Am 18. März ging ein weiteres Kapitel der grossen Show los: Bundespräsidentin Viola Amherd und EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen posierten in farblich abgestimmten Jacken vor den Kameras in Brüssel und lancierten offiziell die Verhandlungen über das geplante Abkommen Schweiz-EU, das angeblich ganz anders sein soll als das gescheiterte Rahmenabkommen.
Rätselhafte Landezonen
Gleichzeitig begannen die Chefunterhändler Patric Franzen (Schweiz) und Richard Szostak (EU) mit ihren Gesprächen – worüber denn? Laut dem zuständigen EU-Kommissar Maroš Šefčovič – mit dem Viola Amherd ebenfalls in die Blitzlichter strahlte – gibt es eigentlich gar nichts mehr zu verhandeln: «Wir haben achtzehn Monate lang verhandelt, um ein Verhandlungsmandat zu erzielen. Wir wollen uns darauf konzentrieren, wo die Landezonen sein können.» Dieses «Mandat» (nachzulesen im «Common Understanding»)1 hat der Bundesrat am 8. März in ein «Definitives Verhandlungsmandat» umgegossen und mit einem Schweizer Wunschzettel voller Präzisierungen und Ausnahmen ergänzt.2
Aber auf den «Landezonen» nach dem Gusto Brüssels wird kaum viel Platz für Schweizer Wünsche sein. «Landezonen» richten «die Mächtigen in Brüssel regelmässig ein», so die «Süddeutsche Zeitung»: «Die chronische Uneinigkeit der Mitgliedsstaaten verlangt nach schriftlichen Verhandlungsgrundlagen, aus denen nach und nach ein Kompromiss wird; eine Zone also, die so lange verkleinert wird, bis das Raumschiff Europa noch gerade so darauf landen kann.»3 Wieviel Platz das Raumschiff Europa zum Landen in der Schweiz braucht, wird jedenfalls nicht in Bern entschieden.
Lassen wir uns
nicht vom Wesentlichen ablenken!
Das Gerangel um Ausnahmen vom EU-Rechtsgefüge darf uns aber nicht vom Wesentlichen ablenken. Das Zerlegen des Rahmenabkommens in einzelne Pakete mit verschiedenfarbigem Packpapier ist blosse Verwirrtaktik. Das EU-Grundgerüst – Übernahme der «institutionellen Elemente» und Verbot staatlicher Beihilfen – bleibt auch mit aller Schönfärberei nicht kompatibel mit dem Schweizer Staatssystem (siehe Zeit-Fragen vom 9.1., 20.2. und 5.3.2024).
Im kürzlich erschienenen Zeitungsinterview mit EU-Kommissar Maroš Šefčovič wird deutlich, dass die EU-Spitzen keine Ahnung vom Schweizer Staatsmodell haben. Der demokratische Prozess sei in der EU «nicht ganz anders», denn dem Abkommen müssten die Kommission, die 27 Staatschefs und das EU-Parlament zustimmen, so Šefčovič.4 Von einem EU-Kommissar kann man ja auch nicht erwarten, dass er den grundsätzlichen Unterschied zur direktdemokratischen Schweizer Entscheidungsfindung versteht. Aber von den Schweizer Medien, vom Bundesrat und seinem Verhandlungsteam ist einzufordern, dass sie den Brüsseler Bürokraten endlich die Unüberbrückbarkeit der beiden Systeme klarmachen. Dann müssten nicht noch einmal mit viel Aufwand Scheinverhandlungen veranstaltet werden, deren Resultat aus Brüsseler Sicht bereits heute weitgehend feststeht und spätestens in der Volksabstimmung scheitern würde.
Keine Anreize, in die Schweiz zu ziehen?
Kein anderes europäisches Land hat einen derart hohen Ausländeranteil wie die Schweiz Ende 2023 waren 2 313 217 von 8,9 Millionen Einwohnern Ausländer, das sind rund 26 % (siehe Kästli). Auf die Frage der «Neuen Zürcher Zeitung»: «Die Schweiz ist diesbezüglich [Migration] eines der am schnellsten wachsenden Länder in Europa. Verstehen Sie, dass die Menschen besorgt sind?» antwortete Maroš Šefčovič: «Es wird garantiert sein, dass die EU-Bürger nicht in die Schweiz ziehen können, bloss um Zugang zu den Sozialversicherungen zu erhalten. Sie werden kommen, um zu arbeiten.» Er fügte hinzu: «Es wird keine Anreize geben, in die Schweiz zu ziehen. Das ist doch ein schönes Beispiel dafür, dass wir unserem Gesprächspartner zuhören.»
Herr Šefčovič täte gut daran, vom hohen Ross herunterzusteigen und zur Kenntnis zu nehmen, dass die Schweizer Wohnbevölkerung seit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens im Jahr 2002 von 7,2 auf beinahe 9 Millionen gewachsen ist. Jeder weiss, dass es enorme Anreize gibt, in die Schweiz zu ziehen, zu welchem Zweck auch immer. Auch geht der EU-Kommissar über die Tatsache hinweg, dass das geplante Abkommen der Schweiz faktisch die Unionsbürgerrichtlinie aufzwingen will, ein unserem Rechtsverständnis und unserem Staatsmodell völlig fremdes Regelwerk, das mit Sicherheit zu noch mehr Zuwanderung führen würde. Ein paar schwammig formulierte Ausnahmen sind noch lange keine «Garantie» dafür, dass weniger Menschen in die Schweizer Sozialversicherungen einwandern. (Zeit-Fragen hat am 20. Februar 2024 unter dem Titel «Personenfreizügigkeit – eines der Mammuts im Raum» darüber berichtet.)
Schutz vor überbordender
Zuwanderung – kein Verhandlungsziel!
Deshalb möchte der Bundesrat wenigstens eine Notbremse einbauen. In diesem Sinn die Frage der Journalisten: «Was ist mit der bestehenden Schutzklausel (Artikel 14.2) des Freizügigkeitsabkommens? Der Bundesrat würde gerne klarstellen, was ‹ernsthafte wirtschaftliche oder soziale Probleme sind, die Abhilfemassnahmen gegen eine übermässige Zuwanderung erlauben›.» Mit seiner Antwort demonstrierte Šefčovič, dass Brüssels versprochene «Ausnahmen» weitgehend Schall und Rauch sind: «Wenn wir wollen, dass die Verhandlungen erfolgreich sind, müssen wir uns hier an das Common Understanding halten. Ich sehe dieses Problem nicht, wenn ich mir das Dokument anschaue.»5
Alles klar. Wie gesagt: Klüger wäre es, die Verhandlungen mit solchen «Partnern» am besten gleich heute zu beenden. Mit den bisherigen bilateralen Verträgen und dem Freihandelsabkommen von 1972 wären wir besser dran. Mit den zu erwartenden Nadelstichen aus der Brüsseler Bürokratie werden wir auch weiter fertigwerden. Hauptsache ist, dass die Schweiz ihre Freiheit und ihre Souveränität behalten kann. •
1 Anhang zur Medienmitteilung des Bundesrates vom 15.12.2023, «Der Bundesrat genehmigt den Entwurf eines Mandats für Verhandlungen mit der Europäischen Union (EU)». https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/das-eda/aktuell/newsuebersicht/2023/europa.html
2 https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/86557.pdf
3 Diesteldorf, Jan. «Aktuelles Lexikon. Landezone». In: Süddeutsche Zeitung vom 15.12.2023
4 Imwinkelried, Daniel/Steinvorth, Daniel. «Es gibt keine Anreize, in die Schweiz zu ziehen». Interview mit EU-Kommissar Maros Sefcovic. In: Neue Zürcher Zeitung vom 19.3.2024
5 ebenda
mw. 2023 sind 98 851 Menschen mehr in die Schweiz ein- als ausgewandert. Damit nahm die Nettozuwanderung laut dem Bundesamt für Statistik im Vergleich zu 2022 um 21,5 % zu.
Insgesamt wanderten 2023 181 553 Personen in die Schweiz ein, davon 71,9 % aus einem EU- oder EFTA-Staat. Die Zuwanderung aus diesen Staaten nahm um 14,1 % auf 130483 Personen zu. Die Zunahme der Zuwanderung aus Drittstaaten betrug 6,3 %. (SRF News vom 23.2.2024)
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