigen Rücktritt verstärken, da Sie mit Ihrer fortgesetzten Unterstützung für ein rassistisches, mörderisches Apartheidregime nicht mehr die Bevölkerung der EU vertreten.
Professor Alfred de Zayas, ehemaliger leitender Jurist beim OHCHR, ehemaliger unabhängiger UN-Experte für internationale Ordnung und Mitglied des GIPRI-Vorstands, ist bereit, die Verstösse Israels gegen die Haager Konvention von 1907, die Genfer Konventionen von 1949 und die Zusatzprotokolle von 1977, die Konvention von 1948 über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes sowie gegen die Artikel 6, 7 und 8 des Statuts von Rom zu belegen.
Wenn es jemals einen Fall für die Anwendung der Doktrin der Schutzverantwortung gab (GA-Resolution 60/1 Abs. 138-39), dann ist es dieser.
Unterzeichner:
Jonathan O’Connor – Irland
Gabriel Galice – Frankreich
Gilles Emmanuel Jacquet – Frankreich
Cristina Cabrejas – Spanien
Soaade Messoudi – Belgien
Guy Mettan – Schweiz
Professor Alfred de Zayas – Schweiz und USA
Tim Clennon – Schweiz und USA
* Das Internationale Friedensforschungsinstitut Genf (www.gipri.ch) ist eine Nichtregierungsorganisation mit beratendem Status bei der Uno. Es wurde 1980 von Professor Roy Adrien Preiswerk, Direktor des Institut Universitaire d'Etude du Developpement und Professor am Institut Universitaire des hautes Etudes Internationales in Genf, gegründet.
1 Galice, Gabriel. «Gaza über das Meer retten». In:Zeit-Fragen Nr. 5 vom 5.3.2024 (Anm. d. Red.)
Quelle: https://www.counterpunch.org/2024/03/18/open-letter-to-the-eu-leadership-demanding-an-immediate-ceasefire-in-gaza/ vom 18.3.2024
(Übersetzung Zeit-Fragen)
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